Logo Tracce


Wort unter uns
Christus, alles was wir haben
Luigi Giussani

Mitschrift eines Gesprächs von Luigi Giussani mit einer Gruppe von Comunione e Liberazione. New York, 8. März 1986 Wir bringen den folgenden Dialog wegen der Urteilskraft, die ihn auszeichnet und des damit verbundenen Aufrufs, der an uns heute ergeht. In seinen Antworten auf Fragen der ersten Freunde von CL in New York erklärt Giussani den `Genius' der Bewegung, die die Kirche mit der Anerkennung der Bruderschaft am 11. Februar 1982 bestätigte. Anhand eines kurzen Rückblicks auf die Geschichte der Bewegung erläutert er insbesondere die Originalität der westlichen Tradition - ein hochaktuelles Thema angesichts der vielfach äußerst unbefriedigenden Diskussionen und Kommentare der letzten Monate in den Medien.

Frage: Du hast uns die Geschichte der Bewegung erzählt und sie in drei Teile unterschieden: Der Anfang, die Krise und die Gegenwart. Könntest du uns helfen, aus diesem Blickwinkel heraus unsere derzeitig Lage hier in Amerika zu verstehen? Worauf müssen wir achten oder wo bestehen Gefahren, zumal wir ganz am Anfang stehen?

Don Giussani: Für die Bewegung ist folgendes kennzeichnend: Vor allem eine Wiederaufnahme des Kernes des christlichen Glaubens: Jesus Christus ist das Zentrum des Kosmos und der Geschichte! Das christliche Leben wird dabei als fortwährende Verifizierung der Beziehung zwischen Christus und den Fragen, die unsere Zeit kennzeichnen, verstanden und empfunden. Diese lebendige und existenzielle Wahrnehmung Christi, welche der Inhalt des Glaubens ist, kann nicht eine rein individuelle Entdeckung oder Wiederentdeckung sein. Vielmehr setzen sowohl die Entdeckung als auch die Verifizierung die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft voraus.
Die zweite Phase unserer Geschichte, die durch die große Zerstörungskraft der Studentenrevolte von 1968 hervorgerufen wurde, war durch die Entdeckung gekennzeichnet, dass das Christentum erst in zweiter Linie ein ethischer oder moralischer Impuls ist. Doch was kommt davor? Davor kommt die Wahrheit, dass das Christentum ein neuartiges Faktum in der Geschichte ist. Ein neues, unzurückführbares, unvermeidliches Ereignis in der Geschichte. Deshalb bedeutet das Christentum als Gegenwart ein Ereignis, das gegenwärtig ist, auf das man stößt und das man sieht: Man muss es finden, auf es stoßen und in es eintreten.
Die dritte Phase war durch das Bewusstsein bestimmt, dass wir keine Alternative im Kampf mit anderen Kräften brauchten; nicht die Antithese oder ein Wetteifern mit ihnen war von Nöten, sondern die einfache Ausbreitung und Vervielfältigung dieses Ereignisses und damit der christlichen Gemeinschaft. Weggemeinschaften hervorbringen, Fakten einer neuen Menschlichkeit schaffen, das ist unsere einzige Aufgabe. Für euch, die ihr am Anfang steht, sehe ich die Gefahr, dass ihr oberflächlich seid bei der Erkenntnis der Güter, die euch übermittelt wurden. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, das Ziel eures Einsatzes mit einem bestimmten Erfolg zu identifizieren, mit einem einfach festzustellenden Ergebnis, dass euch dann die Zuneigung und Wertschätzung der anderen sichern soll. Es gibt eine schwerwiegende «Unannehmlichkeit» bei unserem Einsatz: nämlich dass unser Einsatz nur eines zum Ziel hat, staunend anzuerkennen, wer Christus ist. Wird Christus vergessen, dann geht der Mensch zugrunde, wie der britische Literaturnobelpreisträger T. S. Eliot in «Chöre aus The Rock» sagt.

