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Wort unter uns
Utopie und Präsenz
Luigi Giussani

Mitschrift eines Gesprächs von Luigi Giussani mit Studenten. Riccione, Oktober 1976

Angesichts der kulturellen, sozialen und politischen Attacken, denen sich das Christentum momentan ausgeliefert sieht, ist Klarheit darüber vonnöten, was christliche Präsenz eigentlich heißt.
Ihr Merkmal ist nicht die Reaktion, sondern ihre Ursprünglichkeit.

In diesem Jahr gilt es, den Gegensatz zwischen Präsenz und Utopie zu verstehen und wie man sich für die erstere entscheidet. Das Schicksal unserer Gemeinschaft und ihre Wirkkraft in Universität und Gesellschaft hängt von dem Maß ab, in dem wir die Präsenz bevorzugen und der Versuchung zur Utopie widerstehen.

I Präsenz ist die Verwirklichung der Communio. Unsere Präsenz darf vor allem nicht im Reagieren bestehen. Reagieren bedeutet, sich von den Schritten anderer Leute bestimmen zu lassen: Man reagiert, solange Initiativen, Diskussionen und Instrumente nicht Ausdruck unserer neuen Persönlichkeit sind, sondern von Einstellungen, Sprachgebrauch und Verhaltensweisen derjenigen hervorgerufen werden, die eine menschliche Welt ohne Christus zu schaffen versuchen und dabei, mit oder ohne Absicht, objektiv auf einer Lüge aufbauen.
Eine reaktive Präsenz kann zwei Irrtümer nicht vermeiden: entweder wird sie zu einer reaktionären Präsenz, die die eigene Position formal aufrechterhält, ohne daß dabei die Inhalte, die Beweggründe und die Wurzeln klar sind und das Leben durchdringen können: so ist ein Reaktionär immer mehr oder weniger auch ein Formalist. Oder aber die reaktive Präsenz verfällt dem entgegengesetzten Irrtum und versucht, die anderen nachzuahmen. Auf diese Weise gibt man den anderen im Wesentlichen nach und tut so, als ob man gewissermaßen auf ihrem Spielfeld wäre und den Streit auf ihre Art und Weise austragen könnte.
Worauf es folglich ankommt, ist eine ursprüngliche Präsenz, die unserer Originalität entspricht: das Recht zu leben und zu handeln kommt uns - wo und wie auch immer - nicht aus dem Nachgeben gegenüber fremden Umständen her zu, sondern allein aufgrund dessen, was wir sind.
Eine Präsenz ist in dem Maße ursprünglich, wie sie ihren Bestand in dem Bewußtsein der eigenen Identität hat und aus der Zuneigung zu ihr hervorgeht.

II Identität ist das Wissen darum, wer wir sind und warum wir existieren. Sie ist eine Würde, die uns das Recht gibt, von unserer Präsenz etwas «Besseres» für unser Leben und das Leben der Welt zu erhoffen.
Wer aber sind wir, daß uns das Recht auf diese Hoffnung zukommt? Ohne diese Hoffnung würde unser Leben entweder einer tiefen Bürgerlichkeit anheimfallen, deren höchstes Kriterium die Absicherung gegenüber jeglichem Risiko ist, oder unser Leben wäre fad vor lauter Unbefriedigtsein, das rasch in Wehklagen oder in die Anklage anderer umschlägt.
«Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus als Gewand angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid `einer' in Christus Jesus» (Gal 3, 26-28). Keine andere Stelle habe ich so oft zitiert wie diese (außer «Wer mir nachfolgt wird das Hundertfache empfangen und ewiges Leben erben», Mt 19,29).
Ihr, die ihr von Christus ergriffen wurdet, habt euch in Ihn hineinversetzt: «Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt» (Joh 15,16). Dies ist eine objektive Wahl, die dich nicht mehr losläßt und dein Sein durchdringt, die nicht von dir abhängt und der du keinen Widerstand entgegensetzen kannst. Ihr, die ihr getauft seid, habt euch auf Christus eingelassen, und deshalb gibt es keinen Unterschied mehr zwischen euch: «...nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau». Dies ist die Identität: «Ihr alle seid einer in Christus». Im Brief an die Epheser heißt es wörtlich: «...wir sind als Glieder miteinander verbunden» (Eph 4, 25).
Keine andere Formel birgt eine ähnliche kulturelle Sprengkraft in sich wie diese Auffassung der Person, derzufolge ihre Bedeutung und ihr Bestand in der Einheit mit Christus, mit einem Anderen besteht. Durch die Einheit mit Christus steht der Mensch in einer Einheit mit all jenen Menschen, die Er ergreift, mit all jenen, die der Vater ihm anvertraut.
Unsere Identität beruht darin, daß wir von Christus ergriffen wurden: diese Dimension konstituiert meine Person: Christus prägt meine Persönlichkeit und deshalb tretet auch ihr, die ihr von Ihm geschaffen wurdet, notwendigerweise in die Dimension meiner Persönlichkeit ein. Dies ist die «neue Kreatur» wie sie am Ende des wunderbaren Briefes an die Galater (vgl. Gal 6,15) beschrieben wird, es ist der Anfang einer neuen Schöpfung, von der Jakobus in seinem Briefe spricht (vgl. Jak 1,18).
»Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube» (l Joh 5,4), sagt Johannes in seinem ersten Brief: der Glaube besiegt die Welt, d.h. er zeigt seine Wahrheit, die alle Ideologien und Vorstellungen von dem, was das Menschsein ist, übertrifft; denn der Glaube ist die strukturelle Wahrheit, auf die hin die Welt erschaffen wurde und die sich am Ende offenbaren und aufrichten wird. Zugleich ist die Wahrheit der Faktor, der die Geschichte bewegt und das Gute in der Welt hervorruft, indem sie die Welt menschlicher werden läßt.
Ob ich nun allein studiere oder gemeinsam mit anderen, ob wir zu viert in der Universität sind oder mit zwanzig anderen gemeinsam in die Mensa gehen - unsere Identität ist stets dieselbe: daß wir von Christus ergriffen sind. Infolgedessen kommt es entscheidend auf das Selbstbewußtsein an, auf die Frage nach dem, was das Bewußtsein meiner selbst ausmacht: «Ich lebe, aber nicht mehr ich lebe, sondern Du lebst in mir» (vgl. Gal 2, 20). Dies ist der neue Mensch in der Welt, den Che Guevara erträumt hat und den Kulturrevolutionen fingiert haben, um das Volk zu beherrschen und es gemäß der eigenen Ideologie unterdrücken zu können - dieser neue Mensch wächst und reift in dieser Welt nicht aufgrund seiner Kohärenz, sondern in erster Linie aufgrund eines neuen Selbstbewusstseins. Unsere Identität offenbart sich folglich in einer neuen Erfahrung der eigenen Person und der Einheit unter uns.

III Es ist die neuartige Erfahrung der Zuneigung zu Christus und zum Geheimnis der Kirche, die in unserer Einheit anschaulich und konkret wird. Die Identität ist folglich eine lebendige Erfahrung innerhalb einer Wirklichkeit, die unser eigen ist und zugleich außerhalb von uns ist: die Zuneigung zu Christus und zu unserer Einheit.
Zuneigung ist die umfassendste und zugleich verständlichste Bezeichnung für unsere Ausdruckskraft. Sie ist alles andere als eine sentimentale und vorübergehende Gemütsregung, die wie der Wind wechselt. Vielmehr ist die Zuneigung eine kraftvolle Bejahung, die aus einem Werturteil und der aus Anerkennung von dem hervorgeht, das in uns und unter uns ist. Und mit dem Alter wächst dieses Anhängen und wird stärker, kräftiger und empfänglicher in der Treue zum Urteil, d.h. in der Treue zum Glauben: «Doch was mir damals als Vorteil galt, das habe ich um Christi willen für Unwert erachtet. Ja, ich erachte wirklich alles für Unwert angesichts der alles übertreffenden Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Seinetwegen gab ich alles auf und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen und in Ihm mich zu finden. Nicht meine eigene Gerechtigkeit suche ich, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die aus dem Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott aufgrund des Glaubens schenkt.» (vgl. Phil 3, 7-9)
Diese lebendige Erfahrung von Christus und unserer Einheit ist der Ort der Hoffnung, sie ist Ursprung eines neuen Geschmacks am Leben und läßt eine Freude aufkommen, die nichts zu vergessen oder zensieren braucht, um sich erhalten zu können. Hier kann jenes Verlangen nach Veränderung im eigenen Lebens stets wieder gewonnen und wiederaufgenommen werden: die Sehnsucht, dass das eigene Leben wieder einen Zusammenhang gewinne, dass es sich ändere und der geheimnissvollen Wirklichkeit, die es birgt, würdiger werde.
Die Erfahrung Christi und unserer Einheit erfüllt einen mit Leidenschaft für die eigene Umkehr. Dies hat nichts mit Moralismus zu tun, denn es geht nicht um ein Gesetz, dem man zustimmt, sondern um eine Liebe, der man sich immer mehr anzugleichen sucht; es geht um eine Präsenz, der wir immer mehr mit der ganzen Person nachzufolgen suchen, um eine erfahrbare Liebe, auf das es sich voll und ganz einzulassen gilt. «Jeder, der dies von ihm erhofft, heiligt sich, so wie Er heilig ist» (1 Joh 3, 3). Im Brief an die Philipper kommt dies noch deutlicher zum Ausdruck: «Nicht dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen, weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin. » (Phil 3,12). Das Verlangen nach der Umkehr im eigenen Leben wird infolgedessen gelassen, ruhig und zur gleichen Zeit leidenschaftlich, sie durchdringt die alltägliche Wirklichkeit. Ohne irgendeinen Anflug von Moralismus oder Pietismus ist dieses Verlangen vielmehr bestimmt von der Liebe zur Wahrheit des eigenen Seins. Ein Verlangen, das ebenso schön wie drängend ist, wie etwa der Durst.
