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Aufmacher
Schön ist der Weg für den, der unterwegs ist
Julián Carrón

Zusammenfassung eines Treffens der Verantwortlichen Italiens. Riva del Garda, 24. Januar 2010

„Schön ist der Weg für den, der unterwegs ist.“ Diese Neuheit hat das Geheimnis in die Geschichte einführt: Es macht den Weg schön für den, der unterwegs ist. „Schön ist der Weg für den, der voranschreitet.“ Dies bewahrheitet sich auf beeindruckende Weise. Für den, der unterwegs ist, wird das Leben zu einem schönen Weg, zu einer faszinierenden Reise, zu einem Abenteuer, das immer mehr begeistert. Für den aber, der sich nicht auf den Weg macht, wird das Leben schwerer. In Claudio Chieffos Lied L’uomo cattivo (dt. „Der böse Mensch“, in Libro dei canti, Jaca Book, Mailand 1976, S. 291) heißt es: „Als er morgens aufstand, störte ihn alles, vom Licht bis hin zum Milchkaffee.“ Die gleichen Bestandteile des Lebens stellen für den einen ein Ärgernis und für den anderen eine Schönheit dar.
Woher kommt diese Schönheit? Was macht den Weg schön? „I wonder as I wander out under the sky“ (I Wonder, in Lieder, S. 257): „Ich muss darüber staunen, / wie ich so unter dem freien Himmel meiner Wege gehe, / dass Jesus, der Erlöser, / gekommen sein soll, / um für so arme und hungrige Leute / wie dich und mich zu sterben.“ Wer nach der Begegnung mit Ihm von diesem Staunen erfüllt ist, in dem weckt alles die Sehnsucht nach Ihm. „Gelb sind alle Felder, / und ich sehne mich nach dir“ (Claudio Chieffo, La strada). Der Weg wird schön, weil nach der Begegnung mit Ihm wirklich alles die Sehnsucht nach Ihm erweckt – nach Dir, o Christus –, und je mehr wir vorangehen (wenn das Leben ernst wird, wenn die Felder gelb werden), desto mehr wächst diese Sehnsucht.
Diese Neuheit hat Christus, das Fleisch gewordene Geheimnis, das für den Menschen zur Gegenwart wurde, als Möglichkeit in die historische Situation eingeführt. In die damalige wirre Zeit des Zusammenbruchs; aber ebenso in die heutige Zeit − für einen jeden von uns. In unserer gestrigen Versammlung wurde berichtet, dass die Lehrer von heute nicht mehr Jugendlichen gegenüber stehen, bei denen man Kleinigkeiten korrigieren oder in Ordnung bringen müsste. Die Menschheit, die wir heute vor uns haben, ist immer konfuser, kaputter, zerstörter. Doch je mehr man sich dessen bewusst ist, desto mehr staunt man darüber, dass jemand sich deiner und meiner erbarmt hat, so wie wir sind, mit all unserer Menschlichkeit, vor jeglicher anderen Überlegung. Fragen wir uns also: sind die menschlichen Zeichen in unserer Umgebung – das Unbehagen, die Unzufriedenheit, die Traurigkeit, die Langeweile, oder gar der Zusammenbruch – ein Hindernis? Die Tatsache, dass wir nicht mehr den Jugendlichen mit Gütesiegel vor uns haben, oder die Person mit Gütesiegel, oder dass wir selbst kein Gütesiegel mehr haben wie früher − ist das ein Hindernis, oder ermöglicht dies, erneut darüber zu staunen, dass Einer gekommen ist, der sich meiner und deiner erbarmt hat und erbarmt? Nochmals: sind diese menschlichen Zeichen die Symptome einer Krankheit oder die Symptome einer strukturellen Unverhältnismäßigkeit, einer Erwartung des Einzigen, der das Ich wieder in Ordnung bringen kann – nicht im Sinne, alles gerade zu biegen, sondern es aus dieser Situation neu hervorgehen zu lassen? Wir sind an einem Endpunkt angekommen. Das sehen wir bei vielen unserer Gesten und bei vielen der Personen, denen wir begegnen. Weder uns noch der Kirche dient eine Verkürzung des Christentums auf eine Ethik. In der Lage, in der wir uns befinden und zu leben haben, wir und die anderen, kann sich nur Christus ereignen. Das heißt, wir brauchen etwas anderes, etwas Größeres als das, was wir selbst mit all unseren Bemühungen zustande bringen.
