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Thema / Das Ich und das Werk
„Es gibt ein Naturgesetz der Seele: Die Person entwickelt sich in einer Beziehung oder sie ist tot.“
Giuseppe di Fazio

Die Vorstellung, sich alleine zu verwirklichen, ist reine Illusion. Die Bindung an andere ist kein Verzicht, sondern der Weg zur Erfüllung. Ein Gespräch mit dem italienischen Rechtsphilosophen Pietro Barcellona zum Problem des modernen Individualismus.

„Wir haben den Individualismus bereits hinter uns gelassen und entwickeln uns zum kindlichen Narzissmus zurück.“ Das ist die erste kritische Bemerkung des italienischen Rechtsphilosophen Pietro Barcellona zu den Ausführungen von Don Julián Carrón bei der nationalen Versammlung der Compagnia delle Opera. Der ehemalige Abgeordnete der italienischen Arbeiterpartei PCI ist Mitglied des CSM, dem italienischen Verfassungsorgan zur Aufsicht der Richter und Staatsanwälte. Vor kurzem hat er zusammen mit Francesco Ventorino ein Buch mit dem Titel „Die unausweichliche Frage nach Gott“ geschrieben. Er betont, „dass es keine Verwirklichung des Ich ohne die Erfahrung des Anderen, ohne Reziprozität gibt. Da bin ich ganz mit Carrón einer Meinung: Das Wohl des Einzelnen und das Gemeinwohl gehen in gleichen Schritten voran.“

Weshalb verschärft sich in einem Moment der Krise die Versuchung des Individualismus?
Der heutige Mensch ist seelisch am Narzissmus erkrankt. Er fällt mit seinen Gefühlen in jene Entwicklungsphase zurück, in der die einzige Dimension des Narziss die Selbstbewunderung im Spiegel ist, die ihn in den Tod führt. In dieser Perspektive verschwindet sogar das Objekt der Sehnsucht. Wir befinden uns in einer Form der Selbsthypnose, einer kollektiven Pathologie. Der Großbürger bei Thomas Mann war zwar Individualist, er strebte aber danach, eine Firma oder eine Familie aufzubauen. Heute gibt es gar nichts mehr. Mehr noch, dieser neue Individualismus findet Nahrung in den Beziehungen, die sich im Internet mit Rollenspielen institutionalisieren. Im Text von Don Carrón habe ich die Entwicklung dieser und anderer Einsichten wiedergefunden, die ich im Buch Der reife Egoismus und der Wahnsinn des Kapitals, beschrieben habe.

Wie verändert sich dabei die Beziehung der Menschen untereinander?
In dem Buch vertrat ich die Ansicht, dass der Narzissmus die Antithese des reifen Egoismus ist. Eine „reife“ Person sucht große Ziele, die sie transzendieren und ist auf natürliche Weise darauf ausgelegt, in Gruppen zu gehen. Um sich selbst zu verwirklichen, muss das Ich mit anderen gehen. Anders gesagt: Meine Persönlichkeit kann sich in der Anerkennung der eigenen strukturellen Berufung zur Beziehung entwickeln. Ich fördere die anderen, um mich selbst zu fördern.
Im Gegensatz zu den landläufigen Appellen, die uns einladen, darauf zu verzichten, uns selber zu lieben, wenn wir etwas machen, habe ich bei Carrón Akzente gefunden, die mir vertraut sind. Es wird nicht von mir verlangt, auf mich selbst zu verzichten, aber ich werde daran erinnert, dass meine Selbstverwirklichung sich in der Gegenseitigkeit vollzieht. Andererseits entspringt alles, was wir sind, aus Verbindlichkeiten, die wir im Laufe der Zeit eingegangen sind, vom Verhältnis zu unserer Mutter, zu unseren Lehrern. Als Ideologie ist der Individualismus künstlich, er hat nichts mit der Natur des Menschen zu tun.

Und dennoch ist die Auffassung weit verbreitet, dass der Mensch sich gewissermaßen selbst entwirft.
Der Individualismus, der sich in Narzissmus verwandelt hat, ist eine Ideologie, die uns so tief beeinflusst hat, dass der Mensch als Selbstschöpfung dargestellt wird. Die Person entwickelt sich aber immer in einer Beziehung. Für die Ausformung der Persönlichkeit sind die Schwangerschaft, die Geburt und die Sorge um das Kind seitens der Eltern entscheidend. Nur in einer atomisierten bürgerlichen Welt kann man sich vorstellen, dass die Menschen alleine geboren werden und aufwachsen.

