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Heilige in der Familie - Hl. Rita aus Cascia
Man kann sie um alles bitten
Paola Bergamini

Rita hatte das Haus fast aufgeräumt, als sie Schreie aus der Straße hört. Sie lehnt sich aus dem Fenster und sieht drei Männer im Streit. Dann blitzt eine Klinge auf und einer von ihnen sinkt zu Boden. Rita kann ihren Schrei nicht unterdrücken. Der bewaffnete Mann dreht sich, ihre Blicke kreuzen sich eine Minute lang, dann flüchtet er. Die Frau läuft die Treppe herunter: Der Mann auf dem Boden in einer Blutlache ist ihr Mann Paolo. Sie kniet sich hin und nimmt sein Gesicht in ihre Hände. Für ihn gibt es keine Hoffnung mehr. Sie schließt seine Augen und zieht ihm das blutige Hemd aus. Sie entsinnt sich der Worte eines Wanderpredigers in Cascia: „Durch das Leiden Christi vereinen sich alle eure Klagen mit Gott: Frieden, Frieden! Erbarmen! Im Zeichen des Friedens: küsst euch, umarmt euch, verzeiht euch gegenseitig.“ Verzeihen, einzig und allein für Christus. Rita denkt an ihre zwei Söhne und die Familie ihres Mannes. Sie werden nicht vergeben, sie werden sich rächen. Aus diesem Grund hat sie auch das blutverschmierte Hemd verborgen. Sie hofft, dass niemand erfährt, dass es ein Mord war. Sie weiß aber auch, dass es nutzlos ist. 18 Jahre hat sie mit ihrem Mann zusammen verbracht.
Sie kam im Dorf Roccaporena rund fünf Kilometer vor den Toren Cascias zur Welt. Paolo di Ferdinando Di Mancino, ein gut aussehender junger Mann mit stürmischem Temperament, kam hingegen aus dem umbrischen Provinzstädtchen Cascia. Aber wer konnte in dieser Zeit zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert hier anders als hitzig sein? Familienfehden, private und politische Racheakte waren an der Tagesordnung. Ritas Eltern wussten das allzu gut: Sie hatten die Aufgabe der „Friedensstifter“ übernommen. Oft hatte das junge Mädchen ihre Eltern auf ihren Friedensmissionen begleitet, um Streitigkeiten zu schlichten und Hass beizulegen. Neben Familienkonflikten war die politische Lage zwischen den Befürwortern des Papstes, den Guelfen, und seinen Gegnern, den Ghibellinen, sehr gespannt. Die einzige Oase des Friedens in der Stadt waren die drei Augustinergemeinschaften: eine männliche und zwei weibliche. Im Kloster hatten viele heilige Mönche gewohnt. Mehr noch, die Stadt konnte sich rühmen, durch die Orden ein religiöses und kulturelles Bildungszentrum zu sein. Rita verbrachte dort ihre Schulzeit und wurde von der geistlichen Atmosphäre geprägt. Dies half ihr auch, in den 18 Ehejahren, den Charakter ihres Mannes zu ertragen und ihn zu besänftigen.

Der Mord wird in kürzester Zeit allgemein bekannt. Die Familie Di Mancino erpresst sie, um den Namen der Mörder herauszubekommen. Aber Rita wünscht sich keinen Hass und keinen Racheakt. Sie hat dem Mörder schon verziehen. So betet sie für ihre Söhne, dass sie nicht dem Strudel der Gewalt verfallen, und ihre Seelen gerettet werden. Gott erhört sie. Die zwei Jungen sterben an einer ungeklärten Krankheit.
