Logo Tracce


CL / Erasmus
Auf der Reise zur Erfahrung
Alessandra Stoppa

Das Auslandsstudium kann der Bildungskarriere dienen und den kulturellen Horizont weiten, oder nur dem Zeitvertreib dienen. Für einige bietet es aber weitaus mehr: nämlich die Möglichkeit, einem existenziellen Vorschlag nachzugehen. Die Geschichten von vier Studenten, die in Belgien, den Vereinigten Staaten, Deutschland oder Holland ein Auslandssemerster verbrachten.

Für ein Auslandsstudium gibt es die unterschiedlichsten Motive. Die einen wollen reisen, andere eine neue Sprache lernen. Und viele wollen einfach aus dem Alltag ausbrechen, andere Erfahrungen machen. Mit dieser Suggestion wirbt auch das internationale Austauschprogramm der EU „Erasmus“ (European Region Action Scheme for the Mobility of University Students). „Erasmus, die Erfahrung, die dein Leben ändert“, wirbt ein Plakat. Und in einem Fernsehtrailer verkündet ein smarter Jugendlicher: „In den wenigen Monaten im Ausland lebst du ein ganzes Leben …“ Dieses Angebot treibt jährlich tausende von Studenten ins Ausland. Was steckt hinter diesem Vorschlag? Was ist unter dem Begriff „Erfahrung“ zu verstehen? Seitdem die EU im Jahr 1987 das Erasmus-Programm ins Leben rief, haben es mehr als zwei Millionen Studenten genutzt. Und es werden immer mehr pro Jahrgang. Allein im letzten waren es 180.000. Auch die Bestimmungsorte haben sich vervielfacht, darunter 27 EU Länder sowie Island, Norwegen, Liechtenstein und die Türkei. Zudem haben einzelne Universitäten neben dem Erasmusprogramm bilaterale Abkommen geschlossen, die einen Studentenaustausch in aller Welt ermöglichen, von den USA bis China. Worum geht es dabei? Wer das Angebot ernst nimmt, hat die Möglichkeit, einen wichtigen Schritt im Leben zu machen. Das heißt, er hat die Chance, persönlich zu wachsen und nicht nur das Curriculum auszuweiten oder die Karriere fortzusetzen. Für viele ist es damit eine Herausforderung, tiefer nach dem Sinn der Wirklichkeit zu fragen und die Wahrheit eines Vorschlags zu prüfen, kurz: wirklich Erfahrungen zu sammeln. Das bezeugen die folgenden Berichte von Studenten, die an einem Programm teilgenommen haben in Belgien, den USA, Deutschland und Holland.

