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Ansprache von Benedikt XVI.
„LECTIO DIVINA“ MIT DEN SEMINARISTEN
Benedikt XVI.

BESUCH IM PÄPSTLICHEN RÖMISCHEN PRIESTERSEMINAR ANLÄSSLICH DES FESTES DER GOTTESMUTTER VOM VERTRAUEN - Seminarkapelle; Freitag, 12. Februar 2010

Eminenz, Exzellenzen, liebe Freunde!
Jedes Jahr ist es für mich eine große Freude, mit den Seminaristen der Diözese Rom zusammen zu sein, mit den jungen Männern, die sich darauf vorbereiten, auf den Ruf des Herrn zu antworten, um Arbeiter in seinem Weinberg (...) zu sein. Der soeben verlesene Abschnitt aus dem Evangelium spricht indirekt aber eingehend über unser Sakrament, über unsere Berufung, im Weinberg des Herrn Diener seines Geheimnisses zu sein. (...)
Das erste Wort lautet: „Bleibt in mir, in meiner Liebe!“ Das Bleiben im Herrn ist das grundlegende, erste Thema dieses Abschnittes. Wo sollen wir bleiben? In der Liebe, in der Liebe Christi, im Geliebtsein und im Lieben des Herrn. Das gesamte 15. Kapitel konkretisiert den Ort unseres Bleibens (...): „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“ Der Weinstock (...) hat eine zweifache Bedeutung: es ist ein Gleichnis für das Volk Gottes, das sein Weinberg ist. Er hat in dieser Welt einen Weinstock gepflanzt, er hat diesen Weinstock gepflegt, er hat seinen Weinberg gepflegt, er hat diesen seinen Weinberg geschützt (...) mit der Absicht, Früchte zu finden, das kostbare Geschenk der Trauben, des guten Weins. Und so tritt die zweite Bedeutung hervor: Der Wein ist Symbol und Ausdruck der Freude über die Liebe. Der Herr hat sein Volk geschaffen, um die Antwort auf seine Liebe zu finden, und so hat dieses Bild vom Weinstock, vom Weinberg, eine bräutliche Bedeutung; es ist Ausdruck der Tatsache, dass Gott die Liebe seines Geschöpfes sucht (...).
Doch die konkrete Geschichte ist eine Geschichte der Untreue: Statt kostbare Trauben werden nur kleine „ungenießbare Dinge“ hervorgebracht. Es wird nicht auf diese große Liebe geantwortet, diese Einheit, diese bedingungslose Vereinigung zwischen Mensch und Gott (...). Gott jedoch gibt nicht auf: Gott findet eine neue Weise, um zu einer freien und unwiderruflichen Liebe zu gelangen (...): Gott wird Mensch, und so wird er selbst zur Wurzel des Weinstocks, er selbst wird zum Weinstock, und so wird der Weinstock unzerstörbar (...). Hier im 15. Kapitel haben wir die Rede über den Wein: Der Herr spricht nicht ausdrücklich von der Eucharistie, doch steht natürlich hinter dem Geheimnis des Weines die Wirklichkeit, dass er für uns zur Frucht und zum Wein geworden ist, dass sein Blut die Frucht der Liebe ist, die für immer aus der Erde hervorgeht, und dass in der Eucharistie sein Blut zu unserem Blut wird, dass wir neu werden, eine neue Identität empfangen, (...).
„Bleibt“: in diesem großen Geheimnis bleiben, in diesem neuen Geschenk des Herrn bleiben, der uns zum Volk in sich selbst gemacht hat, in seinem Leib und mit seinem Blut. Es scheint mir, dass wir viel über dieses große Geheimnis nachdenken müssen, das heißt, dass Gott selbst zum Leib wird, eins mit uns; Blut, eins mit uns; dass wir, indem wir in diesem Geheimnis bleiben, in der Gemeinschaft mit Gott selbst bleiben können, in dieser großen Liebesgeschichte, welche die Geschichte des wahren Glücks ist. (...).