Die Dinge, von denen ich soeben sprach, beobachte ich in meinem Leben - und dies nicht ohne eine gewisse Scheu. Diejenigen unter euch, die diesen Weg ebenfalls bereits begonnen haben, werden davon berührt sein. Im Grunde genommen handelt es sich um das, was in Paul Claudels Prolog zu «Mariae Verkündigung» Pierre De Craon zu Violaine sagt (vgl. Paul Claudel, «Mariae Verkündigung» in: Gesammelte Werke, Hrsg. von Edwin Maria Lindau, Heidelberg Einsiedeln 1958). Pierre, ein Baumeister von Kathedralen, verkörpert den Genius des Volkes, er ist derjenige, der die Bedeutung und Bestimmung des Volkes in sich trägt und zum Ausdruck bringt. Er wendet sich an Violaine, die er mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit liebt und die die Schönheit des Volkes verkörpert: «Ich lebe auf der Schwelle zum Tode und eine unerklärliche Freude erfüllt mich». Pierre De Craon spricht etwas aus, was viele von uns schon wahrzunehmen begonnen haben und was bereits den Anfang einer neuartigen Erfahrung darstellt: ich lebe auf der Schwelle zum Tode, auf der Schwelle zur Lüge, die schlimmer ist als der physische Tod, auf der Schwelle zum Bösen und zum Schmerz, zum Unmenschlichen - und dennoch erfüllt mich eine unbeschreibliche Freude.

IV Allein, wir wirken beim Aufbau dieser Präsenz noch nicht mit. Wir sind zu verwirrt. Wenn wir zusammen sind, dann deshalb, weil wir in einer noch anfänglichen Weise berührt wurden durch eine Wahrheit, der wir in der Weggemeinschaft begegnet sind. Was uns eint, ist, trotz aller Festigkeit, noch klein und unentwickelt: es ist der erste Eindruck von der Wahrheit, die sich uns in einer Begegnung mitteilte. All dies ist noch anfänglich und muß heranreifen, wenn es nicht von den Stürmen der Welt, die der Herr zulassen kann, vernichtet werden soll.
Mittlerweile ist unabdingbar geworden, dass unser erster Eindruck zu einer Gewissheit heranreift: die enorme Arbeitsbelastung, die Verantwortung und die Mühen, die sich uns aufdrängen, sind einfach zu groß, wollte man sie deshalb auf sich nehmen, weil man eben Christ ist. Ebenso wenig führt man Menschen durch irgendwelche Initiativen zusammen. Was uns zusammenführt, ist vielmehr das Aufleuchten der Wahrhaftigkeit einer Präsenz, die sich dort mitteilt, wo Menschen bewußt teilhaben an der Wirklichkeit, die in uns und unter uns ist: Christus und Sein Geheimnis, das in unserer Einheit sichtbar wird.
Wollen wir tiefer in diese Präsenz eintreten, dann kommt es darauf an, unsere Weggemeinschaft neu zu bestimmen. Der Sinn unserer Gemeinschaft ist es nicht, gemeinsam irgenwelche Initiativen auf die Beine zu stellen, noch ist sie der Versuch, gleichsam eine Parteiorganisation zu errichten. Die Weggemeinschaft ist der Ort des wirksamen Aufbaus unserer Person, der Reife im Glauben. Ziel der Weggemeinschaft ist es, im Glauben herangereifte Menschen hervorzubringen. Die Welt braucht Menschen, die einen reifen Glauben leben und weniger sachkundige Spezialisten, gute Lehrer oder erfahrene Arbeiter, denn von diesen Menschen gibt es in der Gesellschaft genügend; über deren Fähigkeit, ein neues Menschsein zu gestalten, läßt sich im übrigen füglich streiten.

V Die Methode, mit deren Hilfe die Weggemeinschaft zu einem solchen Ort des Heranwachsens und Reifens der Person im Glauben werden kann, wird durch ein Wort bezeichnet, das am Beginn der Geschichte unserer Bewegung stand und dessen Sinn wir vergessen haben, auch wenn wir es stets wiederholten: das Wort «Nachfolge». Für Gott, den Schöpfer und Erlöser, gibt es nur eine Art und Weise, um den Menschen in seiner ihm von Natur aus eigenen Ursprünglichkeit und im Geheimnis des neuen Lebens, das Christus gebracht hat, zur Reife zu führen: die Methode der Nachfolge. «Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er zwei Brüder, Simon, genannt Petrus, und seinen Bruder Andreas; sie warfen gerade ihr Netz in den See, denn sie waren Fischer. Da sagte er zu ihnen: 'Kommt her, folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen'» (Mt 4, 18-19). «Jesus aber wandte sich um, und als er sah, dass sie ihm folgten, fragte er sie: Was wollt ihr? Sie sagten zu ihm: Meister, wo wohnst du? Er antwortete: Kommt und seht!» (Joh 1,38-39).
Nachfolgen heißt, sich in andere Personen hineinzuversetzen, die mit größerer Reife den Glauben leben; es heißt, sich auf eine lebendige Erfahrung einzulassen, die ihre Dynamik und Faszination auf uns `überträgt' (lat. tradit - Tradition): Zu dieser Übertragung kommt es nicht aufgrund eines logisch einwandfreien (Ent-)schlusses. Diese Dynamik und Faszination wird gleichsam durch osmotischen Druck weitergegeben: das Herz eines anderen teilt sich dir mit und beginnt, dein Leben zu ergreifen und zu bewegen.

