Wort unter uns
Das Werk der Bewegung
Luigi Giussani
Eine Aufzeichnung der Rede von Luigi Giussani zum Abschluss
der ersten Geistlichen Exerzitien der Bruderschaft.
Rimini, 7.-9. Mai 1982 - Zwanzig Jahre nach der Päpstlichen
Anerkennung der Bruderschaft von Comunione e Liberazione
Wo zwei oder drei in Deinem Namen versammelt sind, wollen wir
Deine Gegenwart unter uns anerkennen, einander vergeben und jedem zu Hilfe
eilen, der in Not ist. Wir hören Dein Wort und brechen gemeinsam das Brot
(...) Wir geben einander den Frieden weiter, (...) damit die Menschheit alle
Spaltungen überwinde und eine neue Welt aufbaue.1 Was nun ersehnen wir
anderes, wenn wir uns in die Bewegung einbringen, als dass dies wahr werde?
Und wenn wir dann gemeinsam einen Hymnus singen, wie den
heute Morgen, können wir gar nicht zerstreut genug sein, um nicht eine
tiefe Gefühlsregung zu empfinden. Denn es handelt sich bis ins Detail um
die Beschreibung dessen, wonach wir uns sehnen, worum wir bitten - oder besser
noch - um dessen Offenbarung wir flehen: wo zwei oder drei sich in Seinem
Namen versammeln, erkennen wir Ihn als gegenwärtig an und Seine Gegenwart
bringt eine andersartige Menschlichkeit hervor.
Ich wüsste nicht, mit welchen Worten man diese
andersartige Menschlichkeit besser beschreiben könnte als mit den
eindrucksvollen Worten des Hymnus von heute Morgen2. «Der Tod hat
vernichtet das Leben ... die Herrlichkeit Christi des Siegers [Er ist
auferstanden], erleuchtet auch unseren Morgen. Dies ist der Ursprung und er
enthält schon alles. Von Freude ergriffen, schon beim Aufstehen am
Morgen, lässt Er uns eins sein wie Brüder. [Einem jeden von] uns ...
offenbare sich der auferstandene Christus. Er möge erneut uns begegnen
und beim Namen uns rufen: was geschehen ist möge zu unserer
persönlichen Wirklichkeit werden; Seine Gegenwart, die sich ständig
wiederereignet, möge meine persönliche Wirklichkeit, mein Selbst,
werden. Er möge erneut uns begegnen, Sein Wort soll uns heute entflammen:
Seine Gegenwart sei, was uns entflamme - was das Leben des Menschen aufflammen
lässt, ist nämlich der Beweggrund, der Grund, der Sinn des Lebens.
Und wieder beim Brechen des Brotes erkennen wir das Antlitz des
Auferstandenen: In bestimmten heiligen Zeichen, wie der heiligen Kommunion,
ist es erneut, als berührten wir das Antlitz des Auferstandenen. Was ist
ein Leben voller Freundschaft wie das unsere, wenn nicht eine Eucharistie, die
über den Tag anhält, buchstäblich eine andauernde Kommunion,
die den gesamten Tag prägt? Dort sehen wir das Antlitz des
Auferstandenen! Wann immer wir uns versammeln, Wenn einmütig wir uns
versammeln, möge ein neuer Gast sich hinzugesellen: Sich Seiner Gegenwart
bewusst zu werden, die sich ereignet, dieser Gegenwart, die sich für die
gesamte Geschichte ereignet, ist stets eine Neuheit. Zur Stärkung des
wankenden Glaubens: wir brauchen nicht anders zu sein, um kraft des Heiligen.
Geistes anders zu werden. Wir sind schwach, und ebendiese Schwachheit hat Er
bereits überwunden, und Sein Sieg wird offenbar sein, wird sich
offenbaren. Er zeige die glorreichen Wunden zur Stärkung des wankenden
Glaubens, zeigen wird er die gesamte Weltgeschichte, die Geschichte in der Er
Fleisch angenommen, sich offenbart und mitgeteilt hat. In dieser
österlichen Freude ..., diese Freude ist lediglich die Ankündigung,
dass das Leben den Tod vernichtet hat, die Liebe die Sünde vergeben, dass
die Herrlichkeit Christi auch unseren Morgen erleuchtet. Freude findet man
ausschließlich hier, suchen wir nicht anderswo nach ihr, denn es gibt
keine andere Wurzel der Freude als diese! In dieser österlichen Freude,
da uns neue Unschuld verliehen wurde: in der Freude der Verkündung des
auferstandenen Christus, wird uns ständig neue Unschuld verliehen.
Jedesmal wenn uns bewusst wird, wer Er ist, diese Gegenwart, die sich nunmehr
fortwährend ereignet, sind wir erfüllt von Reinheit, denn hier liegt
die Reinheit, im Glauben.
Ist dies nicht etwa die Beschreibung des Ideals der Bewegung?
Also dachte ich mir: Warum nicht denjenigen behilflich sein,
die in der Bewegung erwachsen geworden sind, den Erwachsenen in der Bewegung,
warum nicht ihnen helfen zu einem Leben in persönlicher Verantwortung,
wie es einem Erwachsenen gebührt, in Freiheit, wie es einem Erwachsenen
gebührt, voller Kreativität, gemäß der Berufung seiner
Person, wie es einem Erwachsenen gebührt? Es kommt also darauf an, dass
der Erwachsene, der, der im Schoße der Bewegung erwachsen geworden ist,
behutsam an den Punkt gelange, der wesentlich ist - und dieser Punkt, das bist
du! Aus diesem Grund soll der Vereinscharakter verschwinden, welcher
zwangsläufig Engführung mit sich bringt. (Das heisst nicht, den
einzelnen aus etwas herausreißen, sondern ihn befreien, damit er das
Leben der Bewegung in der Freiheit des Geistes erlebe.) Folglich sind auch all
diejenigen, die in der Bewegung eine Verantwortung tragen (ein Großteil
der Erwachsenen) zu befreien, zu befreien zu einer Freiheit, die sie von der
Last oder den Mühen oder den beschwerlichen Umständen ihres Dienstes
befreit. Denn es gibt einen Punkt, an dem man «Ich» sagen muss,
nämlich angesichts meiner Bestimmung, das heißt im Angesicht
Christi. Dann und nur dann, entdecken wir uns wirklich als Brüder: Es ist
das Bewusstsein seiner Gegenwart, die mir plötzlich auch diejenigen
wahrlich gegenwärtig werden lässt, die Er auf meinen Lebensweg
gestellt hat.