WENN WIR IN DIESEM ABSCHNITT aus dem Evangelium des Johannes aufmerksam weiterlesen, so finden wir außerdem einen zweiten Imperativ: „Bleibt“ und „Haltet meine Gebote“. „Haltet meine Gebote“ ist nur die zweite Ebene; die erste ist die des „Bleibens“, die ontologische Ebene, das heißt: dass wir mit ihm vereint sind, der uns sich selbst im Vorhinein gegeben hat, der uns als Frucht seine Liebe gegeben hat. Nicht wir müssen die große Frucht hervorbringen; das Christentum ist kein Moralismus, nicht wir müssen das tun, was Gott sich von der Welt erwartet, sondern wir müssen vor allem in dieses ontologische Geheimnis eintreten: Gott gibt sich selbst. Sein Sein, sein Lieben geht unserem Handeln voraus, und im Kontext seines Leibes, im Kontext des Bei-ihm-Seins, des Einsseins mit ihm, geadelt durch sein Blut, können auch wir mit Christus handeln.
Die Ethik ist eine Folge des Seins: zuerst gibt uns der Herr ein neues Sein, das ist das große Geschenk; das Sein geht dem Handeln voraus, und diesem Sein folgt dann das Handeln, gleichsam eine organische Wirklichkeit, da wir das, was wir sind, auch in unserem Tun sein können. Und so danken wir dem Herrn, da er uns vom reinen Moralismus befreit hat; wir sollen keinem Gesetz gehorchen, das einfach vor uns steht, sondern wir müssen allein entsprechend unserer Identität handeln. (...).
Es folgt dann dieses neue Gebot: „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe.“ Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer „sein Leben für seine Freunde hingibt“. Was heißt das? Auch hier geht es um keinen Moralismus. (...) Es ist wahr, dass wir bis zu dieser Radikalität der Liebe vorstoßen müssen, die uns Christus gezeigt und geschenkt hat, aber auch hier besteht die wahre Neuheit nicht in dem, was wir tun, die wahre Neuheit ist das, was er getan hat: der Herr hat uns sich selbst gegeben, und der Herr hat uns die wahre Neuheit geschenkt, die darin besteht, Glieder seines Leibes, Reben des Weinstocks zu sein, der er ist. Die Neuheit also ist das Geschenk, das große Geschenk, und aus dem Geschenk, aus der Neuheit des Geschenks folgt auch, wie ich gesagt habe, das neue Handeln. (...)
SETZEN WIR UNSERE BETRACHTUNG FORT. Der Herr sagt: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.“ Keine Knechte mehr, die einem Befehl gehorchen, sondern Freunde, die im selben Willen, in derselben Liebe vereint sind. Die Neuheit besteht also darin, dass Gott sich zu erkennen gegeben hat, dass Gott sich gezeigt hat, dass Gott nicht mehr der unbekannte Gott ist, der zwar gesucht, aber nicht gefunden oder nur aus der Ferne erahnt wird. Gott hat sich sehen lassen: im Antlitz Christi sehen wir Gott, Gott hat sich zu „erkennen“ gegeben, und so hat er uns zu seinen Freunden gemacht. (...)
Vor kurzem hat mir ein Professor aus Regensburg geschrieben, ein Professor für Physik, der mit großer Verspätung meine Ansprache an der Universität Regensburg gelesen hatte, um mir zu sagen, dass er nicht mit meiner Logik einverstanden bzw. dies nur teilweise sein könne. Er hat gesagt: „Gewiss, mich überzeugt die Vorstellung, dass die rationale Struktur der Welt eine schöpferische Vernunft erfordert, die diese Vernünftigkeit geschaffen hat, die sich nicht aus sich selbst erklärt.“ Und er fuhr fort: „Wenn es aber auch einen Demiurgen geben kann“ – so drückt er sich aus –, „ein Demiurg scheint mir aus dem heraus, was Sie sagen, sicher zu sein, so sehe ich nicht, dass es einen Gott gibt, der Liebe ist, der gut, gerecht und barmherzig ist. Ich kann sehen, dass da eine Vernunft ist, die der Vernünftigkeit des Kosmos vorangeht, das Weitere jedoch nicht.“ Und so bleibt Gott verborgen. Er ist eine Vernunft, die unserer Vernunft, unserer Vernünftigkeit vorangeht, die Vernünftigkeit des Seins, aber es gibt keine ewige Liebe, keine große Barmherzigkeit, die uns leben lässt.