Frage: Was denkst du über die westliche Kultur? Diese Frage ist für uns deshalb von Bedeutung, weil wir in einem Land leben, das beansprucht, der vollendete Ausdruck des Abendlandes zu sein.
Don Giussani: Das scheint mir eine allumfassende Frage... Ich glaube, dass die abendländische Kultur Werte besitzt, auf Grund derer sie sich sowohl kulturell als auch operativ beziehungsweise gesellschaftlich auf der ganzen Welt durchgesetzt hat. Eine kleine Anmerkung gilt es hier jedoch zu machen: der Westen hat all diese Werte vom Christentum geerbt. Da ist zunächst einmal der Wert der Person, den die ganze Weltliteratur nicht hätte entwerfen können. Denn die Person kann in ihrer Würde nur verstanden werden, wenn anerkannt wird, dass sie nicht ausschließlich aus der Biologie von Vater und Mutter stammt. Ansonsten ist sie wie ein Kieselstein im reißenden Fluss der Wirklichkeit, oder wie der Tropfen einer Welle, die sich am Felsen bricht. Der Wert der Arbeit, der in der ganzen Weltkultur, in der antiken wie bei Marx und Engels, als Sklaverei verstanden wird, wird in die Nähe zur Sklaverei gestellt. Christus jedoch definiert Arbeit als die Tätigkeit des Vaters, als Tätigkeit Gottes. Der Wert der Materie, das heißt die Aufhebung des Dualismus von einem noblen und einem verachtenswerten Aspekt des Lebens der Natur. Dieser Dualismus existiert für das Christentum nicht. Der revolutionärste Satz der Kulturgeschichte stammt vom heiligen Paulus: «Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut». So kann Romano Guardini auch sagen, dass das Christentum die «materialistischste» Religion der Geschichte ist. Der Wert des Fortschritts, der Zeit, die eine Bedeutung gewinnt. Denn das Verständnis von Geschichte schließt die Vorstellung eines intelligenten Planes ein. Meines Erachtens sind dies Grundvorstellungen der westlichen Zivilisation. Eines habe ich nicht erwähnt, weil es im Verständnis der Person schon enthalten ist: die Freiheit. Wenn der Mensch ganz von seinen biologischen Vorfahren abhängen würde, was die vorherrschende Kultur behauptet, dann wäre er Sklave von Zufällen und somit Sklave der Macht. Macht nämlich ist das Kleid, in dem das Schicksal in der Geschichte auftritt. Wenn aber etwas im Menschen unmittelbar aus der Quelle des Seins stammt, nämlich die Seele, dann ist der Mensch wirklich frei. Der Mensch kann sich zwar nicht als vollkommen frei verstehen. Da er einmal nicht da war, jetzt aber da ist, hängt er zwangsläufig von etwas ab. Die Alternative hier ist sehr einfach: Entweder er hängt von dem ab, was die Wirklichkeit schafft, also Gott, oder er hängt von der Zufälligkeit dessen ab, was die Natur in Bewegung hält, also der Macht. Die Abhängigkeit von Gott erlaubt die Freiheit des Menschen gegenüber anderen Menschen. Der schreckliche Fehler, ja der fürchterliche Irrtum der abendländischen Kultur liegt darin, dass sie dies vergessen und bestritten hat. So ist der Mensch im Namen der eigenen Autonomie zum Sklaven jedweder Macht geworden. Je raffinierter die Möglichkeiten dieser Zivilisation werden, desto größer wird die Sklaverei. Die Lösung liegt darin, für eine Rettung zu kämpfen: es geht nicht darum, die Hinterhältigkeit jener Gesellschaft zu bekämpfen, es geht vielmehr darum, dafür zu kämpfen, dass die Abhängigkeit des Menschen von Gott wiederentdeckt und bezeugt werde. Das was zu allen Zeiten die wirkliche Bedeutung des menschlichen Kampfes war, das heißt der Widerstreit zwischen der Verwirklichung der Menschlichkeit und der Instrumentalisierung des Menschen durch die Macht, ist heute zum Äußersten gelangt. So warnte Papst Johannes Paul II. mehrfach: Die größte Gefahr von heute liegt nicht einmal in der Zerstörung der Völker, in der Tötung oder im Mord, sondern im Versuch der Macht, das Menschliche zu zerstören. Und das Wesen des Menschlichen ist die Freiheit, das heißt die Beziehung zum Unendlichen. Deshalb muss der große Kampf vor allem im Abendland ausgefochten werden, und zwar von Menschen, die sich als Menschen empfinden. Es ist der Kampf zwischen einer authentischen Religiosität und der Macht. Wahre Religiosität begrenzt die Macht. Sie stellt die Grenze jeder Macht dar, sei sie gesellschaftlich, politisch oder klerikal.