Was anderswo stets Frustration, ist hier nur süßer
und andauernder Gehorsam; was anderswo stets Regelzwang, ist hier nur
Ausgangspunkt und Loslassen; was anderswo stets Abnutzung und
Verschleiß, ist hier nur Stütze und die Gelegenheit zu wachsen, was
anderswo stets Verwirrung, ist hier nur das Aufscheinen des schönen Abenteuers.3
Diese Worte von Charles Péguy, die zu vertiefen ich
euch ans Herz lege, sollten das Klima beschreiben, das in unseren Gruppen der
Bruderschaft herrscht. Keiner urteile über sich selber, oder gar
über die anderen, vielmehr sollte jeder den Blick erheben, sein Gesicht
erneut erheben, vor dem Angesicht Gottes, wie Kinder, die ihre Mutter
anschauen. Keiner urteile über sich selber, oder über die anderen,
doch ist es recht, dass das Bild des Ideals im Herzen brenne und es unser Boot
jeden Morgen aufs Neue aufs Meer hinaustreibe. In diesem Sinne sollten
Péguys Worte wirklich das Ziel einer idealen Freundschaft vor Augen
stellen, das Ziel des idealen Zusammenlebens anzeigen; sie sollten auf den
Horizont einer Menschlichkeit verweisen, die wirklich und wirksam anders ist
in ihrer Weise zu denken, zu fühlen und sich zu verhalten. Damit Ihr Euch
auf diesen Weg macht, habe ich Euch dazu eingeladen, Euch
zusammenzuschließen - uns zusammenzuschließen.
Neulich habe ich bei einem Treffen in Mailand festgestellt,
dass seit etwa 15 Jahren, all den Jahren unseres gemeinsamen Weges,
Gemeinschaft und Befreiung auf die Werte gesetzt hat, die Christus gebracht
hat. Sicherlich hatte all die Mühe, die man sich anlässlich
gemeinsamer Aktivitäten caritativer, kultureller, sozialer und
politischer Art machte, den Zweck, uns selbst und die Dinge in Bewegung zu
setzen, gemäß dem Ideal, gemäß der Werte, die Christus
uns mitgeteilt hat. Doch ganz am Anfang der Bewegung war dem nicht so. Wie ich
gestern andeutete, wurde in den ersten Jahren der Bewegung, anfangs, nicht auf
den Werten aufgebaut, die Christus gebracht hatte; man baute vielmehr auf
Christus selber, mag es auch noch so naiv erscheinen, doch das Thema unseres
Herzens, der letztlich überzeugende Beweggrund, war Christus selbst und
folglich die Tatsache Seines Leibes in der Welt, die Kirche.
Anfangs baute man auf etwas beziehungsweise versuchte man auf
etwas aufzubauen, das sich gerade ereignete und nicht auf den
überlieferten Grundwerten und folglich nicht auf unserer
zwangsläufigen Interpretation von ihnen: man versuchte auf etwas
aufzubauen, das sich gerade ereignete und das uns widerfahren war. So
einfältig und ausgesprochen unangemessen dies auch sein mochte, es war
eine Haltung der Reinheit. Weil wir diese Haltung aufgegeben und gegen eine
solche eingetauscht haben, die in erster Linie «kulturelle
Umsetzung» anstrebt, mehr als die Begeisterung für eine Gegenwart,
deswegen erkennen wir - im biblischen Sinne des Wortes - Christus nicht, wir
kennen das Geheimnis Gottes nicht, denn Er ist uns nicht vertraut.
Es geht um Christus als Sinn der Existenz, um Christus als
Antrieb unserer Kreativität, nicht jedoch vermittels einer Auslegung,
sondern um ihn ganz unmittelbar: keine andere Haltung als letztere kann als
christlich bezeichnet werden. Alles andere - die Mobilisierung unserer
Existenz und Kreativität - folgt später. Christus als Sinn der
Existenz und Antrieb der Kreativität gilt es wiederzugewinnen. Ich
wünsche von ganzem Herzen, diese ursprüngliche Reinheit
wiederzugewinnen, welche das Leben unserer Bewegung kennzeichnete und so
vielen heute unbekannt ist: eher noch kennen sie sie dank der schlichten
christlichen Tradition ihres Elternhauses, als dass sie ihr in unserer Mitte
in unmittelbarer Schlichtheit begegnet wären. Aufgrund dieses Wandels ist
es nunmehr so leicht, unsere Bewegung für ein Engagement zu halten, das
ganz in Aktivismus, Organisation oder Kulturarbeit aufgeht und das zudem
oftmals auch noch ganz elitär und autoritär aufgefasst und geleitet
wird.
Mit der Bruderschaft hingegen wollte ich zu einem Engagement
einladen, das sich in erster Linie als Hilfe für das Herz eines jeden
versteht, als Hilfe, damit jeder im Angesicht Christi voranschreite.
