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Thema / Das Ich und das Werk
Auf der Seite des Gemeinwohls
John Waters

Der moderne Individualismus ist unfähig, den Menschen zu seiner Verwirklichung zu führen. Was aber ist die wirkliche Alternative jenseits moralischer Appelle oder eines rein sentimentalen Solidaritätsgedankens. Gedanken des irischen Publizisten John Waters zum Beitrag von Julián Carrón, der in der Dezemberausgabe von Spuren erschien.

Die Frage der Nächstenliebe gibt dem modernen Christen zahlreiche Rätsel auf. Was bedeutet es, „meinen Nächsten zu lieben“? Und dann noch … „wie mich selbst“? Muss ich meinen Besitz zur Hälfte mit ihm teilen? Wenn ja, welchen Nächsten wähle ich für diese Teilung aus? Und suche ich mir anschließend einen anderen Nächsten und teile den Rest ebenso? Wie oft muss ich den Schritt wiederholen? Und was ist dann mit denen, für die ich auf unmittelbarere Weise Verantwortung trage? Müssen sie meine Menschenfreundlichkeit stillschweigend erleiden?
Das theologische Denken fegt solche Fragen oft mit einem Sperrfeuer sentimentaler Weisungen beiseite. Durch das moderne Christentum geistert der unausgegorene Gedanke, man könne die Weisungen des Evangeliums einfach in wirtschaftliche Lehren umsetzen und dann alles Übrige vergessen. In welchem Falle man sich dann vergeblich fragt, was denn das Christentum in der modernen Gesellschaft vom Sozialismus unterscheidet. Immer mehr säkular-atheistische Ideologen führen den Namen Christi im Munde und machen den Christen Vorwürfe, die ihres Erachtens die „christliche“ Pflicht versäumen, radikalen Umverteilungsprojekten zuzustimmen.
Könnte da was dran sein? Reduziert sich die Frage der „Liebe“ in einem sozialen Gefüge, das mehr und mehr einer gigantischen Maschinerie ähnelt, nicht zunehmend auf eine richtige politische Perspektive und erreicht darin auch ihre Vollendung? Nein. Eine grobe Prüfung enthüllt, dass Christus uns mahnt, wer zwei Mäntel habe, solle demjenigen einen geben, der keinen hat. Er sagt nicht, dass wir unsere Reservemäntel dem Staat überantworten sollen, damit dieser sie an offiziell berechtigte Empfänger umverteilt.
Angesichts dieses Elements im Christentum, das nach Missbilligung persönlichen Wohlergehens und Besitzes aussieht, erscheint die Erhaltung des materiellen Wohlstands möglicherweise schwer mit einem religiösen Leben vereinbar. Versteht man den Vergleich mit dem Kamel und dem Nadelöhr wörtlich, so scheint weit verbreitete Armut die „spirituellste“ Option zu sein: Nur wer arm bleibt, gewinnt Gottes Gnade. Wie kann ich dann rechtfertigen, dass ich die Früchte meiner Mühen für mich behalte, in einer ungerechten Welt, die zu ändern weit jenseits meiner Möglichkeiten liegt?
Je mehr man hier die „traditionelle“ moralistische Trommel rührt, desto mehr treibt man den individualisierten Menschen den Perlen des Abakus in die Arme, wo er mit dem kleinlichen Zählen seiner Besitzstände versucht, die Sehnsucht nach den wahren Perlen (des Rosenkranzes) in Schach zu halten. Manche drehen die unauflöslichen Widersprüche um – in eine Rechtfertigung für den Rückzug aus der Herausforderung des Glaubens, in ein Alibi dafür, sich dem Druck zum Individualismus zu ergeben: „Ich bin nicht gut genug, ich gebe den Versuch auf!“
Die Ungleichheit selbst innerhalb einer einzelnen wirtschaftlich blühenden Gesellschaft kann dazu führen, dass Schuldgefühle die Wohlhabenden zu einer Wahl zwingen: nicht etwa zu der Wahl, ihr Eigentum zu behalten oder es an die Bedürftigen zu verteilen, sondern zu der Wahl, einem Glauben anzugehören, aufgrund dessen sie sich unwohl fühlen müssen, oder sich zu entscheiden, zu nichts mehr zu gehören und an nichts mehr zu glauben. Dieser Druck wird noch unendlich vervielfacht in einer Welt, wo globale Bilder von Armut, Hunger und Katastrophen in Echtzeit Eingang in unsere Wohnzimmer finden. Der Geist mag willig sein, aber das Fleisch, das bekanntlich schwach ist, überwiegt. Der individualistische Rückzug von der Religion ist dann teilweise Ausdruck eines vermeintlich vernünftigen Eigeninteresses: als Wunsch, den Widersprüchen zwischen dem erreichten Lebensstil und dem, wozu Christus uns scheinbar aufruft, zu entfliehen.