Der Wert der Situation, in der wir uns befinden, besteht darin, uns deutlich zu zeigen, dass wir es uns nicht mehr erlauben können, das Christentum und seine Natur zu verkürzen. Entweder ereignet sich das Christentum, für uns und für die anderen, oder wir halten nicht stand. Und wenn wir nicht standhalten, dann ist der Glaube nicht vernünftig und wir haben keine angemessenen Gründe zu glauben. Es ist beeindruckend, wie in dieser Situation – wie die gestrige Versammlung gezeigt hat – zum Vorschein kommt, wer in diesen Jahren einen Weg zurückgelegt hat, weil Christus sich ereignet hat und fortwährend ereignet.
Die Gnade ereignet sich. Woran sieht man das? Um hierauf zu antworten, gehe ich von dem aus, was ihr gesagt habt. Jemand von euch hat das sehr gut beschrieben: „In mir hat sich eine völlige Umkehrung in der Art des Schauens vollzogen.“ Woran sieht man, dass jemand einen Weg zurücklegt? Woran sieht man, dass sich die Gnade Christi ereignet? An der Tatsache, dass jemand sagen kann: Vorher war ich so und jetzt bin ich anders; früher versuchte ich, die Ereignisse in ein vorgefertigtes „Schema“ zu pressen, heute ist es „die Überraschung eines neuen Bewusstseins“. Ein Ereignis hat das Schema gesprengt und eine Neuheit eingeführt. Wenn jemand sich vom Ereignis und von der Gnade, die sich ereignet, ergreifen lässt, kommt eine Neuheit ins Spiel. Die Gnade, das Ereignis und die Bereitschaft unserer Freiheit, es aufzunehmen, sieht man daran, dass das Schema gesprengt wird: Wenn wir das Ereignis aufnehmen und zulassen, öffnet es uns und lässt uns wieder atmen. Wer einen Weg zurücklegt, wer sich ergreifen lässt, der kann daher eine Erfahrung beschreiben (nicht ‚Überlegungen‘, sondern eine Erfahrung): Ich war dort, mir ist dies passiert, es hat sich etwas ereignet, und jetzt bin ich hier, an einem anderen Punkt, und sehe, wie sich eine Neuheit ereignet. Dass ich die Erfahrung von etwas anderem mache, sieht man daran, dass sich eine neue Art der Erkenntnis vollzieht. Wenn ich eine vorausgegangene Situation richtig beurteilen kann, so liegt das am Licht, das die Gegenwart erhellt, und an der Tatsache, dass ich wieder atmen kann, angesichts des Geschehenen überrascht und erstaunt bin und mir darüber klar werde, dass ich zuvor die Dinge in ein Schema gepresst habe. Die Neuheit dessen, was geschieht, führt ein neues Urteil ein; und dass es eine Erfahrung ist, sieht man daran, dass die Person wächst. Was ist der Unterschied zu vorher? Es verschwindet nicht mehr alles, sobald der erste sentimentale Eindruck vorüber ist. Es geht um eine Neuheit, die bleibt und den Alltag durchdringt: „eine völlige Umkehrung in der Art des Schauens“.
Wenn viele von euch dies gestern bezeugen konnten, so deshalb, weil sich etwas ereignet, weil sich die Gnade ereignet, ansonsten hättet ihr es nicht sagen können.