MARIA SCAPPINI
Utrecht, Holland


Unterbricht Erasmus das normale Leben und verwandelt Europa in eine Großstadt, wo man die Nacht mit dem Tag verwechselt? Internationales Leben, leicht und zeitlos? Für Maria war der Traum schon nach einem Monat Utrecht ausgeträumt und es stellte sich eher Langeweile ein. „Mein Programm sah vor, dass ich nur mit anderen Erasmusstudenten lebte“, berichtet sie. „Und das funktionierte mehr oder weniger folgendermaßen: Jeder hat sein Zimmer, die Küche gehört allen und für die Beziehungen gilt: ‚wir sind alle sehr international und haben unglaublich viel Spaß zusammen‘. Außerdem steht jeder auf, wann er will.“ Alles Übrige, das Lernen, die Sprache, die Erkundung des Landes, die Beziehungen zu den Professoren, bildeten dabei nur noch einen unscharfen Rahmen im Universitätsalltag. Maria, Studentin der Linguistik aus Verona, brauchte etwas, um klarer zu sehen, was sie wirklich interessierte. Doch dadurch wurden die Monate des europäischen Austauschprogramms von Februar bis Juli in Holland schließlich „ein Moment großer Klarheit“. Am Anfang schloss sie sich dem Rummel der anderen an. „Ich war nicht glücklich, aber ich ergriff auch nicht die Initiative.“ Die Beziehungen blieben eher oberflächlich, unverbindlich. „Aber trotzdem wünschte ich mir eine wirkliche Freundschaft mit denen, die mich umgaben. Es gelang mir aber nicht. Ich wollte etwas ändern, war aber traurig, weil ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte.“ So sah sie sich vor der Alternative, das Problem entweder zu verdrängen oder sich in die eigenen vier Wände zurückzuziehen. Dann lernte sie Pieter und Jasper kennen, zwei Studenten der Bewegung. Mit Pieter, einem Jungen aus Utrecht, ging Maria täglich zur Universität. „Früh aufstehen und mich mit ihm an die Bücher setzen, war schließlich interessanter, als die homework nachts zu machen – wie zuvor.“ Jasper aus Amsterdam stand vor seinem Hochschulabschluss in Jura. Er hatte die Bewegung in Amerika kennen gelernt und wenige Monate zuvor das Seminar der Gemeinschaft ins Leben gerufen. Jeden Montag traf sich ein kleines Grüppchen von Studenten. „Er hat eine große Liebe für dieses wöchentliche Treffen“, erinnert sich Maria.
Durch die Freundschaft mit Pieter und Jasper sowie mit Therese und Gabrielle und ihrer Familie, „gewann ich die Freiheit, mir über meine wirklichen Interessen klarer zu werden.“ Was sie erstaunte, war, wie jemand seine Freundschaft so anbieten konnte, im Wissen, dass man eines Tages wieder geht. „Wenn man im Ausland ist, schließt man sich zusammen, weil jeder allein ist. Aber nur selten stößt man auf das aufrichtige Interesse, den anderen wirklich kennen zu wollen. Als ich sah, wie mich Jasper, Peter aufgenommen hatten, war ich gerührt. Hinzu kamen Laurens und Marco, ein Italiener, der nach mir angekommen war, und die Familien der Bewegung, die in ganz Holland verstreut leben. Dementsprechend änderte sich auch meine eigene Einstellung. Ich gewann wieder ein neues Interesse für alles.“ Dadurch entstand nun auch eine wirkliche Freundschaft zu den anderen Erasmusstudenten. „Ich erkannte, dass ich ‚ich selbst‘ sein konnte, sie behandeln konnte, wie mich meine neuen Freunde behandelten. Und ich sah, dass das, was ich brauchte, auch für die anderen galt.“ Und das hatte konkrete Konsequenzen. „In Italien war ich seltener gezwungen, Stellung zu beziehen. Hier wurde ich dazu ununterbrochen herausgefordert.“ Angefangen bei der einfachen Tatsache des Wohnungswechsels. „In der Wohnung, die ich am Anfang bezogen hatte, wurden die Zustände immer verrückter. Deshalb zog ich aus. Nach und nach kamen dann alle in die neue Wohnung, weil wir zusammen aßen, alles sauber war … Kleine Dinge, die eine Schönheit zeigten, die auch die anderen interessierte.“ Und es kam auch die Erkenntnis, dass es nicht die eigenen fixen Ideen sind, die dir im Leben helfen. Mit den anderen Erasmus Studentinnen entwickelte sich ein Verhältnis, ‚das alle anfänglichen Mühen übertraf‘. Die letzten Tage vor der Abreise waren dann wie ein Aufwind. „Sie riefen mich an, um gemeinsam etwas Schönes zu unternehmen. Das war aber nur möglich, weil mit den Freunden der Gemeinschaft eine Beziehung entstanden war, die meinen Blick auf sie vollkommen verändert hatte.“ Bei der Abfahrt waren einige sehr traurig. „Ich schrieb ihnen aber ein Kärtchen, dass ich im Grunde nicht traurig war: Denn für mich war das nicht das Ende eines ‚Paradieses‘ jenseits des Alltags. Für mich war es ein neuer Anfang.“