Und siehe da: In Christus hat sich Gott in seiner absoluten Wahrheit gezeigt, er hat gezeigt, dass er Vernunft und Liebe ist, dass die ewige Vernunft Liebe ist und auf diese Weise erschafft. Leider leben auch heute viele fern von Christus, sie kennen sein Antlitz nicht, und so erneuert sich fortwährend die ewige Versuchung des Dualismus (...), das heißt: dass es vielleicht nicht nur ein Prinzip des Guten, sondern auch ein Prinzip des Schlechten, ein Prinzip des Bösen gibt; dass die Welt geteilt ist und es zwei gleichstarke Wirklichkeiten gibt: und dass der gute Gott nur ein Teil der Wirklichkeit ist. Auch in der Theologie, einschließlich der katholischen, verbreitet sich im Moment diese These: Gott sei nicht allmächtig. Auf diese Weise wird eine Apologie Gottes gesucht, der demgemäß keine Verantwortung für das Böse trüge, das wir so weit verbreitet in der Welt finden. Aber wie arm ist doch eine derartige Apologie! Ein nicht allmächtiger Gott! (...) Wie könnten wir in seiner Liebe sicher sein, wenn diese Liebe dort endet, wo die Macht des Bösen beginnt?
Gott aber ist nicht mehr der Unbekannte. Im Antlitz des gekreuzigten Christus sehen wir Gott, wir sehen die wahre Allmacht, (...) in Christus (...) ist die wahre Allmacht das Lieben bis zu dem Punkt, an dem Gott leiden kann: hier zeigt sich seine wahre Allmacht, die bis zu einer Liebe gehen kann, die für uns leidet. Und so sehen wir, dass er der wahre Gott ist, und der wahre Gott, der Liebe ist, ist Macht: die Macht der Liebe. (...)
Ich denke: Wer dies begriffen hat, wer sich von diesem Geheimnis berühren lässt, dass Gott sich offenbart hat, dass der Vorhang des Tempels zerrissen ist, dass Gott sein Antlitz gezeigt hat – der findet eine Quelle unaufhörlicher Freude. (...) Und ich denke, dass diese Freude, Gott zu kennen, der sich gezeigt hat, der sich bis ins Innerste seines Seins gezeigt hat, auch die Freude einschließt, dies mitzuteilen. (...) Der Charakter der Mission ist nichts, was dem Glauben äußerlich hinzugefügt wäre, sondern die Dynamik des Glaubens selbst. Wer Jesus gesehen hat, wer ihm begegnet ist, muss zu den Freunden eilen und ihnen sagen: „Wir haben ihn gefunden, es ist Jesus, der für uns gekreuzigt worden ist.“ Der Text sagt dann weiter: „Ich habe euch dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt.“ Damit kehren wir zum Anfang zurück, zum Bild, zum Gleichnis des Weinstocks: er ist geschaffen, um Frucht zu bringen. Und was ist die Frucht? Wie wir gesagt haben, ist die Frucht die Liebe. Im Alten Testament mit der Thora als der ersten Etappe der Selbstoffenbarung Gottes verstand man die Frucht als Gerechtigkeit, das heißt als ein Leben nach dem Wort Gottes, als ein Leben im Willen Gottes, das deshalb gut ist.
DIES BLEIBT, GLEICHZEITIG ABER wird darüber hinausgegangen: Die wahre Gerechtigkeit besteht nicht in einem Gehorsam gegenüber einigen Vorschriften, sondern sie ist Liebe, schöpferische Liebe, die aus sich heraus den Reichtum, die Fülle des Guten findet. „Fülle“ ist eines der Schlüsselwörter des Neuen Testaments, Gott selbst gibt immer in Fülle. Um den Menschen zu schaffen, schafft er diese Fülle eines immensen Kosmos; um den Menschen von sich selbst zu erlösen, gibt er in der Eucharistie sich selbst. Und wer mit Christus vereint ist, wer Rebe des Weinstocks ist, lebt dieses Gesetz und fragt nicht: „Darf ich das noch tun oder nicht?“, „Soll ich das tun oder nicht?“, sondern er lebt in der Begeisterung der Liebe, die nicht fragt: „Ist das noch notwendig oder verboten?“, sondern er lebt einfach in der Kreativität der Liebe, er will mit Christus und für Christus leben und sich ganz für ihn hingeben (...).