Frage: Das wichtigste Ziel eines Christen besteht, so wurde gesagt, darin, die Begegnung mit Christus mitzuteilen. In dieser Hinsicht bin ich im vergangenen Jahr auf zwei Arten von Problemen gestoßen. Das erste: Viele Menschen sind Christen, weil das Christentum ihre kulturelle Tradition ist (viele stammen hier in den USA etwa von der irischen Kultur ab). Und so glauben sie bereits zu wissen, was das Christentum ist. Im zweiten Falle begegnet man Menschen, die vom Glauben in keiner Weise beeindruckt werden und ihm gegenüber überhaupt keine Offenheit entwickeln. Wie soll man diesen beiden Verhaltensweisen begegnen?

Don Giussani: Ich glaube, dass man beiden Typen von Menschen, also denen die dem Christentum bereits begegnet sind, und denen die ihm noch nicht begegnet sind, auf dieselbe Art und Weise begegnet: Es ist die Botschaft, die durch das persönliche Zeugnis vermittelt wird. Denn Christus ist in meinem Zeugnis gegenwärtig. Oder besser, es gibt höchsten einen Unterschied: bei dem, der dem Christentum bereits begegnet ist, braucht es ein wesentlich kraftvolleres und wirksameres Zeugnis, denn «die Menschen lernen nur selten das, was sie bereits zu wissen glauben», wie die Schriftstellerin Barbara Ward sagte.

Frage: Was ist das ursprüngliche Kennzeichen der Bewegung? Was unterscheidet sie von anderen Bewegungen in der Kirche und in der Welt?
Don Giussani: Mir scheint, dass der Genius - durchaus im lateinischen Sinne des Wortes verstanden - darin besteht, dass sie die Dringlichkeit empfand und verstand, dass es notwendig war, zu den wesentlichen Aspekten des Christentums zurückzukehren. Das heißt die Rückkehr zur Leidenschaft des christlichen Faktums als solchem, in seinen ursprünglichen Elementen. Deshalb finden sich auch Priester, Brüder, Ordensfrauen, Mitglieder anderer Bewegungen in unserer Akzentsetzung wieder. Sie empfinden sich gleichsam als Freunde unserer Akzentsetzung. Wir wollen nichts anderes als das, was wir mit allen anderen gemeinsam haben müssten. Und unser Handeln, unsere Aufgabe besteht darin, alle auf diese für jeden notwendigen Faktoren hinzuweisen. Vor allem auf das, was ich oben genannt hatte: die Kategorie des Ereignisses, dass also das Christentum ein gegenwärtiges Faktum ist, von dem du und ich ein Teil sind. Es ist das Faktum Christi, der gegenwärtig ist. Aber diese Gegenwart braucht mich und dich, uns. Ihr müsstet den Film «Gott braucht Menschen» von Jean Delannoy sehen, wenn ihr ihn in einer Videothek bekommt.

