Logo Tracce


Editorial
Jene Sehnsucht nach dem Unendlichen
Julián Carrón

Das Editorial des aktuellen Heftes ist der Artikel von Julián Carrón, der am 24. Dezember 2009 in der italienischen Zeitung Corriere della Sera erschienen ist.

Es gibt ein Zitat von Dostojewskij, das mich in diesen Tagen begleitet, wenn ich mit verschiedensten Personen in und außerhalb Italiens über das Christentum spreche: „Kann ein gebildeter Mensch, ein Europäer unserer Tage noch glauben, kann er an die Gottheit des Sohnes Gottes, Jesus Christus, glauben?“ Diese Frage klingt nach einer Herausforderung für jeden von uns. Denn gerade von ihrer Antwort hängt es ab, ob der Glaube heute noch eine Chance haben kann. Der damalige Kardinal Ratzinger sagte 1996 in einer Ansprache, dass es für den Glauben noch Hoffnung gebe, „weil er dem Wesen des Menschen entspricht. Im Menschen lebt unauslöschlich die Sehnsucht nach dem Unendlichen.“ Damit verwies er zugleich auf die unvermeidliche Voraussetzung für das Überleben des Glaubens: Das Christentum muss auf die tiefen Regungen des Menschen antworten. Nur dann kann es die ganze Tragweite des christlichen Anspruches offenbaren.
Wir neigen jedoch allzu oft dazu, die konkreten Ausdrucksformen unserer Menschlichkeit – wie etwa das Unbehagen, die Unzufriedenheit, Traurigkeit oder Langeweile – als Hindernis und Erschwernis zu betrachten. Wir sehen es als etwas, das uns an der Verwirklichung dessen, was wir ersehnen, hindert. Schließlich ärgern wir uns über uns selbst und über die Wirklichkeit, weil wir uns vom Gewicht der Umstände erdrücken lassen. Schließlich meinen wir nur weiterzukommen, wenn wir einen guten Teil dessen, was uns ausmacht, abstreifen. Aber Unbehagen, Unzufriedenheit, Traurigkeit und Langeweile sind nicht Symptome einer Krankheit, die man mit Medikamenten bekämpfen muss, wie es oft in einer Gesellschaft geschieht, die die Unruhe des Herzens mit Panik und Angst verwechselt. Sie zeigen uns vielmehr, wie wir von Natur aus beschaffen sind. Unsere Sehnsucht ist größer als das ganze Universum. Die Wahrnehmung der Leere in uns und um uns, von der Giacomo Leopardi spricht („Mangel und Leere“), sowie der Langeweile, wie sie Heidegger beschreibt, sind der Beweis dafür dass unser Herz unstillbar und unsere Sehnsucht unermesslich ist. Nichts kann uns zufrieden stellen und Ruhe geben. Wir können unsere Sehnsucht vergessen, verdrängen und hintergehen, aber wir können sie niemals loswerden.
Das wirkliche Hindernis auf unserem Weg ist also nicht die sich konkret zeigende Menschlichkeit, sondern die Tatsache, dass wir sie vernachlässigen. Alles in uns schreit nach etwas, das die Leere zu erfüllen vermag. Sogar Nietzsche erfasste dies intuitiv, wenn er sich schließlich dem „unbekannten Gott“ zuwendet, der alle Dinge erschafft: „Heb’ ich vereinsamt meine Hände/ zu dir empor (...)/ dem unbekannten Gotte:/ (...) Ich will dich kennen, Unbekannter,/ Du tief in meine Seele Greifender,/ Mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender/, Du Unfassbarer, mir Verwandter!“ (1864).

Weihnachten verkündet uns, dass dieses unbekannte Geheimnis eine vertraute Gegenwart geworden ist, ohne die keiner von uns Mensch bleiben könnte. Er ginge unter, fortgerissen von der Verwirrung, und müsste mit ansehen, wie sich die eigenen Gesichtszüge entstellen. Denn „nur Gott kann den Menschen erlösen, das heißt die wahren und wesentlichen Dimensionen der Gestalt des Menschen und seiner Bestimmung“ (Luigi Giussani).
Das überzeugendste Zeichen dafür, dass Christus Gott ist, das größte Wunder, von dem alle beeindruckt waren – weit mehr noch als von der Heilung des Gelähmten und des Blinden – war sein unvergleichlicher Blick. Gerade an jenem Blick, von dem das Evangelium unzählig oft berichtet, sah man, dass Christus keine Theorie ist. Man konnte Ihn nicht auf eine Ansammlung von Regeln reduzieren. Er zeigte sich in seinem Umgang mit den Menschen und in der Beziehung zu jenen, die er unterwegs auf der Straße traf. Denken wir nur an Zachäus und Maria Magdalena: Er bat sie nicht, sich zu ändern. Er umarmte sie einfach, so wie sie waren, einschließlich ihrer ganzen menschlichen Gestalt, die von schweren Wunden gezeichnet und vollkommen bedürftig war. Durch diese Umarmung erhob sich noch im selben Moment ihr Leben wieder zu seiner ganzen ursprünglichen Größe und Tiefe.
Wer würde sich heute nicht wünschen, von einem solchen Blick getroffen zu werden? Denn „meine Liebe zu mir ist nicht von Dauer, ohne dass Christus eine Gegenwart ist, wie die der Mutter für das Kind. Ohne dass Christus jetzt gegenwärtig ist – jetzt! –, kann ich in diesem Augenblick weder dich noch mich selbst lieben“ (Luigi Giussani). Dies wäre die einzig mögliche Art und Weise, um als Menschen unserer Tage eine vernünftige und kritische Antwort auf die Frage Dostojewskijs zu geben.
Aber wie können wir wissen, dass Christus heute noch am Werk ist? Wir können es erkennen, weil sein Blick nicht der Vergangenheit angehört. Er wirkt fort in der Welt, heute genauso wie damals: schon vom Tag Seiner Auferstehung an besteht die Kirche nur dafür, die Zuneigung Gottes erfahrbar zu machen, durch Personen, die Seinen geheimnisvollen Leib bilden, und die im Hier und Jetzt der Geschichte diesen Blick bezeugen. Ein Blick, der fähig ist, den Menschen in seiner Gesamtheit zu umarmen.