Wenn der Glaube erst einmal ein bisschen geschwächt ist, wird der Druck des Fleisches im Verhältnis umso größer, und der Prozess wird durch die offene Kirchentüre am Laufen gehalten, aus der Ermahnungen zur „Nächstenliebe“ den Zweifler verfolgen, wenn er sich in seinen Besitz flüchtet. Seine Antwort, überschattet von Schuldgefühlen wie auch von Selbstgerechtigkeit (schließlich hat er für seinen Lohn gearbeitet!) besteht darin, sich in seinem „Unglauben“ bestärkt zu fühlen.
Was ist mit denen, die übrig bleiben, auf der Suche nach einem Weg der über Schuldgefühle und Sentimentalismus hinausweist? Geht es bei der Nächstenliebe einfach darum, sich besser zu fühlen? Kann ich mir den Seelenfrieden „erkaufen“, indem ich anderen etwas gebe? Irgendwie scheint es nicht das zu sein, was Christus im Sinn hatte.
Das Ganze wird zusätzlich dadurch kompliziert, dass die heutige Wirtschaft nicht aus moralischen Gleichungen besteht. Sie ähnelt eher Motoren, die bestimmte Maßnahmen einfordern, um ihren Betrieb zu erhalten. Der moderne Politiker und Ökonom handelt nicht mit Nullsummenspielen, sondern mit Phänomenen, deren Ergebnisse bei richtiger Anwendung gewisse Ähnlichkeiten mit dem Wunder der Brotvermehrung nicht verleugnen können. Christliche Prediger greifen oft den „überzogenen Konsum“, den „säkularen Individualismus“ und die „Habgier“ an, aber ohne diese Begriffe näher zu erläutern, ohne irgendein Verständnis der ihnen zugrunde liegenden Mechanismen zu zeigen oder ein alternatives System wirtschaftlicher Mechanismen vorzulegen, das mit der christlichen Lehre besser vereinbar wäre.
Da ist es hilfreich zu wissen, dass es eine Methode gibt, und mehr noch, dass diese Methode alle Schwierigkeiten anerkennt.
In seiner Ansprache vor der Compagnia delle Opere legt Julián Carrón die Gründe vor, warum wir weiter an die Gemeinschaft der Menschen glauben können und nicht der Neigung folgen müssen, die Welt als ein „jeder für sich“-Problem zu betrachten – was die Option ist, zu der die erwähnten Widersprüche und Rätsel uns sonst drängen.
Als Antwort auf die rationalen Einwände des modernen Bürgers trägt Carrón einen vernünftigen Ansatz vor: dass nämlich der Individualismus nicht einfach eine „falsche“ Wahl ist, sondern eine, die dem Eigeninteresse widerspricht, weil er einige Faktoren in der Gleichung des Menschen nicht beachtet. Demnach ist der Individualismus keine wahre Lösung, da er die unvermeidliche Spannung zwischen dem „Ich“ und den „anderen“ wegdefiniert und so tut, als könne das individuelle Glück an „Dingen“ festgemacht werden. So zeigt das moderne Denken einmal mehr seine Unangemessenheit als Antwort auf das Sehnen des Menschen. Es vervielfacht zwar die Möglichkeiten des individualistischen Ausdrucks. Zugleich vermehrt es aber auch die Regeln, derer es bedarf, um den „Wolf in uns“ im Zaum zu halten. Wölfe, versichert Carrón, kann man nicht durch Regeln zähmen.