Und dann – das ist das zweite Zeichen – „entsteht eine überraschende Freundschaft“, wie ihr gesagt habt. Man trifft sich, nicht weil es nötig wäre oder aus organisatorischen Gründen, sondern „um das, was sich ereignet, nicht zu verlieren“, das heißt um des Gedächtnisses willen, „um der Beziehung mit Christus auf den Grund zu gehen“. Als ich eure Zeugnisse hierüber hörte, dachte ich sofort daran, welch ein Gut und welch eine Gnade für uns alle das ist, was in Lateinamerika geschieht. Dort haben sich einige von der Gnade, die sich ereignet, mitreißen lassen. Sie sind in ihrer Menschlichkeit so bedürftig und verletzt, dass sie sich haben mitreißen lassen. Ohne dass irgendjemand sie darauf hingewiesen hätte, sind Cleuza und Marcos nach ihrer Rückkehr von der Internationalen Versammlung im August zu Padre Aldo gereist, um gemeinsam auf das zu schauen, was sich ereignet hat. Und Padre Aldo ist umgekehrt zu ihnen gereist, weil er das vertiefen wollte, was mit ihnen geschehen war; und Julián de la Morena folgt ihnen nach, weil er voller Staunen ist angesichts dessen, was sich ereignet.

Wie können wir verstehen, ob die Gnade sich ereignet oder nicht? Worauf schauen wir, wenn wir von der Bewegung sprechen? Die Bewegung ist eine, sie ist international. Das, was sich an einem bestimmten Ort der Welt ereignet (und was ich immer häufiger direkt beobachten kann), ist für die ganze Bewegung. Wenn ich unsere Freunde in den USA sehe, die an einem wunderschönen gemeinsamen Gestus teilnehmen, sich danach aber nicht gegenseitig suchen, nicht das Bedürfnis verspüren, sich anzurufen, dann sage ich: Auch dort geschieht etwas, aber es ist noch nicht das, was in Lateinamerika geschehen ist. Es geht nicht darum, dass man mechanisch etwas reproduzieren müsste. Man kommt einfach nicht umhin zu sagen: Wenn sich in Lateinamerika das ereignen konnte, was sich ereignet hat, dann deshalb, weil das christliche Ereignis dort auf eine Menschlichkeit trifft, die es aufnimmt. Dort, wo es aufgenommen wird, bewahrheitet sich in der Tat das, was ihr gesagt habt: „eine völlige Umkehrung in der Art des Schauens“ (das heißt das vorgefertigte Schema wird gesprengt) und die Freundschaft als die Überraschung, sich auf einem gemeinsamen Weg wiederzufinden. Ich finde keine besseren Worte, um das zu beschreiben, was ich sehe – und was man nicht als organisatorisches Ergebnis reproduzieren kann –, und gleichzeitig das, was fehlt. Durch die Neuheit, die ich beschrieben habe, wurde unsere gesamte Gemeinschaft in Lateinamerika aufgerüttelt. So haben – ohne dass sie jemand dazu aufgefordert hätte – Argentinier, Paraguayaner und Brasilianer darauf gedrängt, gemeinsam Ferien zu machen: wegen des Geschmacks daran, zusammen zu sein und diese Neuheit zu teilen und nicht zu verlieren.