VI Hieraus ergibt sich, weshalb in unserer Pädagogik der Autorität grundlegende Bedeutung zukommt. Für uns sind solche Personen wahrhaft Autoritäten, die uns durch ihr Herz, durch ihre Kraft und ihre im Glauben erwachsene Freude miteinbeziehen. Wirkliche Autorität ist folglich die Definition der Freundschaft. Die wahre Freundschaft ist die umfassende Begleitung auf dem Weg zu deiner Bestimmung hin, zur Bestimmung deiner Person. Wahre Freundschaft ist nicht eine Frage des Temperamentes - ob nun jemand mehr oder weniger zurückhaltend ist oder ein lebhafteres Temperament hat -; man erkennt sie an dem Herz, das jemand in seine Worte legt und an der Aussage, die er mit seiner Anwesenheit macht.

VII Unsere bürgerliche Lebensweise liegt offen zutage. Sie zeigt sich in der Oberflächlichkeit, mit der wir die Beziehung zu Christus wahrnehmen. Wenn wir eine umfassende und tiefgreifende Beziehung zu Christus hätten, würden wir alles in Bezug auf diese Beziehung beurteilen: das, was wir sind und was wir tun, das Leben der Weggemeinschaft, die Nachrichten in der Zeitung, das, was an der Universität geschieht, mit einem Wort: alles. Das Urteil gleicht einem Pflug, der die Erde aufwühlt, damit die Saat eindringen und Frucht bringen kann: das Urteil Gottes ist die Erneuerung, die vom Geist hervorgerufen wird; so ist in der Tat auch das Letzte Gericht Gottes über die Welt das Paradies.
Wir müssen damit beginnen, den Glauben ernst zu nehmen, ihn als Urteil im konkrete Leben wirken zu lassen. So werden wir sehen, wie Glaube und wahrere Menschlichkeit ein und dasselbe sind. Denn durch den Glauben wird das Menschsein wahrer, der Mensch gelangt in ein wahres Verhältnis zu seiner Bestimmung. Die Beziehung zwischen Mann und Frau beispielsweise, in der umfassenden Beziehung zu Christus gemäß dem Glauben gelebt, wird wahr; das Bedürfnis nach Wahrheit und Einheit, nach Treue und Dauer in der Zeit kommt so zum Vorschein. Aus diesem Grunde sind wir gegen die Ehescheidung, denn diese verleugnet die Möglichkeit und die Fähigkeit zur Liebe. Geht man das Leben mit diesem tiefschürfenden Glauben an, wird es bestimmt von Achtung für die Person und für die Würde ihrer Bestimmung. Deshalb sind wir auch gegen die Abtreibung, denn sobald es menschliches Leben - wenn auch nur verborgen im Bauch der Mutter - gibt, ist es ohne Einschränkung zu schützen.
Die Zeit ist uns gegeben, damit all dies für uns wahr wird: die Suche nach dem Wahren ist das Abenteuer, um dessentwillen die Zeit Geschichte wird. Der heilige Paulus deutete dies in seiner Rede vor dem Areopag an, als er sagte, dass der einzige Sinn, um dessentwillen sich alle Völker bewegen - wenn die Bewegungen damals Völkerwanderungen waren, so sind es heute ideologische Bewegungen - die Suche nach Gott sei, «ob sie ihn ertasten und finden könnten» (Apg 17, 26-28).
Wenn wir uns dies wieder vergegenwärtigen, wird uns auch in konkreter Weise verständlich, was wir oben über die Notwendigkeit, wieder eine Präsenz zu sein, gesagt haben: es kommt darauf an, das neue, sich entfaltende Menschsein dort wieder aufzubauen, wo wir sind. Allein deshalb und aus keinem anderen Grund existieren wir: um Ingenieure, Ärzte, Familienväter oder Mütter zu werden, hätte es nicht des geheimnisvollen Ereignisses bedurft, das uns ergriffen hat.

VIII Unsere Versuchung ist die Utopie.
Unter Utopie verstehe ich etwas, das man für gut und gerecht hält, um es in der Zukunft zu verwirklichen, das nach eigenen festgesetzten Vorstellungen und Wertmaßstäben entworfen wird. Ich möchte an dieser Stelle die Geschichte unserer Bewegung in Erinnerung rufen.
In den letzten zehn Jahre waren wir vor erhebliche Herausforderungen im sozialen und politischen Bereich gestellt. Dies hat uns dazu geführt, dass unsere Hoffnung und unsere Würde allmählich abglitten und zu einem von uns selbst entworfenen Projekt wurden, ohne dass dieses eine entsprechende Vertiefung des Lebens mit sich gebracht hätte.