Darüber hinaus wollte ich sicherstellen, dass Personen in immer
größerer Glaubensreife das Werk der Bewegung errichten, mit
kreativer Gewissheit also. All die Mühe, die mitunter schmerzhafte
Mühe, die Energie, die viele von Euch einsetzen oder gar erleiden im
Dienste der Bewegung, bedürfen der Unterstützung. Euch muss am
Grunde eures Herzens direkt geholfen werden, an der Wurzel dessen, weshalb
eure Person sich einsetzt und diese Mühen auf sich nimmt. Deswegen will
ich den Erwachsenen, so sie dies wünschen, eine ganz unmittelbare,
persönliche Hilfe anbieten, die ebendeshalb gewährleistet, dass in
freier Weise gereifte Personen das Leben der Bewegung prägen. Nun gut,
ich möchte jetzt einige Punkte vertiefen, die gestern abend im
Gespräch mit einigen Leitern der Bruderschaft zum Vorschein kamen. Die
betreffen das Verständnis unserer Bruderschaft gemäß ihrer
Satzung, die von der heiligen Kirche angenommen wurde. Was wir beginnen, ist
ein Weg. Das gilt auch für das Bewusstsein seiner Bedeutung, das
Bewusstsein davon, worin unsere Schritte bestehen. Was man sich
diesbezüglich zu denken, sich darunter vorzustellen oder dafür zu
verwirklichen hat, wird eine Begleitung sein, wird der Weg sein, auf dem es
sich zeigt. Wir stehen am Anfang, lassen wir uns also nicht verwirren
angesichts dessen, was scheinbar noch unklar ist, angesichts der Beziehungen,
insbesondere derjenigen zur Bewegung, die scheinbar Besorgnis erregen, nicht
klar definiert oder nicht ausreichend geeint sind. Machen wir uns darüber
keine Sorgen, lasst uns ernsthaft danach trachten, den springenden Punkt
unserer Initiative, unseres Engagements zur erfassen. Und der springende Punkt
ist, was ich vorhin sagte: eine Hilfe für unser Herz, auf dass unser
Leben im Angesicht Christi voranschreite. Alles weitere, was aus der
Ausrichtung der Bruderschaft auf dieses Ziel folgt, wird sich mit der Zeit klären.
Die Bruderschaft dient also zum Zwecke, den Willen all
derjenigen zu schützen, zu leiten und zu unterstützen, die
beabsichtigen, sich bis zum Äußersten auf die Erfahrung der
Bewegung einzulassen. Es braucht also lediglich Personen, die sich auf die
Erfahrung der Bewegung bis aufs Äußerste einlassen möchten,
oder besser, für die die Erfahrung der Bewegung eine Auseinandersetzung
mit ihrem Glauben darstellt, eine Auseinandersetzung mit ihrem Bewusstsein als
Menschen und Christen. Die Erfahrung der Bewegung ist, was ich vorhin mit dem
kurzen Verweis auf unsere Geschichte angedeutet habe. Die Erfahrung der
Bewegung wird also gerade in unseren Versammlungen, in den Briefen, die wir
uns schreiben, in den Beziehungen, die wir aufbauen werden, Klarheit und Tiefe
finden. Jeder der dieses Anliegen hat, kann daher der Bruderschaft beitreten.
Im Artikel 5 der Satzung heißt es: Mitglieder sind diejenigen, «die
sich darauf einlassen, vollkommen den Geist der Bruderschaft zu leben, dem
Wesen wie der Form nach».
Das Wesen des Lebens der Bruderschaft besteht in dem, was ich
vorhin andeutete: den Hymnus der Laudes Wirklichkeit werden lassen, die
Schaffung von menschlichen Bereichen, in denen die Gewissheit des Benedictus
tatsächlich nicht nur ein Teil der morgendlichen Laudes werde, sondern
Antrieb im Leben, Horizont des Lebens, das, was im Leben das Herz bestimmt.
Die Form der Bruderschaft ist unsere Gemeinschaft, ist die Weggemeinschaft.
Diese Gemeinschaft ist zunächst die Bruderschaft als solche.
Fälschlicherweise spricht man von «den Bruderschaften»: es ist
hingegen «die» Bruderschaft, welche von der heiligen Kirche
anerkannt wurde. Die Bruderschaft zeichnet sich in der Regel durch die freie
Entscheidung von Mitgliedern aus, die sich in Gruppen von Freunden
zusammenschließen. Die Bruderschaft bildet sich üblicherweise durch
oder innerhalb von Freundesgruppen, die sich frei zusammenschließen. So
ist beispielsweise das «Teatro dell'Arca» [eine Theatergruppe aus
der Nähe von Rimini (Anm. d. Ü.)]. Anlass zur Bildung einer Gruppe
der Bruderschaft. Oder wie es in einem Brief heißt: «Lieber Don
Giussani, wir sind eine Gruppe von Lehrern, die in diesem Jahr versucht hat,
die Erfahrung der Bruderschaft zu leben. Was uns anfangs dazu bewogen hatte,
uns zusammenzutun, war der Wunsch, unseren Schülern die Erfahrung der
Bewegung zugänglich zu machen. Doch dann merkten wir, dass dies nicht
genug war, oder besser, dass dies wesentlich mehr bedeutete: in der
Gemeinschaft unter uns kam unsere ganze Person ins Spiel. Unsere Sehnsucht
nach der Wahrheit unserer selbst begann in der Tat unser Leben so sehr zu
bestimmen, dass die Bewegung als solche mehr und mehr den Horizont unserer
Erziehung bestimmte, unserer eigenen und derjenigen, denen wir
begegneten». Auch das kann ein Anlass sein: Lehrer in einem bestimmten
Umfeld, die sich aus den genannten Gründen zu einer Gruppe der
Bruderschaft zusammenschließen. Es kann aber auch sein, dass Leute eine
landwirtschaftliche Genossenschaft gründen möchten, und sich dies
zum Anlass für etwas Größeres, entschieden und endgültig
Menschlicheres nehmen. Oder aber es sind Freunde der Familie oder Leute, die
an der Diakonie teilnehmen, ebenso wie jene, die eine Genossenschaft
gründen, sich fragen: Was bedeutet für uns die Arbeit in der
«Diakonie», die uns zu «Managern» der Gemeinschaft macht,
all dieser anderen Leute, für die wir, sozusagen, Zeit und Leben
hingeben? Was ist mit uns? Und um jene anleiten zu können, um ihnen ein
Zeugnis zu sein, sollten wir zunächst selbst leben! Beginnen wir selbst
zu leben! Und sie gründen eine Gruppe der Bruderschaft. Eine solche
Gruppe kann auch aus Leuten bestehen, die in ganz verschiedenen Städten
wohnen. Der Ausgangspunkt für den Wunsch so zu leben ist vollkommen
beliebig.