Dasselbe geschieht bei vielen von euch, wie ihr gestern bezeugt habt. Ich wiederhole nur einige der Aussagen, die diese Neuheit belegen. „Ich bin dabei, das Augenlicht wiederzugewinnen, meine Beziehung zur Wirklichkeit, meine Menschlichkeit“, sagte einer von euch. Woran erkennt man, dass jemand eine Erfahrung macht? An der Tatsache, dass das Ich wächst. „Ich gewinne meine Menschlichkeit wieder“. Mit anderen Worten, ich klebe nicht einen Text auf meine alte Menschlichkeit, ich bleibe nicht in einem Schema, dem ich lediglich etwas hinzufüge, ich setze nicht ein Etikett auf ein bereits vollkommen etabliertes Ich. Die Gnade Seiner Gegenwart erfasst meine Bedürftigkeit, meine Einsamkeit so sehr, dass sie meine Wahrnehmung meiner selbst bestimmt und formt. Wenn dem nicht so wäre, würde das bedeuten, dass das Christentum nicht fähig ist, zum Kern der Sache vorzudringen, dass letztlich alles beim Alten bliebe und wir auf einen Skeptizismus zulaufen würden: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne!“

Das ist also die Herausforderung: geschieht etwas Neues unter der Sonne, oder geschieht es nicht? Jeder kann sich entscheiden, wie er zu dem steht, was sich ereignet, was wir gestern gesehen haben, was ich euch aus Afrika, London, Lateinamerika und den USA erzähle. Ich könnte euch noch endlos weiter Tatsachen berichten, welche die gleichzeitige Gegenwart Christi unter uns belegen, dieses Ereignisses ohne Grenzen, das nur darauf wartet, auf eine Menschlichkeit zu stoßen, die zum Staunen fähig ist. Denn gegenüber dem, was sich ereignet, bedarf es einer offenen Wunde. Nur durch diese kann die Gnade eintreten, die Gnade, die sich ereignet. Denn die Gnade hat in der Begegnung ein Antlitz angenommen, ein Gesicht gewonnen, sie ist nicht etwas „Spirituelles“, sondern das Ereignis, das durch etwas Wirkliches hindurch stattgefunden hat.

Ihr habt gesagt: „Es ist zu einer Veränderung des Ichs gekommen, zu einem neuen Blick auf alles“. „Mein Blick auf meinen Bruder hat sich verändert.“ Dass das Ereignis geschieht, sieht man daran, dass es uns neu auf das Geheimnis hin öffnet, uns zum religiösen Sinn erzieht, uns atmen lässt, das Schema sprengt. Wir können die Bewegung leben, indem wir versuchen, sie in das Schema einzubauen („Jetzt sage ich, was zu tun ist“), oder uns von dem gerade stattfindenden Ereignis mitreißen lassen. Hinter der nächsten Straßenecke lauert immer die Gefahr zu sagen: „Ich habe verstanden“ und ein Etikett auf das zu kleben, was sich gerade ereignet, es in das Schema einzubauen. Wenn das Christentum kein Ich findet, das sich mitreißen lässt, dann kann es nicht seine ganze Fähigkeit zeigen, uns zu verändern. Uns zu verändern und unsere Hoffnung zu neuer Blüte zu führen, so dass wir frei atmen können und der Weg schön wird.

Wie kann das geschehen? Wenn ein jeder von uns sich ergreifen lässt, wenn unsere Freiheit sich ansprechen lässt. Nichts geht automatisch. „Wir müssen uns vom Geheimnis genau so ergreifen lassen, wie es sich ereignet“, sagte einer von euch – wobei es dafür eines Urteils bedarf – und er fügte hinzu: „Der springende Punkt besteht darin, die Methode nicht zu ändern.