Und schließlich sind wir beim letzten Wort dieses Abschnittes angekommen: „Das sage ich euch: der Vater wird euch alles geben, um was ihr ihn in meinem Namen bittet“ (...). Und wir möchten sagen: „Aber nein doch, Herr, das ist nicht wahr.“ So viele gute und tiefe Gebete von Müttern, die für ein im Sterben liegendes Kind beten und nicht erhört werden, so viele Gebete, dass etwas Gutes geschehe, und der Herr erhört sie nicht. Was will diese Verheißung besagen? Im 16. Kapitel bietet uns der Herr den Schlüssel zum Verständnis: er sagt uns, wie viel er uns gibt, worin dieses „alles“, die chará, die Freude besteht: Wenn einer die Freude gefunden hat, hat er alles gefunden und sieht alles im Licht der göttlichen Liebe. (...) Es ist nützlich, sich gleichzeitig auch einige Verse aus dem Evangelium des Lukas in Erinnerung zu rufen, wo der Herr in einem Gleichnis vom Gebet spricht und sagt: „Wenn nun schon ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gebt, was gut ist, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist euch, seinen Kindern, geben.“ Im Evangelium des Lukas ist der Heilige Geist Freude, im Evangelium des Johannes ist er die Wirklichkeit selbst: die Freude ist der Heilige Geist, und der Heilige Geist ist die Freude, oder mit anderen Worten: von Gott erbitten wir nicht irgendetwas Großes oder Kleines, Gott bitten wir um das göttliche Geschenk, um Gott selbst; das ist das große Geschenk, das Gott uns gibt: Gott selbst. In diesem Sinn müssen wir lernen zu beten, zu beten um die große Wirklichkeit, um die göttliche Wirklichkeit, dass er sich uns selbst gebe, dass er seinen Geist gebe und wir so den Anforderungen des Lebens entsprechen und den anderen in ihren Leiden helfen können. (...) So wird das Beten in den Augen Gottes ein Prozess der Reinigung unserer Gedanken, unserer Wünsche. Wie der Herr im Gleichnis vom Weinstock sagt: Wir müssen beschnitten, gereinigt werden, jeden Tag; mit Christus leben, in Christus bleiben ist ein Prozess der Reinigung, und nur in diesem Prozess langsamer Läuterung, der Befreiung von uns selbst und vom Willen, allein uns selbst zu haben, besteht der wahre Weg des Lebens, öffnet sich der Weg der Freude.
WIE ICH ANGEDEUTET HABE, besitzen all diese Worte des Herrn einen sakramentalen Hintergrund. Der fundamentale Hintergrund für das Gleichnis vom Weinstock ist die Taufe: wir sind in Christus eingepflanzt; und die Eucharistie: wir sind ein Brot, ein Leib, ein Blut, ein Leben mit Christus. Und so hat auch dieser Prozess der Reinigung einen sakramentalen Hintergrund: das Sakrament der Buße, der Versöhnung, in dem wir diese göttliche Pädagogik annehmen, die uns Tag um Tag das ganze Leben lang reinigt und uns zu immer wahreren Gliedern seines Leibes macht. Auf diese Weise können wir lernen, dass Gott auf unsere Gebete antwortet, dass er oft mit seiner Güte auch auf die kleinen Gebete antwortet, sie aber auch oft berichtigt, verwandelt und führt, damit wir endlich und wirklich Reben seines Sohnes, des wahren Weinstocks, sein können, Glieder seines Leibes.
Danken wir Gott für die Größe seiner Liebe, bitten wir, dass er uns helfe, in seiner Liebe zu wachsen, wirklich in seiner Liebe zu bleiben.

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