Daher kann also jeder, in aller Freiheit, einen
Beitrittsantrag einreichen, der dann von der zentralen Diakonie (darauf werde
ich im folgenden noch eingehen) angenommen werden muss, nach vorheriger
Feststellung der Aufrichtigkeit der Antragsteller. Die Verantwortung der
Antragstellung ist eine persönliche.
Merkmal solcher Solidarität sollte wahre Freundschaft
sein, denn wahre Freundschaft ist Wegbegleitung zur Bestimmung, nämlich
zu Christus. Freundschaft definiert sich durch den Zweck des Zusammenseins,
durch den Grund ihrer Entstehung. Wahre Freundschaft, die Freundschaft, bei
der der Mensch bis aufs Herz getroffen wird, ist eine Wegbegleitung hin zur
Bestimmung. Deshalb ist die Freundschaft innerhalb der Gruppen der
Bruderschaft eine persönlichkeitsbildende, oder nennen wir es auch
asketische Freundschaft, denn sie versteht sich als Flussbett, das zur
Wahrheit seiner selbst führt, das heißt zu einer wahren Beziehung
zu Christus. In diesem Sinne wird eine so geartete Freundschaft zur
Lebensregel, einer Regel für den persönlichen Glauben.
Zwei Dinge möchte ich an dieser Stelle sagen (eines
nannte ich bereits, doch werde ich es als zweiten Punkt nochmals wiederholen).
Erstens, angesichts der Ernsthaftigkeit, die wir verkünden und zu leben
versuchen, bestreiten wir nicht deren Schwierigkeit. Doch - und dies ist der
zweite Punkt, den ich wiederholen möchte - fürchtet euch nicht:
notwendig ist allein der Wunsch, uns mit unserem ganzen Leben auf die
Erfahrung, der wir begegnet sind, einzulassen (auf die Erfahrung, die uns
zuteil wurde, nicht auf die Bewegung als Organisation) und das reicht. Nicht
umsonst hat der Heilige Stuhl, die Kirche, die Reife der Auseinandersetzung
mit dieser Erfahrung anerkannt, hat er diese Erfahrung in ihrer reifsten und
freiesten Form anerkannt, nämlich den Gruppen der Bruderschaft. Es kommt
also darauf an, wirklich den Herrn zu ersehnen, sich mit Ihm zu
beschäftigen, gemäß der Gnade, die uns zuteil wurde,
gemäß der Gnade der Erfahrung, die zu berühren uns geschenkt wurde.
Es ist überflüssig in Erinnerung zu rufen, dass
eine derartige Gemeinschaft vor allem - «zunächst und vor
allem» im wörtlichsten Sinne - der Fähigkeit zur Vergebung
bedarf, und zwar, wie ich zu sagen pflege, der Fähigkeit, das
Andersartige zu umarmen. Ihr, die Ihr mit Ehemann oder Ehefrau zusammenlebt,
solltet mich dies lehren: das erste grundlegende Merkmal, die Mitgift für
ein gemeinsames Lebens - umso mehr je enger das Zusammenleben ist - ist die
Vergebung. Es bedarf also der Fähigkeit, das Andersartige aufzunehmen,
und damit auch der Fähigkeit, sich korrigieren zu lassen, welche Ausdruck
für das Bewusstsein ist, unterwegs zu sein, eine Bestimmung zu haben und
daher eine Hilfe, das Bewusstsein zu vertiefen, eine Hilfe zur Vertiefung der
Erkenntnis und des Bewusstseins. Vergebung, Korrektur, Vertiefung des
Bewusstseins. Dies sind gewiss die notwendigsten Güter für eine
Gemeinschaft wie die Bruderschaft sie mit sich bringt.
Die offensichtlichste Folge dessen, was diese Freundschaft zu
sein beabsichtigt - nämlich das Sicheinlassen auf Christus
gemäß der Gnade, die wir erfahren haben, - die offensichtlichste
Folge sollte eine wahre Solidarität unter allen Mitgliedern sein. Denn
ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand)
angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie,
nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid «einer» in Christus Jesus.4
Dies, welches das Geheimnis der gesamten Kirche ist, möge beginnen,
sichtbarer zu werden, sich zu offenbaren, sich kundzutun dort, wo Menschen so
sehr überschüttet und bereichert wurden wie wir. Fangen wir an, dies
offensichtlich zu machen! Dies ist die Bruderschaft, dies ist eine Gruppe der Bruderschaft!
Dabei handelt es sich nicht um eine
gefühlsmäßige Solidarität. Sentimentalität zeichnet
sich stets durch einen zweideutigen Ursprung aus: sie beansprucht, an die
Person heranzutreten, sie zu umarmen, doch tut sie dies aus einseitigen
Gründen oder um etwas damit zu bezwecken. Solidarität ist echt und
nicht sentimental, wenn der bestimmende Beweggrund die Person in ihrer
Gesamtheit ist, das heißt, die Person mit Blick auf ihre Bestimmung.
Nicht einmal zwischen Ehemann und Ehefrau herrscht solche Solidarität!
Die Aufmerksamkeit, die einen erfüllt, wenn man voller Leidenschaft mit
anderen zusammenlebt, zwingt mich zu sagen, dass letztlich eine gewisse
Befangenheit auch zwischen Mann und Frau herrscht.
