Logo Tracce


Ein Tag mit...
Zum Leben erweckt durch einen Blick
Silvana Ninivaggi

Vor 40 Jahren ging Rosetta Brambilla aus der italienischen Brianza in die Favelas der brasilianischen Metropole Bello Horizonte. Sie gehörte zu den ersten Mitgliedern der Bewegung, die in die Mission gingen. Inzwischen sind dort zahlreiche Werke entstanden. Alles begann durch eine Begegnung mit Don Giussani, die dem Leben der Fabrikarbeiterin eine völlig neue Richtung wies.

Es heißt nicht zufällig Belo Horizonte. Von den Straßen der Favelas aus öffnen sich weite Landschaften. Über uns ziehen Wolken dahin wie auf einem Aquarell. Wir gehen zur Messe, dem einzigen Fixpunkt in Rosettas Tagesablauf, um 7.15 Uhr morgens. Doch aus dies ist nicht eigentlich ein Fixpunkt. Denn sie muss Don Pigi Bernareggi folgen, der jeden Tag in einem anderen Kirchlein den Gottesdienst feiert. Sie liegen verstreut im bairro, im Stadtviertel. Am Ausgang begrüßt sie noch schnell Bekannte, die gekommen sind, um mit ihr einige Worte zu wechseln. Donna Rosa, so heißt sie hier in den Favelas. Rosetta Brambilla ist nicht sehr groß, kräftig und raucht schlechte Zigaretten. Sie stammt zwar aus der norditalienischen Region Brianza, nach 42 Jahren in diesem Land ist sie aber schon fast brasilianischer als die Brasilianer.

Als die der Bewegung begegneten, war sie 17 Jahre alt und arbeitete in einer Keramikfabrik. Es war an einem Sonntagnachmittag bei einem Fest. „Ich war nicht zufrieden mit meinem Leben. Als Don Giussani mich anschaute begann ich es zu lieben und mich zu lieben. Er setzte alles auf mich, obwohl ich ein Nichts war.“ Seit damals trägt sie einen Satz auf einem Zettel bei sich: „Wie können wir vergnügt sein? Indem wir uns selbst und den anderen gegenüber aufmerksam sind.“ Das stand damals auf dem Einladungsflyer zu einem Ausflug in die Berge. Bis heute hängt sie an diesem inzwischen verblassten Zettel.
„All das, was hier in Brasilien geschehen ist, entsteht aus dem ‚Ja‘, das man Tag für Tag immer wieder sagt, sogar zu den Festen und Ausflügen. Es waren diese „Jas in jedem Augenblick, von damals und heute, ohne Unterschied, die diese 40 Jahre fruchtbar werden ließen“. 1967 brach sie auf, um Don Pigi zu helfen, der seit 1962 Missionar in Brasilien war. Don Pigi gehörte zu den ersten Schülern der Bewegung und ist nun ihre Seele in Lateinamerika.