Frage: Welche Bedeutung hat das Gebet im Leben der Bewegung und wie kann es einer Gemeinschaft wie der unseren nutzen, damit unsere Freundschaft wächst?
Don Giussani: Christus ist gekommen, nachdem ihn die Propheten und die Armen im Geiste über Jahrhunderte hinweg ersehnt hatten. Das jüdische Volk stand in seinen hellsichtigsten Vertretern für die ganze Menschheit, die etwas erwartete. So antwortet Gott stets auf eine Frage, auf ein Betteln des Menschen. Und in der Tat finden sich in der ganzen Weltliteratur Spuren dieser Erwartung oder dieses Schreies nach etwas anderem, das der Mensch nicht kennt. Deshalb offenbart sich mir Christus, er offenbart mir seine Gegenwart und tritt in mein Leben ein, je mehr ich ihn darum bitte. Denn Er tritt doch nicht ein, wo Er nicht erwartet wird. Das Wesen des Gebets besteht darin, um Christus zu betteln: «Komm, Herr Jesus.» Es sind die letzten Worte der Bibel und die ersten Worte des Urchristentums. Wir müssen in uns die ganze Erwartung der Menschheit leben oder erneut durchleben. Denn Christus antwortet der Freiheit und die Freiheit ist in jedem Augenblick wie neu. Das Größte im Leben unserer Erfahrung ist die Entdeckung, welche Bedeutung das Gebet hat. Das Gebet ist das einzige Phänomen, bei dem der Mensch sein ganzes Wesen einsetzt. Wer dem Leben der Bewegung folgt, kann bezeugen, dass ich persönlich hierzu vergleichsweise mehr gesagt habe, als zu anderen Fragen. Denn der Mensch ist Verlangen, er ist Suche: Wenn es aber keine Frage gibt, dann gibt es auch weder Verlangen noch Suche. Also versucht die Weggemeinschaft, wenn sie uns an die Laudes, das Mittagsgebet, die Vesper, das Abendgebet und den `Engel des Herrn' erinnert, nichts anderes als uns die Bitte nach Christus zur Gewohnheit werden zu lassen. Das heißt die Bitte nach dem Sein, nach der Erfüllung, nach der Wahrheit, nach dem Leben, nach dem eigenen, wahren Ich. Entschuldigt, ich sage es euch als Freund, aber wenn man versteht, was das Gebet ist, dann überschreitet man die Schwelle zum Menschlichen. Wenn ein Mensch diese Schwelle nicht erreicht, kann er die Natur nicht genießen und die Musik nicht verstehen, er kann die Beziehung zur Frau nicht verstehen, und nicht die Beziehung zu sich selbst. Denn wenn er nicht Frage ist, dann ist dies alles nichts.