Der Beginn unserer Bewegung ist in diesem Zusammenhang von außerordentlicher Bedeutung: denn eine Geschichte läßt sich nur im Blick auf ihren Ursprung verstehen. Im Jahre 1954 ergab es sich, dass wir an eine staatliche Schule kamen, die noch nicht marxistisch geprägt war, auch wenn die Marxisten größerenteils das Klima bereits bestimmten; die Schule war im Grunde liberal, das heißt laizistisch und antichristlich und somit ein direkter Vorläufer der marxistischen Schule.
Wir sind an diese Schule ohne eine bestimmte Vorstellung gegangen, wie diese zu sein habe. Uns bewegte vielmehr das Bewußtsein, das zu bringen, was den Menschen, auch in der Schule, rettet, was ihn wahrhaft Mensch und die Suche nach dem Wahren, nach Christus, der in unserer Einheit gegenwärtig ist, aufrichtig werden läßt. Diese Leidenschaft brachte es mit sich, dass wir Inhalte der Geschichte, der Philosophie und der italienischen Literatur neu interpretierten. Wir nannten dieses Unternehmen damals Revision. Sie stellte für die Jugendlichen eine wahre Alternative zu der in den Schulklassen vorherrschen-den liberal-marxistischen Interpretation dar. Auf diese Weise verwirklichten wir ein alternatives Projekt ohne uns dies zum Ziel gesetzt zu haben. Unser Ziel war allein die Präsenz.
Die Geschichte der Bewegung begann sich in den Jahren 1963 und 1964 zu verdunkeln und erreichte im Jahre 1968 den Höhepunkt ihrer Krise. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Folgen der vergangenen fünf bzw. sechs Jahre deutlich, in denen der Einfluß bestimmter Personen dazu geführt hatte, dass das Anliegen der Bewegung auf den Kopf gestellt wurde und statt der Präsenz in der Schule soziale Aktivitäten und Projekte zum Ziel erklärt wurden. Infolgedessen ging die Intensität, ja die Identität unserer Präsenz verloren: nur eine kleine Gruppe von Personen, die irritiert waren und nicht wussten, was sie dazu sagen sollten, blieb übrig. Es überwog der Einfluss, der auf die ganze Bewegung von Gioventù Studentesca vernichtend wirkte. Als man mit den sozialen, kulturellen und politischen Ideen der 68er Jahre in Berührung kam, war man nicht in der Lage, dem etwas entgegenzuhalten; an einem Punkt angelangt, wo einzig und allein das kulturelle und politische Projekt zählte, erlagen viele einer riesigen Bewunderung für diese Ideen. Die meisten in der Bewegung wurden unsicher und verrieten sie.
Was hatten sie verraten? Die Präsenz. Ein Projekt war an die Stelle der Präsenz getreten, die die Utopie untergraben hatte. In der Zeit von 1963 bis hin zum Zusammenbruch im Jahre 1968 hatte ein Prozeß des Ausweichens und der Angleichung an die Umgebung stattgefunden, im Zuge dessen an die Stelle einer wahren und ursprünglichen Präsenz ein reaktives Verhalten getreten war.
1969 sind einige, die in ihrem Herzen treu blieben, wieder zur ursprünglichen Intuition zurückgekehrt und haben sie aufgegriffen: entscheidend ist unsere Präsenz, denn die Communio mit Christus und unter uns ist die Befreiung; deshalb müssen wir von neuem unsere Communio gegenwärtig werden lassen. Der politische, kulturelle und soziale Druck war allerdings so stark und die Provokationen derart gewalttätig, dass man trotz richtiger Intuition mehr oder weniger gewollt ein alternatives Projekt zu betonen versuchte. Diesmal war man sich der tiefen Zugehörigkeit zum Geheimnis unserer Communio bewußt, auch wenn diese Zugehörigkeit in methodologischer Hinsicht von der Anziehungskraft und der Notwendigkeit eines alternativen Projektes geprägt war und damit unklar blieb. Wir wollten gleichermaßen zeigen, dass wir eine bessere Utopie anzubieten hatten.
Sehr deutlich und klar kam diese Tendenz bei dem großen und sehr ausgewogenen Treffen im Jahr 1973 zum Ausdruck: aber es zeigte sich, dass diese Tendenz der sozialen, kulturellen und politischen Arbeit nur für einige wenige, für eine Elite, war. So etwa sind die sehr bewegenden Berichte dieses Treffens niemals wirklich verwertet worden; sie wurden nur einfallslos und naiv nachgeredet und boten den Vorwand für autonome Versuche mancher Gruppen.
Mittlerweile hatte die geschichtliche Entwicklung schon die Eitelkeit und Leere der Utopien von 1968 enthüllt. Denn das, was sie hervorgerufen hatten, war in der Zwischenzeit Instrument einer neuen Vorherrschaft geworden, die noch viel despotischer und gleichmacherisch war. Schon zwei oder drei Jahre zuvor hatten wir gesagt, dass wir als einzige die Parolen der 68er Bewegung weiter getragen hatten. Allerdings bewegten wir uns noch auf dem Boden der anderen: wenn diese ein Flugblatt herausgaben, verfaßten wir ebenfalls eins. Das heißt nicht, dass es so nicht auch geschehen könnte; allerdings muss die Art und Weise, in der die Dinge entstehen, klar werden

IX Die Neuheit ist die Präsenz als Bewusstsein, etwas endgültiges, ein endgültiges Urteil über die Welt, die Wahrheit der Welt und das Menschsein bei sich zu haben. Zum Ausdruck kommt dies in unserer Einheit. Die Neuheit ist die Präsenz als Bewusstsein, dass unsere Einheit das Instrument ist für das Neuwerden und die Befreiung der Welt.
