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Kultur / Die Herausforderung der Modernität
Nur das Herz ist intelligent
Fabrizio Rossi

Grossman, Conrad, Roth ... In seinem soeben erschienen Werk Un Cœur intelligent (Ein kluges Herz) befasst sich der französische Philosoph ALAIN FINKIELKRAUT mit den Werken von neun Autoren, „die die menschliche Existenz beleuchten“. Und in der Bibel sucht er einen Weg, um den Bruch zwischen Vernunft und Gefühl wieder zu überwinden. Im Interview mit Spuren erläutert er, „warum die Erziehung der einzige Weg zum Heil ist“.

„Worum wir bitten müssen, ist ein intelligentes Herz. Es geht darum, die Gnade eines intelligenten Herzens zu erhalten. Heute mehr denn je“. Es hinterlässt schon einen gewissen Eindruck in der Heimat eines Descartes von „intelligence du cœur“ sprechen zu hören, in einem Raum über den Dächern von Paris, nur einige Häuserblocks entfernt vom Tempel der modernen Vernunft, der Sorbonne.
Auch deswegen, weil die Worte aus dem Mund von Alain Finkielkraut kommen, einem der bekanntesten Intellektuellen der zeitgenössischen Kultur. Er ist Jahrgang 1949, stammt aus einer jüdischen Familie und unterrichtet Philosophie und Ideengeschichte an der namhaften École polytechnique. Darüber hinaus leitet er seit mehr als 20 Jahren die Radiosendung Répliques auf France Culture und ist ständiger Mitarbeiter bei Zeitungen wie Le Monde und Libération. In seiner Wohnung ist jeder Quadratzentimeter mit Büchern und Zeitschriften belegt. Ein geistiger Zufluchtsort vor der Welt? „Im Gegenteil. Für mich erhellt gerade die Literatur die Geschehnisse der Welt“, meint Finkielkraut. Tatsächlich ist er nicht der Typ, der sich aus den Auseinandersetzungen heraushält. Nach einem Jahr des Schweigens auch aufgrund einer schweren Krankheit ist er mit einem neuen Essay wieder an die Öffentlichkeit getreten. Un cœur intelligent (Ein intelligentes Herz), so der Titel, ist vor kurzem bei Stock/Flammarion erschienen. Die etwa 300 Seiten sind neun literarischen Werken gewidmet. Dazu gehören Aufzeichnungen aus dem Untergrund von Fjodor Dostojewskij, Babettes Fest von Karen Blixen, Alles fließt … von Wassilij Grossman und Der erste Mensch von Albert Camus. „Sie zählen zu den Autoren, die ich am meisten liebe und zu denen ich oft zurückkehre. In ihrer Einsamkeit, ihren Hoffnungen und ihrem Scheitern finde ich auch meine Einsamkeit, meine Hoffnungen und mein eigenes Scheitern wieder.“

Was meinen Sie mit „intelligentem Herzen“?
Es ist das Herz, wie es die Bibel beschreibt. Es ist das, das Gott dem König Salomon auf dessen Gebet hin schenkt: „Ich gestehe dir ein weises und intelligentes Herz zu: so wie du war nie einer vor dir, und keiner, der später hervorgeht, wird jemals so sein …“ Seither sind 3000 Jahre vergangen, doch dieses Gebet ist immer noch gültig. Mehr noch, heute bedarf es mehr denn je eines intelligenten Herzens.

In welchem Sinne?
Herz und Intelligenz müssen wieder miteinander ins Gespräch kommen. Wir laufen nicht Gefahr, dass der eine oder andere der beiden Faktoren völlig fehlt, sondern dass sie voneinander gelöst sind. Wenn Herz und Intelligenz sich unabhängig voneinander entwickeln, hat das verheerende Folgen. Das 20. Jahrhundert hat dies vor Augen geführt. Es begünstigte einerseits eine rein funktionale Intelligenz, wie sie Bürokraten zu Eigen ist, andererseits förderte es eine Gefühlsbetonung, die dem Einzelnen gleichgültig gegenübersteht. Wir haben alle gesehen, wozu die Ideologie führt: indem sie sich vornimmt, das Böse auszurotten, lähmt sie das Herz. Wassilij Grossman beschreibt das treffend, wenn er feststellt, dass man dahin gelangt sei, im Namen der Liebe zu hassen. Gerade als Lehre aus dieser Epoche drängt sich fast gebieterisch die Notwendigkeit eines intelligenten Herzens auf.