Frage: Könntest Du uns helfen, die Beziehung zwischen dem Gebet, so wie du es gerade erläutert hast, und der Nächstenliebe zu verstehen.
Don Giussani: Wenn jemand wirklich die eigene Armut kennt, wenn jemand wirklich bittet... Aber wir bitten nie. Wir warten, aber wir bitten nicht. Auch ein Hund wartet, aber er bittet nicht! - Die erste Befreiung, ja mehr noch, die eigentliche Verwirklichung des Menschen liegt darin, zu bitten. Bei dieser Frage erinnere ich stets an den Vergleich, den ich mal in der Schule gemacht habe. Um den Studenten verständlich zu machen, dass sie nicht suchten - weil alle das suchen, was sie bereits im Sinn haben -, schrieb ich das Wort «omre» an die Tafel. Daraufhin sagte einer der Studenten: «Dieser Priester ist doch verschroben». Er sagte das, weil er glaubte, das von mir geschriebene Wort habe keinen Sinn. Daraufhin sagte ich zu ihm: «Du selbst bist verschroben. Denn eigentlich hättest du fragen müssen: Was soll das heißen? Du hättest fragen müssen! Und ich hätte dir geantwortet: Das wir nicht omre sondern atche ausgesprochen und ist der Vokativ des Wortes `Vater' im Altrussischen». Der Junge hat das Wort dem entsprechend angeschaut, was er schon im Sinn hatte, deshalb konnte er auch nichts mehr lernen. Wenn aber jemand fragt, dann lernt er und entdeckt Neues. Aber alle Leute verhalten sich wie dieser Schüler von mir. Was eine solche Haltung verhindert und uns zum Lernen öffnet, ist das Gebet als Bitte. Jede wahre Bitte ist ein Gebet, weil die Frage, die wahre Frage, die von der Neugier getrieben ist, nichts anderes als ein Ausdruck des Verlangens nach der Wahrheit, das heißt dem Göttlichen ist: Die Bitte um Liebe, die Bitte um die Erfüllung des Ichs, und damit die Frage nach Gott. Danke dir für die Frage nach dem Gebet. Jemand, der die Frage versteht, versteht auch sofort, worum es dem anderen geht. Er kann nicht gleichgültig bleiben, wenn der andere eine Frage hat. Deshalb hilft er ihm umsonst: das nennt sich Nächstenliebe. Wer aber seine eigene Bedürfnisse nicht verspürt, wer nicht den Schmerz des Bedürfnisses lebt, kann nicht verstehen, dass der andere ebenfalls ein Verlangen lebt. Und dann wird der andere lediglich zum Gegenstand seiner Vorstellungen, selbst wenn dabei viel Wohltätigkeit geübt wird: man könnte etwa das Vorhaben verfolgen, mehr Ausgeglichenheit zu verwirklichen. Aber das wirkliche Ziel des Menschen besteht nicht in seiner Ausgeglichenheit, sondern darin, glücklich zu sein. Da mir Gott - Ihm sei's gedankt - die Freude schenkt, täglich von Früh bis Spät von diesen Dingen zu sprechen, wird mir klar, dass das Ziel des Lebens darin besteht, dies anzuerkennen und es anderen mitzuteilen. Stellt euch vor, ihr hättet eine schöne neue Maschine. Und ihr stellt einen Physiker wie unseren Freund Matthew an, um die ganze Maschine zu analysieren, Teil für Teil. Aber auch wenn ihr alle Teile beschrieben habt, könnt ihr noch nicht behaupten, die Maschine zu kennen. Denn um die Maschine zu kennen, muss man sie benutzen können. Man muss die Bedeutung der Beziehung aller Teile untereinander verstehen. Deshalb ist der Mensch ganz verwirrt, verstört, nervös, unruhig und gewalttätig: Denn er analysiert den ganzen Menschen, all seine Sinne. Aber ihm fehlt der Sinn des Ganzen. Deshalb ist Gott einer von uns geworden. Und er hat uns berufen, ihm dabei zu helfen, den Menschen die Bedeutung ihrer «Maschine» mitzuteilen. Wenn man dies nicht tut, dann liebt man auch die eigene Frau nicht, man liebt die Kinder nicht und ebensowenig die Brüder, den Mann - man liebt nichts, ja nicht einmal sich selbst. Dies ist es, wofür es sich zu leben lohnt. Deshalb gibt es keine Möglichkeit eine Freundschaft wie die unsere zu erklären, wenn sie einmal besteht. Unsere Freundschaft beginnt wahr zu sein, wenn sie von nichts motiviert wird, scheinbar von nichts, das heißt, wenn sie von der gemeinsamen Bestimmung motiviert wird. Das ist es, was eine Tochter mit ihrer Mutter verbindet und einen Menschen mit dem fremdesten Menschen, den es für ihn geben kann. Ich kannte Barbara nicht, bevor sie hier her kam. Aber es brauchte weder Monate noch Stunden, sondern nur einen Augenblick, um uns aus einem bestimmten Grund heraus gleich zu verstehen. Deshalb sagte ich euch heute Morgen, so wie der Stall von Bethlehem ein Loch war, das niemand kannte, ebenso sind wir nicht an außergewöhnlichen Erfolgen interessiert. Wichtig ist, dass wir sind. Als ich mit vier Jugendlichen anfing, dachte ich als letztes daran, dass sich unsere Beziehung über die ganze Erde ausbreiten sollte. Aber das hängt von Gott ab. Die Freude und die Fülle des Lebens liegt darin, dem zu entsprechen, wofür wir existieren. Und dann kann man auch die Leute, die auf der Straße an einem vorbeilaufen, nicht mehr anders anschauen.