Die Neuheit ist die Präsenz dieses Ereignisses, das eine neue Zuneigung und ein neues Menschsein hervorbringt. Sie vergegenwärtigt den Beginn einer neuen Welt, die wir bilden. Die Neuheit ist nicht die Vorhut, sondern der Rest Israels: die Einheit unter Menschen, für die das, was geschehen ist, alles umfasst und die nur auf die umfassende Offenbarung der Verheißung und auf die Verwirklichung all dessen warten, was in dem Ereignis enthalten ist.
Die Neuheit besteht nicht in einem zukünftigen Ziel, das man verfolgt, noch ist sie ein kulturelles, soziales oder politisches Projekt. Sie ist vielmehr die Bejahung eines Ereignisses, das bereits eingetreten ist. Die Neuheit ist die Präsenz dieses Ereignisses. Und die Präsenz kommt auf eine ihr eigentümliche Art zum Ausdruck.
Die Utopie äußert sich in Reden, Projekten und der verzweifelten Suche nach Instrumenten und organisatorischen Formen. Die Präsenz hingegen kommt zum Ausdruck in einer wirksamen Freundschaft, in Gesten, die getragen sind von einem veränderten Subjekt, das sich alles zu eigen macht und in den jeweiligen Lebensumständen Stellung bezieht. Gleich, ob es nun in der Schule, im Studium oder beim Eintreten für eine Reform der Universität tätig wird: Die Gesten des neuen Subjektes erweisen sich vor allem als Gesten eines wahren Menschseins, als Gesten der Caritas. Nicht durch Reden oder gut organisierte Projekte entsteht eine neue Wirklichkeit, sondern durch Gesten, die, in der Gegenwart gelebt, ein neues Menschsein aufweisen. Selbstverständlich wird dieser Gestus der Caritas auch dazu führen, dass man zum Beispiel versucht, in den Fachbereichsrat oder Verwaltungsrat der Universität Leute zu schicken, die eine menschliche Hilfe für alle darstellen, und die nicht etwa in der Politik ein Abenteuer suchen oder unfähig sind.
Kurz gesagt: die Utopie läßt uns zu anderen in Konkurrenz treten, ohne dass wir uns dabei im Niveau oder in den Methoden von ihnen unterscheiden würden; die Präsenz hingegen beinhaltet die Fähigkeit zur Kritik, d.h. die Fähigkeit, alles auf die Erfahrung der Communio, die wir leben, auf den Sinn für das Geheimnis, der uns bewegt und auf den Sinn für die Wirklichkeit, die befreit, hinzuordnen.

X Was aber hat die Betonung der Präsenz mit den privaten oder öffentlichen Erfordernissen und Nöten der Menschen, denen wir begegnen, zu tun?
Die anfängliche Präsenz der Bewegung im Jahre 1954 war geprägt von der Anteilnahme an dem, was unsere Schulkameraden bewegte. Ausgehend von diesem Gestus der Freundschaft haben wir in großem Umfang und mit den dafür erforderlichen Strukturen Caritativa ins Leben gerufen: Jeden Sonntag zogen etwa Tausend Jungen und Mädchen unter erheblichen Opfern in die Höfe der Mailänder Bassa. (Die Bassa war ein sozial benachteiligtes landwirtschaftliches Gebiet im Süden von Mailand, A.d.Ü.) Nicht ein politisches Projekt, sondern die Anteilnahme an den Bedürfnissen der Menschen, die dort lebten, führte sie dorthin. Denn der Kampf für etwas, das noch nicht existiert, ist die größte Illusion und mithin der Ursprung der tiefsten Enttäuschungen im Leben des Menschen. Denn der Mensch ist nicht Schöpfer, er wirkt jedoch mit an der Offenbarung dessen, was Gott bereits geschaffen hat und was vergleichbar ist mit einem Samen, der sich entwickelt in Keim, Blüte und Pflanze.
Folglich kommt es darauf an, den Samen zu pflanzen, sprich die Präsenz gegenwärtig werden zu lassen. Offenbaren kann sich nur, was bereits existiert: der Plan, das Projekt ist im Samen angelegt: es ist in dem, was bereits lebt, im Geheimnis, das wir sind, und es wird zu seiner Zeit ans Tageslicht kommen.