“ Was bedeutet es, die Methode nicht zu ändern? „Dem nachzugehen, was sich ereignet“, der Gnade zu folgen, die sich ereignet, die für dich und für mich ist. Die ganze Frage des Weges dieser Jahre liegt hierin: Ob wir uns haben mitreißen lassen von dem, was geschah. Alles liegt im Unterschied zwischen demjenigen, der sich von dem anrühren ließ, was sich gerade ereignete, egal an welcher Stelle des Weges, und demjenigen, der Widerstand leistete oder leistet, der sich entzieht, der das Geschehen in das Schema einzufügen sucht. Aber das Christentum passt nicht in das Schema: „neuen Wein in neue Schläuche“, man kann es nicht in unsere Schemen einfügen. Dieser Versuch ist zum Scheitern verurteilt. Wenn jemand auf das Ereignis Seiner Gegenwart stößt und sich anrühren lässt, dann verändert er sich, wird seinerseits Ereignis und kann in kein Schema mehr gepresst werden. Es gibt immer mehr Leute unter uns, die in kein Schema mehr passen. Das Christentum ist ein Ereignis, dem wir Widerstand leisten können, das wir aber nicht unter Kontrolle halten können. Es ist unvorhersehbar, unbeugsam. Wenn das Christentum sich ereignet, dann findet der Mensch immer mehr Gründe, denn er macht die Erfahrung der Antwort auf seine menschliche Not. Denn allein das Geheimnis als vertraute Gegenwart in der Geschichte kann wirklich auf unsere Menschlichkeit antworten. Ohne diese Gegenwart könnte niemand auf Dauer er selbst bleiben, ohne mitzuerleben, wie sich sein eigenes menschliches Antlitz zersetzt. „Allein das Göttliche vermag den Menschen zu ‚retten‘, das heißt: die wahren und wesentlichen Dimensionen der menschlichen Gestalt und ihrer Bestimmung“ (Luigi Giussani, Am Ursprung des christlichen Anspruchs, Grundkurs Christliche Erfahrung, Paderborn 2004). Wie erzieht uns das Göttliche dazu? Durch eine geschichtliche Gegenwart. Wir reden nicht von irgendwelchen „Visionen“, wir reden von Personen in der Geschichte (für die ich Zeuge bin, nach all dem, was ich um mich herum sehe), durch die sich Seine Gegenwart ereignet. Es ist überhaupt nicht notwendig, den Menschen erst in Ordnung zu bringen, um dann in die Beziehung zu Seiner Gegenwart einzutreten, denn der Mensch kann nicht wirklich in Ordnung gebracht werden, wenn nicht das christliche Ereignis geschieht.

Genau hier beweist Christus, wer er wirklich ist. Nur das Göttliche kann die wesentlichen Dimensionen des Menschen retten. Das überzeugendste Zeichen, dass Christus Gott ist, das größte Wunder, ist daher jener Blick, der das ganze Ich wieder aufrichtete. Die einzige Frage ist, ob dieser Blick da ist, ob dieser Blick in der Geschichte verbleibt – in der Art und Weise, die Menschlichkeit zu behandeln, auf den Bruder zu schauen, auf die jungen Menschen, auf uns selbst. Ob unsere Menschlichkeit von diesem Blick erreicht und umarmt wird. Das Zeichen, dass dieser Blick jetzt in unserem Leben gegenwärtig ist, besteht darin, dass in uns dasselbe geschieht, was in den ersten geschah, die ihm begegneten. Ihr so umarmtes Leben erwachte in jenem Augenblick in seiner ganzen ursprünglichen Tiefe, in seiner ursprünglichen Offenheit, das heißt in seinem ganzen religiösen Sinn, in seiner ganzen Geheimnishaftigkeit. Dass dieser Blick uns jetzt erreicht, sieht man daran, dass eine Zuneigung zu uns selbst wieder aufblüht, die anderenfalls unmöglich wäre. Denn „meine Liebe zu mir ist nicht von Dauer, ohne dass Christus eine Gegenwart ist, wie die der Mutter für das Kind. Ohne dass Christus jetzt gegenwärtig ist – jetzt! – kann ich in diesem Augenblick weder dich noch mich selbst lieben“ (L. Giussani, Qui e ora. 1984–1985, Bur, Mailand 2009, S. 77). Das ist also das machtvollste Zeichen, dass das Charisma echt ist: ein Blick wie jener, dem wir in Don Giussani auf der Spur waren, ist das Zeichen des Göttlichen, das Zeichen der gleichzeitigen Gegenwart Christi, insofern er eine Zuneigung zu einem selbst ermöglicht hat, die ansonsten unmöglich wäre.

