Logo Tracce


Kirche / Glauben und Kultur
Unsere Herausforderung an den modernen Menschen
Davide Perillo

Der italienische Kardinal CAMILLO RUINI erläutert die Bedeutung der Erziehung für eine Erneuerung der Gesellschaft. Dabei warnt er im Interview mit Spuren vor der Illusion einer neutralen Haltung, die einer Auflösung des erzieherischen Vorschlags gleichkomme.

Die Italienische Bischofskonferenz hat unlängst ein eigenes Papier zur Frage der Erziehung herausgegeben. Ausgangspunkt war nicht zuletzt die Klage des Papstes über den „Erziehungsnotstand“. Spuren sprach mit dem ehemaligen Vorsitzenden der Italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Camillo Ruini, über die Bedeutung der Erziehung für die Zukunft der Gesellschaft.

Eminenz, warum ist die Erziehung heute zum Problem geworden?
Man kann die Frage von verschiedener Seite her angehen, kommt aber am Ende immer zum selben Schluss: Der Heilige Vater hat vom Relativismus gesprochen, der jeder Geisteshaltung die Konsistenz nimmt und alles verflacht, was wiederum eine wirkliche Bildungsarbeit unmöglich macht. Umberto Galimberti sprach vom Nihilismus, was zum selben Problem führt: das völlige Fehlen eines festen Grundes, auf den man bauen kann. Ich selbst habe mehrmals den Ausdruck „Naturalismus“ benutzt, im Sinne einer Reduzierung des Menschen auf die Natur. Wenn der Mensch lediglich ein Produkt der Natur ist, ein Fragment von ihr, wenn auch ein sehr edles, dann ist nicht ersichtlich, warum er frei und eigenverantwortlich, ja warum er überhaupt wirklich vernünftig sein soll. Und es ist nicht einsichtig, wie seine Freiheit entstanden sein soll. Hier liegt in meinen Augen der wirkliche Grund für den Erziehungsnotstand.
Das heißt, im Kern liegt es an einem verkürzten Verständnis des Menschen?
Ja. Und hinter der schwachen Anthropologie steckt die Ausklammerung Gottes, des objektiven Absoluten.
Der Bericht spricht von der „Auflösung des Menschen“ und von der „Spaltung zwischen Zuneigung und Vernunft“. Welchen Einfluss hat diese Spaltung auf die Erziehungskrise?
Einen wesentlichen. Auf der einen Seite gibt es eine auf die empirische Erfahrung verkürzte Rationalität, doch auf der anderen Seite besteht ein starkes Bedürfnis nach Sinn. Weil der Mensch zwar einen ausgeprägten Sinn für sich selbst hat, zugleich aber keine rationalen Erklärungen findet – da die Wissenschaft die Sinnfrage ausklammert –, fühlt der Mensch sich schließlich gespalten, aufgelöst.
Es scheint ein Paradox: Je mehr der Mensch dieses begrenzte Selbstverständnis hat, desto aufgeblähter ist sein Ego, desto ausgeprägter sein Individualismus.
Das ist kein Zufall, sondern das Vermächtnis der Moderne, jener Zentralität des Subjekts, von der niemand abweichen darf. Sie kann zwar von den Philosophen und Wissenschaftlern bestritten werden, aber im öffentlichen Dialog gilt sie als unantastbar.
Der Bericht beklagt ausdrücklich eine neutrale Haltung bei der Erziehung. Weshalb?
„Neutralität“ ist eigentlich gleichbedeutend mit einer Auflösung des Erziehungsvorschlags. Die Grundfragen werden erst gar nicht in Betracht gezogen. So weiß man schließlich überhaupt nicht, wozu man eigentlich erzogen werden soll. Es fehlt das Eigentliche der Erziehung.
Erzieht man also nicht mehr, weil man nicht mehr weiß wozu?
Das ist ein wesentlicher Grund. Man ist unsicher, „wozu“ man eigentlich erziehen soll. Wenn das innere Bewusstsein, dass man etwas Positives zu vermitteln hat, und zwar nicht nur etwas scheinbar Positives, fehlt, ist das erziehende Subjekt wie gelähmt.
Wo sehen Sie hier die Beziehung zwischen Erziehung und Hoffnung?
Hoffnung heißt Vertrauen, das auf Gott gründet. Dabei geht es um ein Grundvertrauen. Der Papst hat Recht, wenn er sagt, dass die Hoffnung der Grundfaktor für die Erziehung ist. Nur wer Hoffnung hat, kann auch Hoffnung geben.
Im Bericht schreiben Sie, dass wir „alle irgendwie Akteure des Erziehungsprozesses“ sind. Wo liegt der gemeinsame Nenner der Erziehungsaufgabe?