Auf diese Weise sind wir in kultureller, sozialer und politischer Hinsicht gewachsen und heute klüger als noch vor einiger Zeit. Aber unsere Kraft beruht nicht darin; vielmehr besteht sie im Bewusstsein vom Geheimnis, das uns bewegt. Und wenn andere nicht verstehen können, wie uns dies gelingen konnte, obwohl wir weder so mächtig, noch so gut ausgerüstet sind wie sie, so liegt das daran, dass sie nicht verstehen können, was auch wir noch nicht begreifen: nämlich den Inhalt und die Kraft einer Präsenz. Aber auch wenn wir es noch nicht verstehen, so sind wir dennoch kulturell und politisch gesehen stärker als zu der Zeit, da wir noch in die Bassa gingen. Denn der Plan ist bereits enthalten im Samen, der Christus in uns ist, im Samen, der unsere geheimnisvolle und wirkliche Einheit ist. Und die Zeit wird den Plan an den Tag kommen lassen. Genauso geschah es auch den ersten Christen, die in die ganze Welt gingen, nicht etwa um die Philosophie zu bekehren, sondern um das gegenwärtig werden zu lassen, was ihnen zuteil geworden war: um Christus gegenwärtig werden zu lassen, teilten sie alles mit allen, einschließlich der Philosophie. Auf diese Weise entstand im Laufe der Jahrhunderte in Klöstern, Schulen und Universitäten eine neue Philosophie und eine neue Kultur.
Die Präsenz, die ihre eigene Ausdruckskraft besitzt, durchdringt und wirkt innerhalb der jeweiligen Lebensumstände. Diese Lebensumstände sind schon unsere, denn sie gehören Christus. Er besitzt die jeweilige Situation, auch wenn man sich nur widerwillig und an ihrer Oberfläche mit ihr abgibt. Dieser umfassende Besitz wird sich in unserer Geschichte offenbaren. Über drei Jahrhunderte lang wurden die Christen gefangengenommen, gefoltert und in finstere Verließe geworfen: die Geschichte wird in ihrem Verlauf nicht von uns bestimmt. Wir bestimmen die Präsenz, das heißt das umfassende Sicheinlassen auf das Unendliche, das uns bewegt und das sich unvermittelt in einem neuen Menschsein, in der Freundschaft und der Communio offenbart. «Hab keine Angst, kleine Herde, ich habe die Welt besiegt» (Lk 12,32). «Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube» (1 Joh 5,4).
Auch wenn unser Glaube sieben, acht oder neun Jahrhunderte benötigen mag, um das universitäre Leben wieder von einer christlichen Präsenz zu durchdringen: Es sind Mutmaßungen, die zu lösen wir nicht in der Lage sind. Und die Universität interessiert uns im Blick auf das Heranreifen unseres Subjektes und nicht etwa um des «Sieges willen». Dieses Subjekt bin zur gleichen Zeit ich selbst und ist die Einheit mit euch: die Person und die Einheit in Christus. Wie es im 37. Kapitel des Buches Ezechiel beschrieben wird: die Ebene war voll von Gebeinen, denen der Herr seinen Geist einhaucht: und diese Gebeine rücken zusammen, Bein an Bein, aus ihnen entsteht ein Körper und dieser wiederum wird von der Seele belebt: mit dem ein und demselben Gestus wird zur gleichen Zeit jede einzelne Person und das ganze Volk wiederbelebt. Wir müssen von jener ideologischen Interpretation des universitären Lebens abkommen, die zu einer aufreibenden und zermürbenden, bitteren und schwer ertragbaren Arbeit führt. Aus diesem Grund sind auch viele fortgegangen. Niemand würde jemals die Erfahrung eines neuen Menschseins aufgeben, es sei denn, er handelte aus diabolischer Auflehnung.

XI Was ich sagte, bezog sich auf die Methode des Vorgehens und geschah nicht etwa, um die Verantwortung aufzuheben. Das, worauf es ankommt und was noch zu geschehen hat, wird für uns noch mehr Arbeit, größeren Nachdruck und größere Freude bedeuten; zugleich wird es uns jene Aufreibung und Bitterkeit ersparen, die uns voneinander trennt. Uns steht die Aufgabe bevor, Ausdruck einer bewussten Präsenz zu sein, die fähig ist zu einer kritischen und systematischen Auseinandersetzung. Diese Aufgabe verlangt eine Arbeit.
Diese Arbeit besteht darin, unsere Identität innerhalb der Materialität des Lebens ins Spiel zu bringen. Sofern meine Identität die Materialität des Lebens durchdringt und d.h. sofern sie innerhalb der konkreten Bedingungen der Existenz wirkt, wird sie zur Arbeit und läßt mich reagieren. Wenn ich mit dem Auto schnell zu einem Ort fahren will und mitten auf der Straße ein Stein liegt, an dem ich nicht vorbei komme, so kommt meine «Identität als Autofahrer» ins Spiel, sie wird zur Arbeit: ich stelle das Auto am Straßenrand ab, steige aus, nehme den Stein und räume ihn aus dem Weg.
Methodisch gesehen kommt es also bei dieser Arbeit zunächst darauf an, dass wir unsere Identität ins Spiel bringen und das zum Ausdruck bringen, was uns bewegt. Alles andere ergibt sich von selbst.