Allein weil Christus alles Menschliche in mir wieder erweckt, kann ich Seine Gegenwart erkennen. Damit können wir den Satz von Dostojewski umkehren: Das Problem ist nicht, ob ein gebildeter Mensch unserer Zeit an die Gottheit Jesu Christi glauben kann, sondern dass ohne einen gebildeten Menschen, das heißt ohne einen Menschen, der all seine Vernunft und all sein Vermögen der Freiheit einsetzt, kein echter Glaube möglich ist. Man kann dann nicht vernünftig Christus bejahen, es sei denn als Zusatz zum Schema, als Sahnehäubchen auf einem bereits vollkommen etablierten Ich. Um wirklich an Jesus Christus zu glauben, um die Möglichkeit einer Neuheit dieses Kalibers zuzulassen, bedarf es der ganzen Freiheit und der ganzen Vernunft, bedarf es eines gebildeten Menschen in diesem Sinne. Anderenfalls kann man nicht mit einer Fülle an Menschlichkeit glauben.


Hier ist also die Herausforderung, die vor uns allen liegt: bin ich verfügbar für die Gnade, mit der Christus heute mein Leben ruft, für den Blick, mit dem Christus heute mein Leben umarmt? Nur in dieser Verfügbarkeit kann man schöpferisch sein. Gestern wurde daran erinnert, dass nur der erneut schöpferisch sein kann, der sich neu schaffen lässt, das heißt wer seine Bedürftigkeit anerkennt nach einem Ort, wo er ständig neu geschaffen wird. Wer diese Armut hat, wird schöpferisch. Die wahre Entscheidung – und damit trete ich in den neuen Abschnitt des Seminartextes über die Liebe ein – ist die, ob ich mich heute umarmen lasse. Die ganze Dramatik des Lebens besteht in der Entscheidung, ob ich Widerstand leiste oder mich heute von Christus umarmen lasse. Nicht wir führen den ersten Akt der Liebe aus. Wir sind nicht imstande, uns selbst ungeschuldet hinzugeben, wenn wir nicht mitgerissen sind, wenn wir nicht bereit sind, die Liebe des Geheimnisses anzunehmen, die Liebe Christi, die auf unterschiedlichste Weise zu uns kommt. Jemand von euch sagte gestern mit Blick auf seine Frau: „Du bist die Liebe Christi für mich“, oder Pater Aldo: „Mein Werk und mein ganzes Leben erwächst aus Einem, der mich ohne Erwartung einer Rückzahlung geliebt hat.“ Die wahre Entscheidung, die einzige Entscheidung – alles Übrige sind Folgerungen daraus – besteht darin, ob ich verfügbar bin, mich in der Art und Weise umarmen zu lassen, in der Christus mich heute umarmt.
Das Leben ist einfach, wenn diese Einfachheit in uns ist. Wir müssen stets um diese Einfachheit betteln, um uns von Christus neu schaffen zu lassen. Denn was ich neu schaffen kann, ist nichts als der Überfluss dessen, was ich erhalte. Ich wünsche mir, dass die Arbeit über das neue Kapitel des Seminartextes uns hilft, in der Tiefe zu verstehen, worin der Ursprung des ganzen Glaubensweges liegt. Christus hat die ersten beiden Jünger in Staunen versetzt, weil das Herz Seiner Gegenwart die Liebe ist. Der innerste Kern der Gegenwart, die der Glaube anerkennt, ist die Liebe. Sie hatten zumindest eine Ahnung von jener guten Gegenwart voll Leidenschaft für ihr Leben. Die Liebe ist das Innerste der Gegenwart, die der Glaube anerkennt. Wenn nicht die Liebe Christi gegenüber einem jeden von uns vor allem anderen kommt, gibt es kein Christentum. Nicht nur am Anfang, sondern in jedem Schritt des Weges gibt es etwas, was vor jeder Regung unsererseits kommt: etwas, das uns vorausgeht. Das Leben wandelt und vollendet sich nur, wenn wir verfügbar sind für dieses „etwas, das vorher kommt“, das Er neu schafft, das nicht wir sind, das Er ist und das den Anspruch hat, für alle Zeit bei uns zu sein, bis ans Ende der Welt. Er ist es, der es stets neu schafft und uns entgegen kommt. Die einzige Frage für uns lautet: Bin ich bereit? „Liebst du mich?“