Der gemeinsame Nenner ist immer die Förderung der Person und ihrer Fähigkeit, als geliebtes Wesen seinerseits zu lieben, ihrer Neugierde, der Öffnung ihrer Intelligenz und Kritikfähigkeit, ihrer Freiheit, die es mit ihrer Verantwortung zu koppeln gilt, und auch ihrer Leidensfähigkeit. Das wird nie gesagt, ist aber wichtig, um eine Person heranwachsen zu lassen, welche die Schwierigkeiten des Lebens meistern kann.
Liegt in der Abdankung auch eine Scheu vor dem, was Don Giussani als „Wagnis“ bezeichnete, also vor der Auseinandersetzung mit der Freiheit des anderen?
Ja sicher. Heute möchte man das Wagnis gerne ausschalten. Das ist eine weit verbreitete Tendenz auch bei persönlichen Verhaltensweisen. Man heiratet nicht mehr, um das Wagnis zu vermeiden, dass die Ehe in die Brüche geht. Man setzt keine Kinder mehr in die Welt, um nicht nur die Schwangerschaft zu vermeiden, sondern auch allfällige spätere Enttäuschungen. Man geht kein unternehmerisches Risiko ein, weil es nicht sicher ist. Dieser Trend schwächt die Einzelnen und die Gesellschaft. Das Wagnis gehört zum Leben. Weil die Zukunft offen ist, können wir nicht beanspruchen, sie werde uns schlüsselfertig geliefert.
Welche Rolle spielt dabei die Schwächung der christlichen Erfahrung?
Die Schwächung des Gottvertrauens als Motor des konkreten Lebens spielt dabei eine wichtige Rolle. Schon vor vielen Jahren hat Habermas gesagt, dass der Verlust des Gottvertrauens und des Vertrauens auf die Gnade Gottes mittlerweile zur allgemeinen Erfahrung unserer Zeit geworden ist, und dass dieser Verlust den Horizont verändert habe, weil er ein unersetzlicher Verlust sei. Es gibt keine Ideologie, die an seine Stelle treten könnte, auch wenn das vielleicht schon versucht wurde.
Welchen Stellenwert haben Vorbilder in der Erziehung?
Das Vorbild ist am leichtesten verständlich und begeistert am meisten. In der Pädagogik war das schon immer so. Deshalb muss das Beispiel wiederentdeckt werden.
Im Bericht wird die Politik nicht zu den Erziehungsfeldern gezählt. Warum nicht?
Das stimmt nicht. Tatsächlich spielt die Politik in allen Lebensbereichen mit, weil sie subsidiär gesehen Leitfunktionen haben kann. Ich glaube nicht, dass die Politik den Prozess leiten soll, aber sie kann subsidiär wirken, indem sie die verschiedenen Subjekte fördert. In diesem Sinn ist die Politik im Bericht immer präsent. Allerdings nicht ausdrücklich, wenn Sie so wollen.
Wo liegt dann der Ausgangspunkt, um das Streben nach dem „Gemeinwohl“ wieder neu zu beleben? Und welche Aufgabe haben dabei die Katholiken?
Wir haben beschlossen, vom Bewusstsein der Schwierigkeiten auszugehen, aber auch von einer kulturellen Arbeit. Die Erziehung ist entscheidend, um sich seiner eigenen Verantwortung bewusst zu werden. Die Katholiken müssen Hoffnungsträger sein. Wenn sie wirklich gläubig sind, dann tragen sie Hoffnung in die Welt. Nicht nur die Erziehungsinstitutionen der Kirche, wie Schulen oder Oratorien, sondern alle Seelsorgenden – Pfarreien, Gruppen, Bewegungen, religiöse Gemeinschaften – haben als solche eine wichtige Bedeutung: Sie bilden Personen heran, geben ihnen Inhalte, Vorbilder, Orientierungsvorschläge für das Leben. Sie erziehen. Wenn es ernsthaft gemacht wird, geht es in die Tiefe. Es gibt noch einen weiteren Aspekt, den ich „die Gewissensdiakonie“ genannt habe. Das ist ein Bereich, der alle angeht, vorab die christlichen Laien, die mitten in der Welt leben – in den Familien, in der Arbeitswelt und in der Wirtschaft. Ein gewissenhaftes Leben färbt auf das Umfeld ab, fordert die anderen heraus, ebenfalls ihr eigenes Gewissen ernst zu nehmen. Das ist sehr wichtig, um das allgemeine gesellschaftliche Klima zu verbessern, auch wenn es im Verborgenen geschieht. Es ist eine Art Apostolat, eine engmaschige Mission, derer man sich noch nicht genügend bewusst ist.
Wie könnte man den Vorschlag in einem Satz zusammenfassen?
Die einzelne Person in den Mittelpunkt stellen; sie ist das eigentliche Ziel der Erziehung ist. Und Zusammenarbeiten, um die Menschlichkeit des Menschen ins Zentrum zu rücken – zum Wohle aller.