Rita will ihr Leben nun vollkommen Gott widmen und bittet um Aufnahme ins Kloster der Augustinerinnen Santa Maria Maddalena, in Cascia. Doch die Oberin weist die Witwe eines Ermordeten zurück. Sie fürchtet um die Sicherheit des Klosters im Falle von Racheakten. Zudem ist eine der Nonnen mit den Di Mancinos verwandt. Was also tun? Rita betet ihre Schutzheiligen, den heiligen Augustinus, den heiligen Nikolaus von Tolentino und den heiligen Johannes den Täufer um Beistand und verzeiht den Mord in aller Öffentlichkeit. So kommt es zum ersten Wunder: Der Hass legt sich und die sonst übliche Rache bleibt aus. So kann sie 1407 mit 36 Jahren in das Kloster eintreten. Nach drei Jahren Noviziat folgt die ewige Profess. Rita führt ein demütiges Leben in Gebet und Buße und sie hilft den Bedürftigen. Sie wird für alle ein Beispiel, sowohl im Kloster als auch außerhalb. Sie tut alles für ihren Geliebten: Christus. Sie betet darum, an Seinem Leiden teilzuhaben zu dürfen. Am Karfreitag 1432 löst sich ein Dorn aus der Dornenkrone des Gekreuzigten, vor dem sie betet, und bohrt sich in ihre Stirn. Die Wunde heilt nicht. Rita akzeptiert das Geschenk mit Demut, spricht nicht davon und verlässt das Kloster nicht mehr. Die Nachricht macht aber bald die Runde der Stadt: Rita, die Frau der Verzeihung und Versöhnung, hat ein Liebespfand vom Christus erhalten.
Zur Heiligsprechung des heiligen Nikolaus von Tolentino 1446 wollen die Nonnen nach Rom wallfahren. Auch Rita möchte teilnehmen. Sie ist aber wegen der eitrigen Wunde unerwünscht. Daraufhin fragt sie nach einer Wundsalbe. Als sie diese aufträgt heilt die Wunde unmittelbar. Bei ihrer Rückkehr bricht sie erneut auf.
Rita ist nach der Reise müde und ermattet. Sie verbringt fast den ganzen Tag im Gebet in ihrer Zelle. Als eine Verwandte zu Besuch kommt und Rita fragt, ob sie etwas wolle, antworte diese: «Eine Rose und zwei Feigen aus meinem Gemüsegarten.» Die Frau sagt zu, denkt aber, Rita sei inzwischen verwirrt, denn es ist Winter und alles ist schneebedeckt. Bei ihrer Rückkehr geht die Verwandte dennoch durch den Gemüsegarten und bleibt verblüfft stehen: Eine wunderbare Rose blüht auf einem Zweig und am Feigenbaum hängen zwei reife Früchte.
Im folgenden Frühling, 1447, stirbt Rita in der Nacht auf den 22. Mai. Als die Sterbeglocken läuten eilen die Bewohner von Cascia herbei, um die heilige Schwester zu verehren. Ihr Leichnam wird aber nicht beerdigt, sondern zunächst in einem Oratorium des Klosters aufgebahrt, damit alle für sie beten und sie um ihre Fürbitte anrufen können.
Der Notar Domenico Angeli berichtet in einer offiziellen Urkunde 1457, also zehn Jahre nach ihrem Hinscheiden, bereits von der langen Liste erhaltener Gnadenakte. Elf waren es schon im ersten Jahr. „Eine sehr ehrwürdige Frau, eine Nonne namens Rita, die 40 Jahre im Kloster der vorgenannten Kirche Santa Maddalena in Cascia verbrachte und in Barmherzigkeit im Dienste Gottes lebte, folgte am Ende dem Schicksal jedes Menschen. Und Gott, da Er den Gläubigern ein Lebensvorbild zeigen wollte, tat viele Wunder mit seiner Macht und aufgrund der Verdienste der seligen Rita“, so der Notar. In diesem Jahr wird ihre Leiche in einen Sarg gelegt, der mit Gemälden über ihr Leben und einer Inschrift geschmückt ist. Das Volk wollte sie auf diese Art und Weise ehren und ihr für alle Wundertaten danken.
Das sind die einzigen Dokumente, neben der Notarurkunde, die über sie erhalten sind. Niemand dachte damals an eine Biografie oder eine Schriftensammlung. Das Volk betet um ihren Beistand, bekehrte sich und erzählte ihre Lebensgeschichte, die sich so bis heute in die volkstümliche Tradition einprägte. Das Beeindruckend an dieser Heiligen ist ihre große Liebe zu Christus. Daher kann man sie um alles bitten, sogar um das Unmögliche. Das größte Wunder für die Pilger in Cascia ist aber die Bekehrung.