LUCIA BARBONE
Greenville, USA

Tomorrow starts here, so lautet der Slogan der East Carolina University von Greenville in North Carolina. Hier verbrachte Lucia Barbone, im dritten Studienjahr der Wirtschaftswissenschaften an der Cattolica von Mailand, ihr Spring Semester. Von Januar bis Mai, mehr als 7000 Kilometer von zu Hause entfernt. Es war ein Austausch im Rahmen des Interstudy USA-Programm, einem bilateralen Abkommen mit einem Netz von 125 amerikanischen Universitäten. In der Kleinstadt mit ihren 80.000 Einwohnern dreht sich alles um den Campus. Zwischen den Kursen und Prüfungen, „versucht die Universität, jeden deiner freien Augenblicke auszufüllen“, erzählt Lucia. Sie organisiert sogar Partys, Wettkämpfe oder mexikanische Festivals. „Aber das verhindert nicht die Einsamkeit der Menschen. Auch für mich war es sehr verwirrend, mich auf niemanden stützen zu können. Ich war nicht nur die einzige Italienerin, es gab auch niemanden, der meine Erfahrung lebte.“ Sicher hätte sich Lucia niemals vorstellen können, Freundin einer japanischen Zimmergenossin, einer Gruppe von Mexikanern und anderer junger Leute aus Korea, Finnland, Frankreich und Australien zu werden. „Sie waren sehr interessiert an meiner Art und Weise zu lernen oder wie ich die Abende mit ihnen verbrachte. Sie fragten mich immer nach dem Grund. Sie sind schließlich meine Lebensgefährten geworden – nicht zuletzt, weil sie mich nie in Ruhe ließen. Vor allem verstanden sie nicht, was für eine seltsame Verabredung ich jeden Donnerstag um 20.30 Uhr hatte …“ Anstatt mit ihren Freunden auszugehen, setzte sich Lucia an den Computer. Eine Stunde Skype. Mit Marina, Giusy und Teresa, verstreut zwischen Virginia und North Carolina: „Das war unser Seminar der Gemeinschaft, mit einem Memorare via Internet zum Abschluss. Angesichts meines üblichen vollen Tagesablaufs eines typischen ciellino habe ich erst hier, wo ich ganz allein war, entdeckt, wie sehr mir dieser Moment half: Es war keine Mühe, sondern ein wirkliches Bedürfnis.“
Natürlich war es zunächst nicht einfach: „Ich lebte eigentlich nur in der Erwartung, wieder nach Hause zurück zu fahren.“ Bei einem Treffen der Bewegung in New York Mitte Januar kam dann die Wende: „Don Carrón zitierte die Enzyklika Spe salvi: ‚Die Verheißung Christi ist nicht nur eine zu erwartende Wirklichkeit, sondern eine wirkliche Gegenwart‘. Ich schaute auf und wusste: Dieser Satz galt mir.“ Kurz danach folgte die Herausforderung von Vittadini: „Ich überschüttete ihn mit all meiner Wut: Warum kann ich nicht in New York sein? Es ist die Stadt meiner Träume und die Bewegung ist dort! Er sagte darauf: ‚Du hast jetzt die beste Möglichkeit, um zu verstehen, worauf du im Leben wirklich baust.‘“ So war es auch: „Anstatt ständig mit angehaltenem Atem zu leben, begann ich wieder aufrichtig zu fragen.“ Bei den Exerzitien des CLU in Philadelphia folgte die zweite Erschütterung: „Seit jenem Wochenende hat sich alles geändert. Nicht weil ich etwas anderes tat, sondern weil ich verändert war. Und so sagte ich auch bei meiner Rückkehr zu meinen vier Mexikanern, die ich erst wenige Monate zuvor kennen gelernt hatte: ‚Es reicht mir nicht mehr, Freunde zu sein, nur um die Zeit miteinander zu verbringen.‘“ Und wie reagierten sie? „Sie nahmen die Herausforderung an: ‚Das ist auch unser Wunsch, Lucy‘“, sagten sie.