Wie sind Sie zu dieser Intuition gelangt?
Im Kontakt mit Personen, die unsere Zeit mit offenen Augen durchlebt und dabei aufgezeigt haben, welche Folgen ein Riss in der Verbindung von Herz und Vernunft mit sich bringt. Eine von ihnen ist die Denkerin Hannah Arendt, die in einem Aufsatz eben auf jene Episode der Bibel zurückkam: „Das Gebet, in dem sich König Salomon an Gott wendet, könnte auch für uns von bleibendem Wert sein. Nur ein „intelligentes Herz“ erlaubt uns, mit anderen in der gleichen Welt zu leben, nicht die Überlegung oder das Gefühl allein für sich.“

Sie schreiben allerdings, dass „Gott vielleicht auf uns schaut“, dass Er sich aber nicht in unsere Angelegenheiten einmischt. An wen sollte sich das Gebet dann richten?
Ich vermag es nicht zu sagen. Mir scheint, dass Gott schweigt. Und ich fürchte, dass man gerade jetzt diese Bitte nicht einmal an die Geschichte richten kann. Ich denke, man kann sich mit ihr allein an die Literatur wenden, um möglicherweise auf eine Antwort zu stoßen. Denn im Grunde besteht die Sendung der Literatur ja genau darin, uns ein intelligentes Herz zu verleihen. Sie teilt die Menschen nicht in Gewinner und Verlierer ein, und sie opfert den Einzelnen nicht der Wahrheit, die sie jeweils verkündet. „Die Worte der Lügner erröten, doch die Zahlen der Statistiker schämen sich niemals“, sagte der Dichter Wystan Auden. Ich denke, die Tugend der Literatur besteht genau darin, dass sie Zahlen und Statistiken zum Erröten bringt.

Das Gegenteil der Ideologie...
In der Literatur kommt gerade den Einzelheiten eine große Bedeutung zu, und sie greift das auf, was banal und gewöhnlich ist. Marcel Proust hat diesen Aspekt überaus gut verstanden: Man greift das Allgemeine in dem Maße auf, wie man sich ganz auf die Einzelheit einlässt. Ein intelligentes Herz führt diese Vielschichtigkeit ein, während wir dazu tendieren würden, bestimmte Probleme beiseite zu lassen.

Wurde Ihr Gebet erhört?
Noch nicht. Ich erhoffe und erwarte eine Antwort. Doch bisher ist sie noch nicht zu einer Erfahrung für mich geworden. Es ist das kühne Unterfangen dieses Buches. Ich hoffe, dass die Literatur mein Urteil formt, mir die Augen öffnet und in die Klischees eindringt, die sich ständig zwischen mir und der Welt bilden.

Warum stimmen Sie gerade als Philosoph ein solches Loblied auf die Literatur an?
Die Literatur erhellt ebenso wie die Philosophie das, was wir durchleben. Sie liegen nicht im Wettstreit miteinander. Doch seit dem Bruch zwischen Vernunft und Herz meinen sehr viele Philosophen, sie hätten ein Monopol auf das Verständnis der Welt. Ihnen gegenüber ziehe ich Denker wie Paul Ricœur oder Martin Heidegger vor, die in Demut die Bedeutung der Literatur für das Verständnis der menschlichen Existenz anerkannt haben. Wenn sie nicht dazu diente, etwas Neues aus der ewigen Wirklichkeit zu erkennen, so wäre sie lediglich ein divertissement, ein Zeitvertreib.

Ihre Werke haben sich bisher immer mit Themen befasst, die eng mit unserer gegenwärtigen Epoche verflochten waren. Weshalb widmen Sie sich jetzt zeitlosen Klassikern?
Die Ursprünge reichen bis zum Jahr 1994 zurück. Als ich eine Konferenz über Joseph Conrad hielt, kam mir die Idee eines Buches über einige Schriftsteller als Lehrer. Ich habe über Jahre Material gesammelt. Es bedurfte einer langen Reifezeit – und eines besonderen Erlebnisses: im Jahr 2005 griff mich die internationale Presse scharf an wegen einiger Äußerungen über die Situation in den banlieues von Paris. Sie stammten aus einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Haaretz. Man bezichtigte mich des schwersten intellektuellen Verbrechens unserer Zeit: des Rassismus. Sie hatten mich zu einem öffentlichen Feind gemacht. Als sich die Lage allmählich wieder beruhigte, forderten mich verschiedene Personen zu einer Antwort auf, sogar in Form eines Pamphlets. Aber auf diese Weise hätte ich nur der einen Polemik noch eine weitere hinzugefügt.

Wie kam es dann zum Entschluss, stattdessen Un cœur intelligent zu schreiben?
Weil mein Ich in diesem Buch mehr zum Ausdruck kommt als in jedem Pamphlet, mit dem ich gegen die Anklagen hätte zurückschlagen können. Ich entschied, die Arena und das Gericht hinter mir zu lassen und mich Autoren zu widmen, die die menschliche Existenz erhellen. Für mich war es eine Art Katharsis, so, als hätte ich gesagt: Warum seht ihr in mir nur den Verfasser von Streitschriften? Aber ich bleibe kämpferisch und habe keineswegs das Handtuch geworfen.

