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Editorial
Der Rote Faden


Welch große Freiheit empfindet man, wenn man entdeckt, dass das Leben eine Einheit ist. Denn dann können wir leben, ohne dass sich in unserem Alltag zunächst Risse und dann Brüche zwischen dem auftun, was wir wünschen und erhoffen, und den Umständen, in denen wir leben. Glaube und Wirklichkeit. Das Leben kann eins sein. Und genau das ersehnen wir am meisten. Wer dem Weg folgt, den Don Giussani in Kann man so leben? aufzeigt − wie es tausende von Mitgliedern von CL oder Freunden täglich tun −, kann Schritt für Schritt die Quelle dieser Einheit entdecken: die Liebe. Es geht dabei nicht um Akte der Nächstenliebe, gute Taten, die wir machen, sondern um die Liebe, um die Natur Gottes selbst. Es geht um seine Hingabe an den Menschen, damit der Mensch lebt. „Weshalb widmet sich Gott selbst meiner Person?“, fragt Don Giussani. „Weshalb gibt er sich mir, indem er mich schafft, indem er mir das Sein schenkt, das heißt indem er sich selbst gibt? Und weshalb wird er darüber hinaus Mensch, um mir erneut die Unschuld zu schenken (...) und stirbt für mich?“ Giussani antwortet mit jedem Vers aus dem Buch Jeremia, der zutiefst bewegend ist: „Ich habe dich mit ewiger Liebe geliebt, daher habe ich dich an mich gezogen, denn ich hatte Erbarmen mit deiner Nichtigkeit.“ Das Fundament unseres Lebens ist diese Barmherzigkeit gegenüber unserer Nichtigkeit. Diese Initiative Gottes bringt unser Sein hervor und ruft uns zum Handeln, weil das ganze Leben zu einer Möglichkeit wird, auf diese überquellende Liebe zu antworten. Es ist eine Antwort aus Dankbarkeit gegenüber der Ergriffenheit Gottes. Das Gegenteil von Passivität.

Darin besteht die Befreiung. Es gibt einen roten Faden, der in doppelter Weise alle Umstände verbindet und alles zusammenhält. Aber nicht wir müssen uns abmühen, um ihn zu knüpfen. Wir müssen ihn nur erkennen und in jedem Winkel unseres Lebens entdecken − als Quelle unseres Lebens. Es geht also nicht darum, den Glauben mit theoretischen Diskursen mit der Wirklichkeit, der Arbeit und den Beziehungen in Verbindung zu bringen. In der Gabe Gottes liegt bereits alles beschlossen. „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Es geht nicht mehr darum, mit eigener Kraft einen Abgrund zu überwinden, sondern darum, eine Gegenwart anzuerkennen, einen Überschuss an Gnade, der man vertraut. Die kann zum Ausgangspunkt von allem werden: von der Arbeit bis hin zum Blick auf die anderen ... alles. Selbst in der Politik, die die Kirche als eine „Form der Nächstenliebe“ bezeichnet − was für jemanden, der die christliche Erfahrung nicht lebt, undenkbar scheint. Es ist ein Interesse für mich und den anderen − für das „wir“ − das aus jener Dankbarkeit erwächst, die aller Macht, allen Gesetzen und allen Bündnissen vorausgeht.