Daher ist es eine nicht-sentimentale Solidarität, die
die ganze Person umfasst, die Person also im Hinblick auf ihre Bestimmung: es
geht darum, die Bestimmung der Leute zu bejahen, die um uns herum sind. Wie
fern sind wir noch von solch einer Auffassung der Beziehungen! Doch ohne diese
Solidarität sind wir unmenschlich, menschlich unterentwickelt. Allein ein
gewisser Selbsterhaltungstrieb, eine instinktive Selbstverteidigung bewahrt
uns vor einer totalen gegenseitigen Fremdheit - so unabdingbar sentimental und
berechnend, so einseitig sind unsere Beziehungen!
So wie die Bruderschaft beschaffen ist, liegt die
Verantwortung für sie gänzlich bei denjenigen, die sie leben -
gänzlich! Insbesondere ist die Bruderschaft, jede Gruppe der Bruderschaft
völlig unabhängig von der Struktur der Bewegung. Gebt bitte acht!
Sie ist nicht unabhängig von der Bewegung, sie ist vielmehr die
höchste Form und das Herz der wahren Bewegung, aus ihr kommt die Wahrheit
der Bewegung. Der Bewegung kommt es zu, ihr ein intelligent eingesetztes,
eifriges und großzügiges Hilfsmittel zu sein. Die Bewegung ist eine
Erfahrung von Menschen und somit das Beziehungsgeflecht der Leute, die diese
Erfahrung leben. Deshalb ist die Bruderschaft gleichsam der Gipfel der
Bewegung und gleichzeitig ist sie ihr Herz, ihre Wurzel. Wie es gestern
hieß, verwirklicht sich erst in ihren Formen der Solidarität die
Bewegung wahrhaft und in Reife.
Jede einzelne Gruppe ist derart autonom, dass sie ihre eigene
Regel selbst festlegt. Wir als Leitung der Bruderschaft verlangen lediglich,
dass drei Punkte gewahrt bleiben, drei Bestandteile dieser Regel (gestaltet
sie nach Belieben, doch diese drei Punkte sollten beachtet werden): erstens,
das Gebet; zweitens, als Symbol und Zeichen der Armut, die treue Einzahlung in
die Gemeinschaftskasse der Bruderschaft (was im folgenden noch näher
erläutert wird) und drittens einen letzten Gehorsam gegenüber der
Diakonie des Zentrums, welche die Bruderschaft leitet und Verantwortung
gegenüber der kirchlichen Autorität, gegenüber der Kirche
trägt. Die Diakonie des Zentrums trägt die Verantwortung für
sämtliche Gruppen vor der Kirche, deshalb bitten wir um einen letzten
Gehorsam gegenüber der Diakonie. Ich bestehe auf dem Ausdruck
«letzter Gehorsam gegenüber der Diakonie», denn in Anbetracht
dessen, was vorhin erläutert wurde, kann die Diakonie offensichtlich
nicht den Anspruch erheben, auf Einzelheiten oder auf die Praxis eures Lebens
in der Bruderschaft einzugehen. Es sei denn, um auf einen Weg der Askese
hinzuweisen, im Einklang mit der Erfahrung der Bewegung, oder um eventuelle
grobe Fehler zu berichtigen. Dieser Gehorsam dient gleichsam als Schutz
einerseits und Richtschnur, ideale Weisung andererseits.
Gemäß der erzieherischen Tradition der Bewegung
sollte jede Gruppe - eben hinsichtlich der Askese - eine Person bestimmen, die
es für einen von der Gruppe festgesetzten Zeitraum übernimmt, zur
Korrektur aufzurufen, die sich um Einheit bemüht und den anderen ihre
Hilfe anbietet, also einen Verantwortlichen. Ich sage «gemäß
der erzieherischen Tradition der Bewegung», denn die Gegenwart einer
Autorität ist wesentlicher Bestandteil unserer Vorstellung von
Erziehung4.
Es wäre wünschenswert, dass jede Gruppe einen
Priester in ihrer Mitte hat oder zumindest als Bezugspunkt, um Rat und Hilfe
zu suchen. Innerhalb der Bruderschaft siedelt sich der Priester als
Gläubiger an, als Getaufter; es ist deshalb bezeichnend, dass viele der
Bewegung zugehörige Priester, der Bruderschaft mit Aufmerksamkeit
gegenüberstehen, so sehr, dass auch sie zwei Tage oder ein Wochenende
opfern, um bei dieser Versammlung anwesend zu sein: es ist bezeichnend
für die Intelligenz unserer Erfahrung; seinerseits fühlt sich der
Priester wie zurückverwiesen auf den Ursprung seiner ganzen Erscheinung
einschließlich seines Priesteramtes, denn worauf auch das Priesteramt
baut, ist der Glaube und die Taufe. In diesem Sinne ist der Priester, jedweder
Priester, ein Mitglied der Bruderschaft, wie jedes andere (es können auch
drei oder vier Priester in einer Gruppe der Bruderschaft sein). Es ist aber
selbstverständlich förderlich, wenn jede Gruppe der Bruderschaft zu
ihrer Unterstützung einen Priester als geistlichen Beistand bestimmt. Das
Auswahlkriterium ist klar: dass er die Erfahrung der Bewegung mit Herz und
Verstand wohlwollend betrachtet und sich mit ihr identifizieren kann (er muss
nicht unbedingt der Bewegung angehören, denn es kann Priester geben, die
derart christlich sind, dass sie den Wert und die Ursprünglichkeit einer
vom Heiligen Geist erweckten Erfahrung so sehr verspüren, dass sie ihre
Person als Hilfe anbieten und dabei bereit sind, sich in jene Erfahrung hineinzuversetzen).
Die Bruderschaft als solche sichert geistliche
Unterstützung zu durch die regelmäßige Veranstaltung von
Einkehrtagen. Nicht dass jeder gezwungen wäre daran teilzunehmen: es
kommt, wer will, denn ich hoffe, es ist klar geworden, dass dies alles im
Zeichen absoluter Freiheit steht. Was in der Geschichte Bestand hat, was
konstruktiv ist, ist allein das, was in absoluter Freiheit entsteht.