Frage: Könntest du beschreiben, wie wir aus unserer Erfahrung in der Beziehung zwischen uns und denen, denen wir begegnen, Gewinn ziehen können?
Don Giussani: Wenn du mir einen Brief schreibst, dann lese ich den Brief. Und wenn es ein umfangreicher, tiefsinniger Brief ist, dann interpretiere ich den Brief entsprechend meinen Ansichten. Aber wenn du vor mir sitzt und mir den Brief gibst, dann sage ich dir etwa: «Barbara, was willst du hiermit sagen? Hör mal Barbara, ich bin damit nicht ganz einverstanden». Und du sagst mir: «Aber nein, ich wollte folgendes sagen». Wenn du mir den Brief gibst und dabei vor mir sitzt, dann wird der Brief zum Dialog. Auch das Seminar der Gemeinschaft muss ein derartiger Dialog mit Christus werden. Man braucht nicht unbedingt «Herr» sagen. Das ist zwar auch schön, doch es kommt darauf an, dass sich im Herzen die Frage regt: «Herr, was willst du damit sagen? Was lehrst du mich damit? Was sagt diese Seite hier?» So wird es wie ein Gebet, durch das du lernst. Ansonsten bleibt es ein intellektueller Austausch, ein Streitgespräch, ein Gedankenspiel unter euch. Wenn aber jemand das Seminar mit einer derartigen Religiosität ließt - und die Religiosität ist da vorhanden, wo jemand darum bittet, zu lernen -, und wenn auch deine Freunde in dieser Haltung sind, dann kann es wirklich eine schöne Sache werden. Eine Frage vertieft die Freundschaft, weil wir alle armselig und unterwegs sind. Also regt man sich nicht darüber auf, wenn man nicht versteht, wenn man langsam voranschreitet, und wenn man wiederholt. Denn normalerweise versteht man das, was man nicht weiß, noch nicht. Entschuldigt, aber überlegt mal: in 99 Prozent der Fälle begegnet ihr allen Menschen, auch euren Freunden, so als wären sie Fremde, so als wären sie uns rein zufällig zur Seite gestellt. Wenn du ihnen aber mit wohlwollendem Herzen begegnest, dann bist du ihnen zugewandt, auch wenn du kein Wort mit ihnen sprichst. Es besteht keine Fremdheit mehr zwischen euch: Es herrscht eine neue Menschlichkeit zwischen euch, oder besser zwischen dir und ihnen, es ist wie eine beständig ausgesprochene Bitte: das ist die Frucht des Gebets in der Beziehung unter uns und das nennt sich Nächstenliebe. Was unter euch begonnen hat, ist eine neue Menschlichkeit, die euch zwar nicht sofort alle Leer und Fehler nimmt, aber eine neue Perspektive gibt, die andere nicht wahrnehmen. Es ist wie der Unterschied zwischen dem Bild eines großen Künstlers, das eine Perspektive besitzt, und dem Bild von Kindern, die diesen Sinn für die Perspektive noch nicht haben. In dieser Perspektive zeigt sich, dass es einen Anderen gibt, dass es zwischen mir und Renzo einen Anderen gibt. Denn wenn dies nicht so wäre, dann hätte er mich nicht mit dem Langmut und der Güte behandelt, die er mir in diesen Tagen zuteil werden ließ. Wenn aber diese neuartigen menschlichen Beziehungen nicht unter uns beginnen, dann beginnen sie nirgendwo. Eines jedoch lege ich euch nahe: Es soll ohne jeden Anspruch geschehen.