Ein Kind, das du nicht erwartest. Rosetta wohnt heute in der Favela Primero de Maio. Dorthin kehren wir nach der Messe zurück. Um acht Uhr gibt es Frühstück und dazu sind Gäste eingeladen. In ihrem Haus herrscht ein stetes Kommen und Gehen der unterschiedlichsten Leuten: Freiwillige, Freunde, Durchreisende, oft sind es junge Leute. Das obere Stockwerk des Hauses ist ganz für die Gäste da und steht allen offen. Nur selten ist Rosetta mal allein. Im August hatte sie gleich 20 Gäste zur selben Zeit. In diesen Tagen sind die zwei Studentinnen Elisa und Costanza da, sowie Serena und Mirella. Der rege Besuch aus dem Ausland begann 1995. Damals machte Gabriele, ein Mailänder, der an der Börse arbeitet, der Muttergottes ein Gelübde und versprach, einen Monat als Freiwilliger zu arbeiten. Er hielt es in den Favelas allerdings nur 14 Tage aus. Doch prägten ihn die Eindrücke. So sammelte er nach seiner Rückkehr mit Freunden und Kollegen in einem Jahr umgerechnet rund 40.000 Euro für Rosettas Werk. Seitdem kommt er jedes Jahr wieder.
Um 8.50 Uhr steigen wir in den grauen Fiat Palio. Der Tag ist voll mit Terminen. Aber sie liegen nicht alle hintereinander auf einem Weg, wie die Uhrzeiten im Terminkalender. Die Route verläuft im Zick Zack. Früher oder später kommt man aber überall an; wie, weiß man nicht. Der Tagesablauf von Rosetta wird von dem bestimmt, was passiert und wen sie trifft. Unterwegs braucht ein Bekannter eine Mitfahrgelegenheit, um ein schweres Paket zu befördern. Oder man kommt an einem Haus von Freunden vorbei und klopft kurz an, um zu fragen, wie es geht und die Kinder zu begrüßen. Jede Wegstrecke ist eine Überraschung. Wir kommen nach Jardim Felicidade. Dieses Wohnviertel entstand auf Initiative von Don Pigi. Zwei Jahre lang stritt er sich mit der Regional-Regierung, damit 4.000 Familien die Favelas verlassen konnten. Heute besitzen sie Haus und Grund. Sie gaben dem Wohnviertel auch den Namen.
Zum Kindergarten geht es durch ein bemaltes Tor. Rosetta verschwindet, weil sie ein Treffen mit den Verantwortlichen hat. Dies ist das zweite Kinderzentrum der „Obras educativas padre Giussani“. Rosetta koordiniert die Werke. Die unterschiedlichen Einrichtungen im Norden der Stadt Belo Horizonte betreuen 1.150 Kinder und Jugendliche. Zu ihnen gehören vier Sozial- und Bildungseinrichtungen, das Sportzentrum Virgilio Resi, das Kinderheim Novella, und mehrere Kindergärten. Um den Kinderhort in Jardim Felicidade ist das Zentrum Alvorada entstanden. Seit kurzem ist Lucio hier Direktor. Er war einmal Seminarist und dann pastoral engagiert. Er traf Rosetta nach einer Messe. Nach zwei Minuten war alles klar. Nun steht er diesem Ort der Begleitung für Kinder, Jugendliche und Eltern vor. „Ich hatte nicht einmal die Zeit zu antworten, als Rosetta mir vorschlug, das Zentrum zu leiten.“ Er kam dazu, „wie zu einem unerwarteten Kind“. Im Alvorada kümmert er sich um Jugendliche aller Alterststufen, aus den Favelas. Vier von fünf Minderjährigen kennen ihren Vater nicht. „Männliche Erzieher sind sehr wichtig, weil die Kinder sehen müssen, dass es auch Männer gibt, die fähig sind, zuzuhören und zu umarmen“, erzählt Lucio. Er zeigt uns Fotos von jungen Leuten. Sie waren einst in diesem Zentrum und sind hier nun aller Erzieher tätig.
„In den letzten Jahren haben sich die Lebensbedingungen verschlechtert“, beklagt er. Schuld sind vor allem die Drogen. Der Konsum beginnt bereits mit neun, zehn Jahren. Die Droge ist nicht zuletzt ein Versuch, im Elend der Favelas zu überleben. „Deshalb entstand nach dem Kindergarten die Tagesstätte, wo wir heute 200 Jugendliche in verschiedenen Aktivitäten beschäftigen. Schließlich haben wir das ‚Jovem Trabalhador‘ ins Leben gerufen.“ Derzeit hilft diese Einrichtung 140 Minderjährigen, sich in die Arbeitswelt einzugliedern.
Es ist Kaffeepause. Die Halle füllt sich unversehens mit Erziehern und Personal. Schaut man auf diese Leute, die jetzt hier arbeiten, lächeln, sich engagieren, kann man sich kaum vorstellen, welche Lebensgeschichten sie hinter sich haben. Es ist ein lebendiges Wunder.