Kreativität entsteht aus Freiheit.
Die Bruderschaft als solche sichert also geistliche
Unterstützung zu durch die regelmäßige Veranstaltung von
Einkehrtagen, bei denen auf theologische und asketische Themen eingegangen
wird, gemäß der Eingebung unserer Erfahrung und mit besonderer
Bezugnahme auf die liturgische Zeit, wozu uns das Dekret anhält.
Die einzelnen Gruppen können selber ihren Einkehrtag
halten, beispielsweise eine halbtägige Einkehr organisieren -, doch da
der Einkehrtag der einzig vorgegebene Moment ist (alles übrige ist dem
Leben der einzelnen Gruppen überlassen), sollte eine solche Initiative
stets dem Verantwortlichen vor Ort mitgeteilt werden. Die Einkehr kann
für einzelne oder für mehrere Gruppen veranstaltet werden, je nach
dem, was angemessen erscheint. So zum Beispiel mag es angebracht scheinen,
Einkehrtage vor Ort anzubieten, für sämtliche Gruppen einer Region.
Möchte jedoch eine Gruppe die Einkehr mit ihrem Priester halten, so tue
sie dies. In jedem Fall, müssen diese Einkehrtage von Priestern geleitet
werden, die sie gemeinsam mit mir vorbereiten. Ich werde mich
regelmäßig mit den Priestern treffen, welche die Einkehrtage
leiten, um gemeinsam die theologisch-asketische Richtung zu vertiefen,
gemäß der jeweiligen Linie der Bewegung, die jene Einkehrtage
mitteilen sollen.
Freier als so geht's nicht! Doch tiefer verankert in die
Erfahrung der Bewegung geht's auch nicht mehr!
Die Gruppen können mir, im Einvernehmen mit dem
Verantwortlichen vor Ort, Namen von Priestern für diese Aufgabe
vorschlagen. Eine Gruppe sagt: «Wir möchten die Einkehr mit Priester
Soundso halten»; also lassen sie mir unmittelbar oder durch den
Verantwortlichen vor Ort, den Namen jenes Priesters zukommen. Oder aber 5-6
Gruppen oder gar die gesamte Region möchten gemeinsame Einkehrtage
halten, dann nennen sie mir einen Priester.
Diejenigen, die keiner bestimmten Gruppe angehören,
werden sich mit dem jeweiligen Verantwortlichen vor Ort einigen, um an einem
der Einkehrtage teilzunehmen. Da es der Einzelne als Person ist, der an der
Bruderschaft teilnimmt, gibt es viele Personen, die noch keiner Gruppe
angehören. Es wird allgemein empfohlen, sich möglichst in Gruppen
zusammenzuschließen. Zumindest für den Einkehrtag jedoch sollte man
das tun, einzig und allein deshalb, weil es notwendig ist, einen Bezugspunkt
zu haben. Wer in Absprache mit dem Verantwortlichen eines Gebietes zu keiner
Gruppe gehört, kann auch nach freier Wahl an einem der veranstalteten
Einkehrtage teilnehmen.
Mehr Freiheit geht gar nicht. Eine tiefere Verankerung in der
Erfahrung der Bewegung geht auch nicht! Was uns am Herzen liegt, das Werk, das
es aufzubauen gilt, ist, wie aus dem Brief, den ich euch geschrieben habe,
hervorgeht, die Bewegung. Dieses Werk gehört mit zum Zweck der
Bruderschaft. Das Werk, das wir aufbauen möchten, besteht darin, dass
sich diese Erfahrung von Glauben und Menschlichkeit, so weit wie möglich
verbreite und vertiefe. Was wir nun von der Bruderschaft erwarten, ist, dass
diese viele Leute hervorbringe, erziehe und heranreifen lasse, die an der
Verbreitung dieser Erfahrung mitwirken, was gleichbedeutend ist mit dem Aufbau
der Bewegung. Denn die Bewegung wird nicht von der Organisation aufgebaut,
sondern vielmehr vom Leben der Personen. Die Organisation ist ein Werkzeug.
Sie ist wie ein Flussbett: nicht das Flussbett ist der Fluss, sondern das
Wasser, das darin fließt. In diesem Sinne ist die Institution der
Bruderschaft wahrlich ein Aufruf zu völliger Reinheit bei unserem
Engagement in der Bewegung.
Dass wir etwas mit der Bewegung zu tun haben, beruht
ausschließlich darauf, dass der asketische Reifungsprozess der eigenen
Person, unser Heranreifen in der Beziehung zu Christus, unweigerlich ein
größeres Maß an Verantwortlichkeit und Leidenschaft für
das Leben der Bewegung mit sich bringt. In einem Brief an mich heißt es:
«Ich bitte um Aufklärung in der Frage über die Notwendigkeit,
CL anzugehören, um der Bruderschaft beitreten zu können, ich meine
CL so wie es vor Ort organisiert ist». Dies ist eine heikle, doch
verständliche Frage: es geht ja nicht nur um einen bestimmten Ort. Wir
sind Menschen und als solche sind wir engherzig, lästig,
besitzergreifend, verlieren im Namen der Wirksamkeit an Wirksamkeit, obwohl
nur zu fünft, geraten wir in Zwietracht und verfolgen hartnäckig
drei verschiedene Ansichten; dies alles ist menschlich und wir dürfen
nicht vergessen, es zu beichten, denn es handelt sich tatsächlich um
Sünden. Wie dem aber auch sei, der zitierte Satz birgt ein
Missverständnis: CL ist keine Organisation vor Ort, sondern die
Erfahrung, von der ich sprach. So ist es nicht notwendig, an den
Veranstaltungen, wie sie vor Ort gestaltet werden, teilzunehmen, um CL
anzugehören und folglich der Bruderschaft. Ich behaupte, wer zur
Bruderschaft gehört, ist in erster Linie von CL; besonders wer der
Bruderschaft zugehört ist von CL! Selbst wenn daher die Organisation von
CL im eigenen Umfeld nicht nur unbefriedigend bleibt, sondern sogar unserem
gesunden Menschenverstand, der eigenen Aufgeschlossenheit und
Flexibilität scheinbar widerspricht, so dürfen wir nicht
gleichgültig bleiben; wir werden beten, auf dass die Lage sich
ändere, doch Alternativen werden wir keine schaffen. Was die Organisation
betrifft, kann es keinerlei Alternativen geben. In Bezug auf die Organisation
verträgt der Organismus keine Alternative: nur die Organisation (ich oder
der Rat) in ihrer Eigenschaft als solche können einem Verantwortlichen
seine Autorität entziehen: alles andere wäre nur schlimmer,
wäre ein noch schlimmeres Übel. Die Bruderschaft ermöglicht es
erstens, die Erfahrung in aller Freiheit dem eigenen Temperament und der
eigenen Geschichte entsprechend zu leben, und zweitens, Werke zu
hervorzubringen: nicht eine Organisation, die sich von der Bewegung
unterscheidet, sondern Werke. Keiner kann dir beispielsweise verbieten, eine
Genossenschaft zu gründen oder eine Zweigstelle des ADAC oder eine
caritative Initiative für ältere Leute deines Gebiets ins Leben zu
rufen. Keiner kann dir dies verbieten, nicht einmal der Leiter der Diakonie.