Maria Grazia Castellani
Karlsruhe

„Es werden Ingenieure gebraucht, die Deutsch können“. Als Maria Grazia Castellani diese Worte ihres Professors für Unternehmensführung an der Universität Parma am Ende der Vorlesung hörte, bestand für sie kein Zweifel: „Da gehe ich hin!“ Seit ihrer Kindheit hatte sie eine Leidenschaft für Deutsch. So beschloss sie, für das erste Jahr des Hauptstudiums nach Karlsruhe zu gehen: Zehn Monate Erasmus, aus denen am Ende zwölf wurden. „Ich wollte nach Deutschland, um die Sprache gut zu lernen und zu sehen, ob diese Leidenschaft, ein Weg werden könnte.“ Als sie ankam, erfuhr sie erst einmal, dass sie die einzige Erasmusstudentin an der Universität und die einzige Studentin der Bewegung in der Stadt war. Die einzige deutsche Studentin des CLU weilte zur selben Zeit als Erasmusstudentin in Mailand. „Das traf mich wie ein Schlag“, erinnert sich Maria Grazia. Am zweiten Tag bekam sie eine SMS von ihrer Mutter und brach in Tränen aus. „In diesem Augenblick sagte ich mir: Entweder bleibe ich das ganze Jahr hier und weine, weil es hier nicht das gibt, was es in Parma gibt, oder ich kann auf das achten, was geschieht und erfahren, warum ich hier gewollt bin.“ Mit dieser Hypothese verließ sie ihre Wohnung. „Dabei gingen mir die Zeilen des Liedes Il Mistero (Das Geheimnis) durch den Kopf: ‚Mit einem einfachen Blick möchte ich betrachten, wie sich das Geheimnis meines Lebens enthüllt‘. Ich sah, was mir geschah, ohne lange darüber nachzugrübeln und entdeckte, dass ich unglücklich sein würde, wenn ich das Leben nicht wirklich ergreife. In Parma war ich gewohnt, mit 40 Personen zur Uni zu gehen. Als ich nun die deutsche Fakultät betrat, bat ich Gott: ‚Ich bitte Dich, lass mich nicht alleine.‘ Die italienische Studentin lernte unmittelbar darauf Daniel und Fatima kennen. „Sie waren offensichtlich die Antwort auf meine Bitte, die ich soeben ausgesprochen hatte.“ Ihnen schloss sich später Federica an. So entstand eine Freundschaft, in der für sie etwas Neues deutlich wurde: „Ich sah, wie lohnend es ist, wenn ich sage, wer ich bin, was meine Geschichte ist und was ich suche. Es war für mich eine ganz neue Erfahrung, ihnen gegenüber keine Angst zu haben und ich selbst zu sein: Es verstärkte sich die Erfahrung, dass es sowohl dich wie die Beziehungen bereichert, wenn du sagst, wer du bist.“ Diese Aufrichtigkeit durchringt die Beziehung und erlaubt es schließlich, die freie Antwort des anderen anzunehmen. „Ich lud Federica ein, mit mir zu den Exerzitien zu kommen – und sie sagte nein. Aber sie sagte es als Antwort auf einen klaren und präzisen Vorschlag. So hat uns dies nicht einander entfremdet, im Gegenteil: die Beziehung wurde einfacher, ohne jede Strategie im Umgang miteinander.“ Dasselbe geschah mit Mona Lisa. „Sie kam wiederum ganz im Gegensatz zu all meinen Erwartungen diesen Sommer mit mir nach Italien, zuerst zu den Ferien nach San Marino und dann zum Meeting. Ich lud sie am Telefon ein, und zwar auf Deutsch, was mir nicht leicht fiel. Aber es gab ja einen Grund: Ich wollte die Freundschaft mit ihr vertiefen.“ Dann kam Katharina. Maria Grazia traf sie beim Frühstück in der Pfarrei. Katharina vertraute ihr an, dass sie ins Ausland in die Mission gehen wolle, um dort anderen zu helfen. „Ich sagte ihr, ich hätte einen Freund in Paraguay, Pater Aldo. Ich kenne ihn zwar nicht persönlich, aber ich konnte dennoch sagen, dass er mein Freund ist und so konnte ich ihr helfen.“ Katharina fuhr nach Asunción. „Dadurch verstand ich, dass man nichts verliert, wenn man aufrichtig aus dem Wunsch heraus lebt, glücklich zu sein. Die Stunden, die ich jeden Tag mit den Personen verbrachte, die ich dort um mich hatte, waren nie verlorene Zeit. Und ich gewann die Gewissheit, dass mir die gleiche Liebe, die mich in Parma beim Eintritt in die Universität erobert hatte, auch hier geschenkt wurde.“ Wie ist das möglich? „Es ist nichts Automatisches. Ohne ein offenes Herz und die Hilfe der Freunde hätte sich der anfängliche Elan schon bald verloren. Ich hätte nicht das sehen können, was ich gesehen habe. Und ich hätte nicht erkennen können, dass nicht ich es bin, die das alles möglich macht.“
Somit verwirklichte sich jene Hypothese, mit der sie an jenem Morgen nach der SMS ihrer Mutter das Haus verlassen hatte. „Die Überlegung erwies sich als richtig: Es sind zwar andere Leute, aber die Möglichkeit für mich bleibt die gleiche. Das zeigte sich auch in der Kontinuität, die ich erfuhr, als ich zum Aufbau des Meetings nach Rimini kam.“ Maria Grazia war kurz nach einer Prüfung in die Adriastadt aufgebrochen, um mit ihren Freunden aus Parma beim Aufbau des Kulturfestivals der Bewegung mitzuhelfen. „Ich spürte keine Fremdheit ihnen gegenüber. Schon nach einem Tag schien es mir, als hätte ich ein Jahr zusammen mit ihnen und nicht im Ausland verbracht.“ So fuhr sie nach Deutschland zurück, um das zu erfahren, was ihr ihr Freund Don Carlo gesagt hatte: „Wenn du dein Glück suchst und es mit Ihm findest, lässt Er dich nie mehr los.“ Zurück in Karlsruhe traf sie vor ihrem Haus einen deutschen Freund. „Er war gekommen, um mich zu besuchen, weil er wissen wollte, wie es mir geht. Das war mir noch nie passiert. Also fragte ich mich: Was ist in diesem Jahr geschehen, was habe ich getan, um dies möglich zu machen? Ich erkannte eine Frucht, die ich mir selbst nicht geben konnte. Also brauche ich wirklich Ihn.“