Welchen Kämpfen muss sich Ihrer Meinung nach der heutige Mensch stellen?
Ich lese Ihnen einen Satz von Simone Weil vor: „Der Abscheu unserer Seele gegenüber einer wahren Aufmerksamkeit ist viel gewalttätiger als der des Fleisches gegenüber der Mühsal. Und dies steht dem Bösen viel näher als das Fleisch. Mit jeder aufrichtigen Aufmerksamkeit zerstört man etwas vom Bösen in sich selbst.“ Und genau darin besteht der Kampf, dem sich ein jeder stellen muss: zwischen dieser Aufmerksamkeit und dem Hang zur Abstraktion. Ein intelligentes Herz meint, dieser Fähigkeit gegenüber aufmerksam zu sein. Wie es Hannah Arendt ausgedrückt hat. Nicht der Mensch schlechthin bewohnt die Erde, sondern die Menschen in ihrer unendlichen Vielfalt. Jeder von uns stellt ein Ereignis dar. Wir sind zum Ereignis verurteilt.

Warum sprechen Sie von „Verurteilung“?
Weil gerade das Unerwartete unser Gesetz ist, das Unvorhersehbare. Die Dinge ereignen sich, auch wenn sie nicht im Programm vorgesehen sind. Wir versuchen so zu tun, als ob nichts wäre und als ob wir die Wirklichkeit beherrschen könnten, doch es nützt nichts: wir müssen diese Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen.

Als Sie in einem Interview von 1992 vom Ereignis sprachen als „äußerster Methode der Erkenntnis“, war Don Giussani davon sehr beeindruckt. Er zitierte Sie oft und sprach davon, dass „das Ereignis am Anfang einer Entwicklung steht, die den Menschen mit Würde ‚Ich‘ sagen lässt“. Und weiter, dass „das Wort ‚Ereignis‘ die einzige Kategorie ist, die definieren kann, was das Christentum ist“. Für Sie scheint das Ereignis hingegen eher etwas zu sein, vor dem man sich fürchtet...
Ich habe nie daran gedacht, aber ich finde es äußerst interessant. Es ist eine Lesart, die deutlich mehr sieht, als ich dabei im Kopf hatte. Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, dass für mich das Ereignis nicht zwangsläufig in sich selbst positiv ist: denken Sie nur an den Tod einer geliebten Person. Es ist etwas, das wir nicht planen können. Wir bemühen uns nach Kräften, die Dinge zu beherrschen, doch dann geschieht etwas, das uns wieder in die Wirklichkeit zurückruft. Etwas, das uns zwingt, die gewohnten Gleise zu verlassen. Gewiss, in einer Welt, in der wir das Gegebene für tot erklärt haben und nur noch in selbst geschaffenen Vorrichtungen leben, in der wir also nur noch uns selbst begegnen, ist dies die einzig verbliebene Möglichkeit, um die Wirklichkeit kennen zu lernen.

Wo sehen Sie einen Ausweg aus der beschriebenen Situation?
In der Erziehung. Sie ist das einzige Heilmittel. Aber leider verfolgt man diesen Weg derzeit nicht in Europa. Mich hat eine Episode tief betroffen, die sich Ende Oktober in einem Gymnasium in Paris abgespielte. Eine Schulklasse schrieb geschlossen einen Brief an die Englischlehrerin, nachdem diese das Telefonieren mit dem Handy während des Unterrichts untersagt hatte. Dabei forderte man sie auf, ihre Haltung zu ändern. Die Jugendlichen sahen bereits diese Andeutung von Autorität als unerträglich an. Sie beschimpften die Lehrerin und drohten mit der Forderung nach ihrer Entlassung. Wenn wir nicht ins völlige Chaos abgleiten wollen, müssen wir bei der Erziehung neu anfangen. Heutzutage wird im Namen der égalité alles nivelliert. Zwischen Schüler und Lehrer muss aber eine Asymmetrie bestehen, die dem einen erlaubt zu lernen und dem anderen zu unterrichten. Wir brauchen als Ausgangspunkt wieder eine Lehrer-Schüler-Beziehung. Nur so können wir dabei helfen, dass sich eine Intelligenz des Herzens entfaltet.

Zitat: „Herz und Intelligenz müssen wieder miteinander ins Gespräch kommen. Wir laufen nicht Gefahr, dass der eine oder andere der beiden Faktoren völlig fehlt, sondern dass sie voneinander gelöst sind. Wenn Herz und Intelligenz sich unabhängig voneinander entwickeln, so hat das verheerende Folgen. Das 20. Jahrhundert hat dies vor Augen geführt.“

Box
Der neue Essay
In Un Cœur intelligent, erschienen bei Stock/Flammarion, beschäftigt sich Alain Finkielkraut in neun Kapiteln mit einigen der Schriftsteller, die er am meisten liebt: Kundera, Grossman, Haffner, Camus, Roth, Conrad, Blixen, Dostojewskij, James.