Ich lege Wert darauf, dass dieser Punkt klar ist, denn nicht
nur kann keine Feindseligkeit oder alternative Haltung zwischen Bruderschaft
und CL als Struktur bestehen. Die Bruderschaft ist vielmehr gleichsam ein
wirksames Korrektiv, das sich langsam zugunsten einer Flexibilität und
Großherzigkeit, eines größeren Einfühlungsvermögens
und einer Freiheit auch bezüglich der Organisation niederschlägt.
Wir sollten einander vergeben, in erster Linie insofern wir Teilhaber
derselben Erfahrung sind. Außerdem setzt die Bruderschaft eine Art
Stachel ins Fleisch; sie ist ein wenig «schelmisch». Nehmen wir an,
dass die Diakonie eine Bruderschaftsgruppe bildet und andere, die unzufrieden
sind mit der Diakonie, eine andere Gruppe - dies wäre möglich, mehr
noch, es entspricht der Wirklichkeit. Dann verlange ich weiter nichts - ich
weiß selbst, was der Mensch ist, seine Schwächen, seine
Verschlossenheit. Doch können «diese Leute» nicht behaupten,
einer Bruderschaft gemäß zu leben, wenn die Liebe, die innerhalb
jeder Gruppe der Bruderschaft herrschen sollte, nicht auch nach einer
Öffnung, nach gegenseitiger Vergebung, nach Verbesserung und Vertiefung
der Beziehung mit der anderen Gruppe strebt. Denn die Bewegung ist eine
einzige, die wahre Bewegung ist eine einzige! Ich meine damit nicht, dass die
andere Gruppe der Bruderschaft sich der von der Diakonie gebildeten beugen
sollte, denn es könnte sehr wohl sein, dass sie recht hat, wer weiss. In
der Freiheit liegt eine gegenseitige Verbesserung - denn die correctio
fraterna, das «Sich gegenseitig aufrichten», ist nicht möglich,
wenn nicht in Freiheit.
Ich bin mir sicher, dass ihr noch fern seid vom
Verständnis der großartigen Liebe für eure Freiheit und der
großartigen Leidenschaft für die Wahrheit, die die Bewegung
hervorbringt. Die Bewegung hat eine derartige Leidenschaft für die
Wahrheit, dass sie, als Folge, eine unvermeidliche Leidenschaft für die
Freiheit hegt: ansonsten wäre vor 30 Jahren niemand gekommen. Wehe
demjenigen also, der die Bruderschaft missbraucht, um die einen oder die
anderen ausschließen zu wollen, um sich an der Institution zu
rächen (CL als Organisation) oder um jene auszuschalten, die sich nicht
dem eigenen Managerbestreben fügen.
Liebe Freunde, im Angesichte Christi, so wie Er uns in der
Geschichte seines Leibes, der Kirche, die den tiefsten Inhalt unserer Bewegung
bildet, verkündet wird, ist es unmöglich, sich nicht gegenseitig zu
umarmen, obgleich sämtliche Verschiedenheiten zwischen uns bleiben werden
(sie bestehen zwischen Eheleuten, wieviel mehr erst zwischen Fremden!). Doch
die Verschiedenheiten dürfen nicht ausschlaggebend werden für die
Anerkennung unserer Beziehungen, denn Vergebung bedeutet die Annahme der
Verschiedenheit: die Vergebung ist das erste grundlegende Merkmal der
Beziehung zwischen Gott und uns (dies nennt sich Barmherzigkeit), es ist daher
die erste Bedingung für die Beziehung zwischen Mensch und Mensch,
zwischen Mann und Frau, unter den Leuten. Die erste Bedingung ist nicht die
Anziehungskraft, sondern die Vergebung. Denn die Anziehungskraft - so mein
guter Freund der Dichter Giacomo Leopardi - verbirgt sich hinter dem Gesicht.
Im vorhin zitierten Brief heißt es weiter: «Zu
behaupten, dass die Bruderschaften im Dienste der lokalen CL-Gemeinschaften
stehen, bedeutet bei uns, dass die Mitglieder der Bruderschaft gehalten sind,
in den bereits existierenden Werken mitzuarbeiten». Keineswegs! Die
Bruderschaften stehen im Dienste der Bewegung; doch die Art und Weise des
Dienstes an der Bewegung, dort wo die Bruderschaft anwesend ist, geht durch
die Freiheit derer hindurch, die sie leben. Dass die Bruderschaft im Dienste
der Bewegung steht, bedeutet nicht, dass ihre Mitglieder gehalten sind, an den
Werken mitzuarbeiten, die bereits existieren: die Mitglieder der Bruderschaft
reifen langsam heran, sie überwinden dabei Beschränktheiten,
Widerstände, und so weiter, versuchen mit größtmöglicher
Nachsicht, das bereits Existierende zu betrachten. Im Rahmen des
Möglichen (auch des psychologisch Möglichen) werden sie versuchen,
behilflich zu sein bei dem, was schon existiert. Doch können sie auch
anderes tun, etwas anderes kann ihnen in den Sinn kommen und vor allem ist es
möglich, dass man mit gewissen Ansätzen nicht übereinstimmt,
dann baut man eben etwas anderes auf. Doch alle, die einen wie die anderen,
sollten glücklich sein, dass der Glaube eine mannigfache,
vielfältige Kreativität anregt.