Frage: Wenn du sagen müsstest, weshalb du Christ bist, was würdest du antworten? Und wie teilt sich dies mit?
Don Giussani: Vielen Dank für diese Frage. Wer mir zuhört, weiß, dass es ein Gebet gibt, dass ich immer bete und auch weiter empfehle: «Veni Sancte Spiritus. Veni per Mariam.» Denn das Christentum ist die Verkündigung, dass Gott auf menschliche Weise in die Welt eingetreten ist. Deshalb vergeht die konkrete Art und Weise mit der Er in die Welt eingetreten ist, nicht mehr. Es ist für alle und für alle Zeiten entscheidend. Deshalb ist das 15- oder 16-jährige Mädchen die Mutter aller Lebenden. Und das Glück des Menschen, aller Menschen, verwirklicht sich (und wird es immer tun) durch ihr Fleisch und noch zuvor durch ihr Herz, durch ihr «Ja», ihr «fiat» - (mir geschehe nach deinem Wort). Was ich den Zehntausenden von Freunden, die ich kennengelernt habe, gesagt habe, konnte ich ihnen aufgrund des Temperaments meines Vaters und meiner Mutter sagen; und ich kann das für immer. Wenn uns also die Ausprägung des Glaubens durch eine bestimmte Freundschaft begegnet ist, dann können wir ihn nicht mehr verlieren! Stellt euch vor, ein Kind hätte in seinen ersten Tagen oder im ersten Monat nach der Empfängnis im Uterus der Mutter Bewusstsein. Stellt euch vor, welche Dankbarkeit und welches Empfinden der Abhängigkeit es gegenüber jenem Fleisch hätte, das es trägt - wenn es schon ein Bewußtsein hätte. Ich verstehe, dass ihr zu klein seid, um derartige Dinge zu sagen. Aber einmal muss man anfangen, sie zu sagen. Denn wir sind auf noch viel engere Weise miteinander verwoben, als das für einen Fötus im Leib seiner Mutter gilt. Dies hättet ihr beim diesjährigen Seminar der Gemeinschaft verstehen müssen, wo es um die Zugehörigkeit ging. Der Mensch zerfällt psychisch in dem Maße, wie er sich nicht in Besitz genommen, das heißt gewollt, geliebt, ernährt, verteidigt und zur Vollendung geführt sieht. Einen zentralen Punkt müsst ihr euch jedenfalls merken: Wir sind Christen, weil der Mensch ohne Christus nach und nach sich selbst verliert, er fängt an, zu schwinden. Vielleicht habe ich euch schon mal gesagt, was der letzte große römische Schriftsteller, Marius Victorinus (er war der «Ideologe» von Julian Apostata), verkündete, als er überraschend seine Bekehrung zum Christentum kund tat und zwar von der damaligen Rednertribüne der Anwälte aus. Er begann seine Rede mit den Worten: «Als ich Christus begegnet bin, habe ich mich als Mensch entdeckt.» Wenn wir dies in gewisser Weise nicht selbst so sagen können, dann nur weil wir noch nicht verstanden haben, was der Glaube ist. Doch kaum dass wir auch nur ein wenig Ahnung davon haben, verstehen wir, dass wir nur dank des Glaubens leben können. Glaube, verstanden nicht als Propaganda, sondern als liebende Leidenschaft. Denn in meinem Herzen denke ich immer, dass ein Mann ansonsten seine Frau nicht lieben und eine Frau ihr Kind nicht lieben könnte, außer in einer verzweifelten Leere. Und in Verzweiflung zu lieben bedeutet, die geliebte Person zum Tode zu verurteilen.
Seid eurer Gemeinschaft treu, auch wenn die Gemeinschaft euch scheinbar nicht befriedigt. Und noch eines abschließend, verzeiht: Wir glauben an Christus aus Liebe zur Vernunft und aus Liebe zum Menschen. Das gilt es erst noch zu verstehen!

Anmerkungen:
1 Vgl. 1 Tm 4,4.
2 Vgl. Romano Guardini, Dante-Studien, Kösel, später Matthias-Grünwald Verlag.
3 Vgl. Barabra Ward, Faith and Freedom, W.W. Norton & Company, New York 1954, p. 4.
4 Vgl. Marius Victorinus, In Epistola ad Ephesios, in Marii Victorini Opera exegetica, II. Buch, Kap. 4, v. 14.