Aus den Stufen ein Haus. Von der Treppe her schallt Musik herein. Eine Gruppe von Kindern stimmt ein Lied an. Vivian, die neue Lehrerin, hat einen neuen Chor ins Leben gerufen. Kaum erscheint Marco Aurelio, stürzen alle auf ihn, als wäre es ihr Vater. Seit zehn Jahren unterrichtet er die Klassen in Musikerziehung. Er gebraucht Instrumente jeglicher Art und die Kinder lernen das Sprechen nicht zuletzt durch die Lieder im Kindergarten. Spielzeug wird hier ebenfalls gefertigt. Cleber, der Tischler, hat eine kleine Werkstatt im Erdgeschoss, wo er mit viel Geduld Lastwagen, Pferdchen, Frösche oder Kaninchen auf Rädern aus Holz herstellt. Wenn sie fertig sind, bringt er sie in die Aula, wo die Kinder sie anmalen und einpacken. Zu den Betreuern gehört Simone. Sie war das erste Kind in diesem Hort. Mit vier Jahre kam sie hierher und zog den kleineren Bruder an der Hand wie eine Puppe hinter sich her. Heute leitet sie die Kunstwerkstatt.
Hinter einer Mauer erscheint eine Reihe Kinder mit rhythmischen Schritten. Diego und Igor unterrichten hier capoeira, eine Sportart, die auf den antiken Sklavenkampf zurückgeht. „Der capoeira gehört neben den Theaterkursen zu den beliebtesten Fächern“, berichten sie, – natürlich neben dem Fußball. Anfangs hatte das Zentrum einen schlechten Sportplatz aus Zement, heute verfügt es über eine Fußball-Schule für 300 Kinder und einen rechteckigen überdachten Platz mit perfektem Kunstrasen. Alle sind hier stolz auf dieses Geschenk eines italienischen Wohltäters. Auch der Trainer, Alessandro, ist Italiener. Er verließ seine Arbeit am Strand von Rimini und lebt nunmehr seit zehn Jahren hier.
Auf dem alten Sportplatz steht heute das Kinderheim Novella. Sechs Erzieher kümmern sich hier um zehn Kinder, deren Eltern die Fürsorge entzogen wurde. Und Gracia ist rund um die Uhr bei ihnen. „Die Kinder können nicht immer von unterschiedlichen Gesichtern umgeben sein, sie brauchen eine beständige Bezugsperson“, meint sie.
Rosettas Versammlung ist zu Ende. „Alles, was hier entstanden ist, war nicht das Ergebnis von Projekten“, erläutert sie. „Es ist die Antwort auf ein Bedürfnis, das sich allmählich entfaltet hat. Es ist genauso, wie wenn ich morgens aus dem Haus gehe und der Tagesablauf beginnt, indem man auf die Bedürfnisse und die unvorhergesehenen Dinge antwortet, die auf dich zukommen.“
Bevor wir abfahren, gibt es Mittagessen. Die Halle wird nun zur Mensa. Alle sitzen. Die Kinder sind lebhaft, schlagen aber nicht über die Stränge. „Wenn sie etwa zum Arzt gehen, sind die Leute erstaunt, wie erzogen sie sind“, meint Silvana. Sie war die Direktorin der Schule, jetzt ist sie die Köchin. Man brauchte eine und sie hat die Aufgabe gewechselt. „Aber es ist genau dasselbe, sie ist weiterhin der Bezugspunkt“ , sagt Rosetta. „Wer hier kocht und putzt, ist der erste Lehrer.“ Es gibt keinen Unterschied zwischen Direktorin oder Köchin.