Das Ziel, weshalb wir zur Universität gehen, besteht darin, unsere Communio ins Spiel zu bringen, alles andere kommt von selbst. «Euch aber muss es zuerst um das Reich Gottes und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben» (Mt 6,33). Das erfüllt uns mit Ironie und Humor, denn alle Unternehmungen, die aus dieser Haltung hervorgehen, sind im besten Sinne Versuche: sie sind unvollkommen, hinfällig und austauschbar. Wird die Präsenz, wie wir sie beschrieben haben, zum Ziel unserer Unternehmungen, dann befreit sie uns vom Anspruch, den unser Tun bisweilen unvermeidlich annimmt. Die Präsenz führt zu ironischen, jedoch nicht zynischen Versuchen. Denn die Ironie ist das Gegenteil des Zynismus: sie nimmt - aufgrund der Hinfälligkeit der Dinge - mit einer gewissen Distanz Anteil an ihnen, geht dabei jedoch aufgrund der brennenden Leidenschaft für das ihnen bereits innenwohnende Ideal stets gelassen und in Frieden vor. Folglich können wir uns frei bewegen und schon morgen das ändern, was wir heute unternommen haben; wir sind frei in dem, was wir tun und in den Formen, die wir notwendigerweise unseren Versuchen geben.
Die Arbeit im Bereich der Universität müsste, im ganzen gesehen, die Neubestimmung der Aufgabe sein, die der Universität zukommt und die sie anzugehen hat. Diese Arbeit steht und fällt mit der Art und Weise, in der unsere Präsenz die Universität gemäß dem, worin und wofür diese besteht, angeht: das Studium, die Lehre, die Beziehungen, die Verwaltung, politische Aktivitäten, mit einem Wort: alles. Damit in all diesen Bereichen diese Neubestimmung heranwächst und greift, bedarf es einer langen Geschichte, ebenso wie die Christenheit Jahrhunderte benötigt hat, um Universitäten zu bilden. Unsere Aufgabe ist es jedenfalls, das präsent zu machen, was wir sind; denn unser Programm ist für die Gegenwart! Es ist sicher ein weiter Weg zurückzulegen. Doch Mittel und Wege werden wir in der Treue finden und so mit der Zeit befähigt werden, Aufgabe und Auftrag der Universität neu zu bestimmen. Aber all dies wird zu seiner Zeit, ohne aufreibende und zermürbende, überhebliche oder falsche Ansprüche, kommen.
Unser Programm ist die Präsenz von dem, was wir sind: ein Teil der Menschheit, die von Christus ergriffen wurde, ein neues Volk, das auf dem Weg ist beseelt von der Kraft, die Christus vom Tode auferweckt hat. Diese Kraft wühlt die Geschichte auf und führt sie von innen her (wir allein sind vorgesehen, die Zeichen dafür wahrzunehmen!) zu ihrer Bestimmung, die in der umfassenden Offenbarung Christi liegt.
Was ist die Universität anderes als der kritische und systematische Ausdruck der Erfahrung eines Volkes, oder anders gesagt, Ausdruck einer sozialen Erfahrung? Unsere Präsenz wirkt mit an der Neubestimmung der Universität, indem sie ihre eigene Wirklichkeit des neuen Volkes in Geduld und im Laufe der Zeit behauptet und ihr auf den Grund geht. In dieser Arbeit ist jede Präsenz und die Präsenz eines jeden Bestandteil der Kultur, der in der Geschichte und der Zeit hinwirkt auf eine Neubestimmung der Dinge. Die Anwesenheit eines jeden, mag er noch so unbeholfen im Handeln, unfähig zur theoretischen Diskussion oder psychisch labil sein, ist von Nutzen.
Die Universität von heute ist kritischer und systematischer Ausdruck der Erfahrung einer atheistischen Gesellschaft, die Christus und den religiösen Sinn, d.h. die Seele eines jeden Menschen zutiefst ablehnt. Wenn unser Programm nun darin besteht, unser neues Volk, unsere Einheit und unsere Reife im Glauben gegenwärtig werden zu lassen, so werden wir jetzt nicht siegen können, denn man wird uns in jeder Hinsicht ächten und an den Rand drängen. Aber dies nimmt uns nicht die Möglichkeit einer unbezwingbaren Freude, die der Glaube mit sich führt, denn «dies ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: der Glaube». Wir sind uns dessen bewusst, denn der Sieg ist schon in uns und dies bezeugt jene Einheit, die die Welt bei all ihrer Verschlagenheit weder zu zersplittern noch aufzuhalten vermag.
Die einzelnen Aspekte dieser Arbeit werden wir noch zu entwickeln haben. Der Ausgangspunkt jedoch ist weder eine Rede noch ein Projekt oder eine irgendwie geartete Organisationsform, sondern vielmehr eine neue und bereits gegenwärtige Wirklichkeit, in der die Sehnsucht und das Herz des Menschen erhellt werden: ob wir nun mit fünf oder fünfhundert die Präsenz einer neuen Wirklichkeit bilden, ist dabei unerheblich.
Alles liegt in dieser Wirklichkeit, die uns bewegt und die wir mit uns führen: wehe uns, wenn wir uns von nun an nicht aus ganzem Herzen helfen, dies so wenig wie irgend möglich zu verraten.