Historisch gesehen haben die individualistischen Geistesströmungen den Boden für autoritäre Regime vorbereitet...
Alle, die jede Form von Gemeinschaftlichkeit verwerfen, begreifen nicht, dass die Schwächung des Ich die Macht des Chefs vorbereitet. Louis Dumont meinte zu Recht, dass der radikale Individualismus die Vorstufe der Diktatur ist.

Don Giussani war der Ansicht, dass es menschlich nicht möglich ist, eine Liebe zu sich selbst zu haben, die es ermöglicht, auch die anderen zu lieben, wenn Christus nicht auferstanden, also gegenwärtig ist.
Der Mensch kann nicht von seiner Sozialisierung absehen, die auch kein Spaziergang im Garten Eden ist, sondern vielmehr ein Weg, der dramatische und tragische Passagen durchgeht wie die Trennung und den Schmerz. Diese Erfahrungen führen uns zur Frage nach dem Sinn des Schmerzes, des Verlustes und nach der Möglichkeit, das Leben über den Tod hinaus fortzuführen. Hier ist der Ort für ein Nachdenken über die enorme Neuigkeit in der Geschichte und im Glauben, die in das Kommen Christi einführt.

Wie stehen Sie dieser Tatsache gegenüber?
Ich denke gerne an zwei Momente im Leben Christi, an die Bergpredigt und das letzte Abendmahl. In der Bergpredigt gibt es keinen Parcours, der aus dem Befolgen von Anweisungen und Dogmen besteht, sondern die Bereitschaft zu einer wirklichen Begegnung mit dem anderen. Du brauchst keine guten Werken aus dem Blickwinkel der Belohnung heraus machen, für die du dann gute Führungszeugnisse erhältst. Du musst nur zu einer konkreten Begegnung mit einer anderen Person bereit sein, die von sich aus bereit ist, Liebe zu empfangen und zu geben. In der Liebe von zwei Personen kann es keine Buchhaltung des Gebens und Nehmens geben. Der Weg zu dieser Fülle zeigt sich im letzen Abendmahl durch das Gastmahl, in dem von jedem der Leib Christi aufgenommen wird. Der gemeinschaftliche Verzehr des letzten Abendmahls ist das Emblem einer Situation, in der Weg und Ziel übereinstimmen. Denn in der physischen Teilhabe am Leib und Blut Christi verwirklicht sich die vollkommene Liebe.

Es könnte sich aber auch um die Erinnerung an eine Geste von vor zweitausend Jahren handeln.
Nein, und zwar gerade aufgrund des absoluten Geheimnisses der gleichzeitigen Gegenwart des Menschlichen und Göttlichen in der Person des lebendigen Gottes. Deswegen sind die Gesetze der Zeit – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in dem Augenblick aufgehoben, in dem in geheimnisvoller Weise die Begegnung vor sich geht. Für den Glaubenden ist Christus nicht vor zweitausend Jahren gestorben und auferstanden, sondern er ist immer im Gefühl der Liebe des anderen gegenwärtig.

Und was macht der, der nicht glaubt?
Man muss sich immer wieder der Anstrengung unterziehen, sich klar zu machen, dass einem die Erfahrung dieser Begegnung nicht verschlossen ist. Man muss ständig versuchen, den eigenen Intellekt zu entwaffnen, um im eigenen Empfinden das anzunehmen, was man noch nicht beweisen kann. Für den Nichtgläubigen, der keine intellektuellen Vorurteile hat und keine ideologischen Widerstände überwinden muss, ist das Leben in jedem Fall immer eine Zeit des Wartens.

Kehren wir zu den anfänglichen Ausführungen zurück. Was folgt aus der Überwindung des kindlichen Narzissmus für das Gemeinwohl?
Das Gemeinwohl steht dem Individuum, das sich selbst verwirklichen will, nicht als etwas Objektives gegenüber. Es ist vielmehr das Feld, auf dem wir wachsen, das uns ermöglicht, das zu sein, was wir sind. Niemand kann daran denken, sich autark selbst zu verwirklichen. Ich denke an die Fische: Sie können das Wasser nicht trocken legen, ohne zu sterben. So können auch die wirklichen Menschen nicht umhin, die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Welt wahrzunehmen als Grund, auf dem man stehen und gehen kann. Das Gemeinwohl ist wie das Haus, das man bewohnt.