GIUSEPPE CATELLI
Louvain-la-Neuve, Belgien

Für die auswärtigen Studenten hat sich die Université Catholique Louvain-la-Neuve, 30 Kilometer südlich von Brüssel, einiges einfallen lassen. Es gibt die verschiedensten Projekt-Gemeinschaften, so genannte kots, von den kots für leidenschaftliche Astronomie bis zu jenen, in denen man Jonglieren lernen kann. Insgesamt gibt es rund 80 dieser Wohngemeinschaften. Giuseppe Catelli, Student der Rechtswissenschaften aus Padua, besuchte diesen Erasmusstudienort von März bis Juli.
„In dem Dorf, das vor 40 Jahren aus dem Boden gestampft wurde, um die Studenten der Campus-Uni zu beherbergen, hast du als Erstes den Eindruck der Anarchie. Die kots für acht bis 12 Personen, sind absichtlich gemischt, auf der Straße liegen Sofas herum und zu jeder Tages- und Nachtzeit läuft irgendeine Party.“ Giuseppe kam im „Le Levant“ unter. Als Projekt sammelten die Studenten Bestellungen für Backwaren, die eine Kooperative von Menschen mit Behinderung herstellt. Jeden Montag werden die Bestellungen aufgenommen und mittwochs wird die Ware im Viertel ausgetragen. Außerdem soll man in der Pfarrei mitarbeiten. „Das Engagement soll die Studenten sozial sensibilisieren und ihre Freizeit gestalten. Ich hätte in die ökologische kot kommen können, zwischen Fahrrädern und Filmforen von Umweltschützern. Stattdessen kam ich in eine kot, die als ‚christlich‘ bezeichnet wurde.“ Zunächst war das eine große Herausforderung: „In einer Universität, die heute am liebsten das unbequemen Adjektiv catholique fallen lassen würde, lebten meine Mitstudenten eine christliche Erfahrung, die sich sehr stark von der meinen unterschied. Sie setzten sich beispielsweise auch nicht gegen die Kritik an den Papstworten zu Afrika zur Wehr.“ Was also tun? Bis zur Rückkehr nach Italien überleben? „Ich war versucht, sie zu ignorieren. Aber ich hatte sie mir nicht ausgesucht. Und für mich war es die Möglichkeit, hier der Kirche zu begegnen, an diesem Ort mit der Kirche in Kontakt zu kommen.“ So änderte sich ganz langsam meine Haltung ihnen gegenüber: „Ich nahm sie so an, wie es die Freunde der Bewegung mit mir gemacht hatten.“ Jeden Donnerstagabend ging Giuseppe zum Seminar der Gemeinschaft nach Brüssel. „Das war der Fixpunkt, um an den Tagen wieder anzufangen. Das Seminar der Gemeinschaft stellte mich mit dem Rücken zur Wand, es verlangte von mir, mit allem ernsthaft umzugehen: Auch in Bezug auf die Studenten der kot. Mein Glaube konnte kein Gefühl bleiben.“ Diese Andersartigkeit blieb nicht verborgen: „ Als einige Freunde der Bewegung zu Besuch kamen, sagte mir ein Mitbewohner: ‚Was ist CL? Ich hatte nicht erwartet, so lebhafte Leute kennen zu lernen. Ich möchte mehr darüber wissen.‘“
Aber auch im Studium galt es, die Herausforderung des Seminars der Gemeinschaft ins Spiel zu bringen. Da Giuseppe von Kursen profitierte, die in Italien nicht angeboten wurden, wie etwa der Einführung in das islamische Recht, wählte er das Thema für seine Abschlussarbeit. „Ich untersuchte die Folgen der Zuwanderung für den Rechtsstaat. Denn Einwanderung gab es in Belgien 30 Jahre früher als in Italien. Das zwang das Land, sich mit den Thema auseinanderzusetzen.“ In Belgien ist die internalisation kein leerer Begriff, sondern Normalität. „In der Vorlesung saßen Chinesen, Araber, Amerikaner, Rumänen, Russen ... neben mir. Man kann diese Wirklichkeit, nicht ignorieren.“ Das heißt: „Entweder bleibst du auf deinen Vorurteilen sitzen, oder du versuchst, das kennen zu lernen, dem du begegnest. Nur so profitierst du auch davon.“ Aus dieser Haltung heraus ergab sich auch die unerwartete Freundschaft mit Abdel, einem muslimischen Studenten: „ Er half mir am meisten bei der Recherche für meine Abschlussarbeit. Die Unterschiede waren offensichtlich. Aber wir entdeckten, dass wir die gleichen Wünsche und Sehnsüchte teilten. Und das war stärker als alle Unterschiede.“