Papai do Céu.„Erziehen bedeutet, den Geschmack, mit dem man die Dinge tut, atmen zu lassen, das bedeutet, ein Leben mitzuteilen“ , meint Rosetta und fragt mich, ob ich nicht mitkommen wolle, um Farben zu kaufen. Dabei heftet sich ihr Blick auf ein Kind, das um sie herumstreicht. Ein zweites kommt hinzu. Und dann ein weiteres. Sie kann nicht „nein“ sagen und so wird das Auto voll. Für die Kinder ist es so wie Karussell fahren. Sie nimmt die Kinder mit, gleich wo sie hinfährt, auch zu den Beerdigungen. Die Kinder in den Straßen der Favelas sind den Anblick ermordeter Menschen gewohnt, die in der Straße liegen, bis die Polizei sie abholt. „Bei den Beerdigungen können sie entdecken, dass die Menschen in die Arme Gottes zurückkehren.“ Zum Papai do Céu, wie sie ihn nennen, zum Vater im Himmel.
Mit dem vollen Auto fahren wir zum Creche Etelvina Caetano de Jesus. Es ist der erste Kindergarten, der mit Rosetta entstand. Er gehört zur Pfarrei De Todos Os Santos. Dort nahm Don Pigi seinerzeit Familien auf, die ihre Baracken verließen, weil starke Sommer-Regenfälle sie zerstört hatten. So entstand inmitten des Nichts der Favela eine Gemeinschaft. Sie bot zunächst Kurse für Raumausstattung, Schneiderei, Nähen und Sticken an, sowie Lese- und Schreibunterricht. Außerdem begann man mit dem Katechismusunterricht. Schließlich kam eine Arztpraxis hinzu. 1979 stellte eine Frau der Gemeinschaft dann ihren einzigen Raum für einen Kindergarten zur Verfügung. Um die ersten 50 Kinder aufzunehmen wurde er mit einer gelben Plane erweitert.
1987 wurde dann der heutige Kindergarten fertiggestellt. Seit 19 Jahren leitet ihn Elena. Wie alle der heute 150 Angestellten der Obras, der Werke, kam sie durch eine Freundschaft zu ihrer Aufgabe. Sie ist eines der ersten Kinder, die Rosetta und Don Pigi getroffen haben. Ihre Mutter hatte 18 Kinder „alle von demselben Vater. Sie waren 25 Jahre zusammen!“ Elena legt Wert auf diese Feststellung, weil sie weiß, dass das an diesem Ort eher die Ausnahme ist.
„Früher mussten wir angesichts der sozialen Probleme vor allem auf die materielle Armut antworten“, sagt sie. „Heute gibt es eine riesige kulturelle Armut. Wir müssen den Müttern die Zuneigung zu ihren Kindern vermitteln und ihnen zeigen, wie man sich um sie sorgt. Die Methode, die uns Rosetta gelehrt hat, besteht darin, auf die Person in ihrer Einzigartigkeit zu schauen. Es geht nicht nur darum, Regeln für einen guten Umgang zu vermitteln. Man muss den anderen mit einer Liebe an die Hand nehmen, die auf die Wirklichkeit hin öffnet. Es geht darum, seine Bestimmung lieb zu gewinnen.“ In den meisten Fällen müssen die Mütter ihre Familie allein voranbringen. „Wenn eine Mutter eine schwierige Zeit durchmacht“, erzählt Elena, „schlagen wir ihr vor, dass sie uns beim Kochen oder der Kinderbetreuung hilft. Im unbeschwerten Zusammenleben kann sie wieder einen Hoffnungsschimmer entdecken und so kann es für sie der Beginn für eine Veränderung im Leben sein.“

Ein Leben, das wartet. Wir fahren mit Rosetta, die sich über die langsamen Autofahrer ärgert, nach Hause zurück. Zwischendurch gibt es noch einen Halt, um eine Familie zu besuchen. In den engen Gassen muss sie Slalom fahren zwischen Menschen am Straßenrand und Kindern, die auf der Erde spielen. Endlich erreichen wir die rua Faradayl. In Rosettas Haus steht eine altrosa Konsole, die sie in der Baracke einer der ersten Familien fand, denen geholfen wurde. Der neue Anstrich war für sie auch Zeichen für den „Beginn einer Liebe zu sich selbst“. Rosetta geht gleich an den Herd. Sie kocht gern, ihre häusliche Organisation ist aber eher militärisch. Sie hat keinen sanften Charakter, aber eine tiefe Zuneigung zu allen. Auch heute Abend sind Gäste da. Das Haus füllt sich und es beginnt ein lebhaftes Gespräch auf Portugiesisch. Es kommen Menschen, die alles brauchen, vor allem eine Umarmung. „Wir alle brauchen die Umarmung Christi. Nichts anderes gibt dem Leben Bestand“, sagt Rosetta.
Sie selbst musste zusehen, wie gerade jene Freunde gingen, mit denen alles angefangen hatte. Sie waren ihr mehr als Brüder. „Sie schlugen einen anderen Weg ein. Ich fühlte mich, als würde mir die Haut vom Leib gezogen. Ich lag am Boden und atmete den Staub ein. Aber ich habe entdeckt, dass ich mich stets auf Ihn stützen kann.“ Von draußen dringt der Lärm der Favelas durch die offenen Fenster. Das Gebell der Hunde, die Schreie der Kinder, das Aufheulen von Motoren. Die bemalten Häuser sehen aus, wie eine Collage aus Farbresten, hellgrün, orange, grau. Sie sind kennzeichnend für das chaotische Leben an diesem Ort – das aber zugleich ein Leben von Bitten und Erwartungen ist. Jemand kommt am Haus von Rosetta vorbei. Er bekreuzigt sich kurz und geht weiter.