Beachtet meine Worte, denn es kann keine Bruderschaft geben,
die Groll gegen andere hegt oder gegen die Leitung der Bewegung am jeweiligen
Ort, in der jeweiligen Stadt: Was wäre das denn für ein Ansatz? Es
könnte eine Gruppe der Bruderschaft geben, die die Bewegung
tatsächlich liebt und willens ist, mit der örtlichen Gemeinschaft
zusammenzuarbeiten, doch in einigen Dingen wirklich nicht einverstanden ist.
In so einem Fall wird sie darüber zu sprechen versuchen. Ich meine:
zuallererst muss die Vorgehensweise, die Bewegungsart frei sein!
Es könnte zu den Aufgaben der Diakonie beispielsweise
gehören, alle Gruppen der Bruderschaft zu bitten, ein bestimmtes Werk zu
unterstützen, anstatt sich in etwas eigenem zu engagieren. Dies wäre
eine Einsicht, der es zu gehorchen gelte. Doch so etwas wird gewiss nur mit
äußerstem «grano salis» durchgeführt. Ich werde
jetzt schnell zwei Anmerkungen verlesen, eine über die zentrale Diakonie
und die andere über die Gemeinschaftskasse.
Es ist nochmals darauf hinzuweisen, dass die zentrale
Diakonie als einzige Autorität innerhalb der Bruderschaft gilt. Ihr
nämlich steht nicht nur die Ernennung der Personen zu, denen die
bedeutungsvollsten Verantwortungsbereiche in unserer Vereinigung
übertragen werden; vor allem auch erlässt sie die geltenden
Richtlinien für das Leben der Bruderschaft. Nur ihr steht das zu, da die
Organe vor Ort (der Verantwortliche der Region und die regionale Diakonie)
lediglich die Richtlinien der zentralen Diakonie in den einzelnen
Gemeinschaften der Region umsetzen (wie in der Satzung verankert).
Ich lese Euch dies alles zur Kenntnisnahme, doch das
Wesentliche ist, was ich vorhin sagte: diese Dinge werden wir Schritt für
Schritt auf unserem Weg begreifen, das Großartige und Wichtige aber ist
der Grund unseres Zusammenseins.
Aufgrund der Bedeutung der Diakonie des Zentrums, ist es
ratsam, kurz ihre Struktur zu erläutern. Die Diakonie setzt sich zusammen
aus den Verantwortlichen der Regionen, den Verantwortlichen für
verschiedene Bereiche (ein Vertreter für das Schulwesen, einer für
die Universitäten, einer für die Arbeitswelt, einer für Leben
als Bürger, einer für die Kultur), sowie einer bestimmten Anzahl
hinzugewählter Mitglieder. Die Verantwortlichen einer Region haben
gewissermaßen eine Mittlerfunktion in der Beziehung zwischen den
Mitgliedern der Bruderschaft und der zentralen Diakonie (der für eine
Region Verantwortliche leistet einen Dienst und vermittelt zwischen den
einzelnen Gruppen und der zentralen Diakonie).
Schließlich noch eine letzte Feststellung, die die
Gemeinschaftskasse betrifft: Jedes Mitglied verpflichtet sich, mit einer
selbstbestimmten, jährlichen Summe - einem Prozentsatz seines Gehalts -
zur Unterstützung der Bedürfnisse unserer Gemeinschaft beizutragen.
Der Beitrag zu diesem gemeinsamen Fond ist verpflichtend und frei:
Verpflichtend, insofern jeder beitragen sollte; frei, absolut frei, was die
Höhe angeht. Der Beitrag versteht sich als Prozentsatz des eigenen
Gehalts, als Symbol und Zeichen der Armut, der Tatsache nämlich, dass
das, was uns gehört, nicht unser ist, sondern von Gott zur Verwaltung
anvertraut. Armut bedeutet nicht, nichts zu verwalten zu haben: Armut bedeutet
Verwalten und dabei als oberstes Ziel haben, dass alles dem Reich Gottes, der
Kirche diene. Das Zeichen, dass wir unser ganzes Leben - einschließlich
des Geldes und all dessen, was wir besitzen - als etwas begreifen, das dem
Reich Gottes dienlich ist, ist der Beitrag zur Gemeinschaftskasse.
Die Gemeinschaftskasse wird in der Regel für folgende
Zwecke benutzt: Spesen für organisatorische Dinge, die für das Leben
der Bruderschaft notwendig sind; Unterstützung von wichtigen und
bedeutsamen Aktivitäten der Bewegung missionarischer und kultureller
Natur (denn kulturelle Aktivität verleiht unserer Erfahrung Wirkkraft)
und Hilfestellung im Falle ernster Bedürfnislagen, die der zentralen
Diakonie gemeldet werden.
***
Bevor ich nun schließe, möchte ich nochmals daran
erinnern, dass die Bruderschaft gegründet wurde, um uns dabei behilflich
zu sein, Christus besser kennenzulernen. Sie wird diese Aufgabe erfüllen,
wenn wir gehorsam an ihr teilnehmen. Wesentlicher Bestandteil dieses Gehorsams
ist das Gebet. Jemand von euch hat mir ein Zitat aus dem Roman «Der Herr
der Welt» von Benson gegeben: «[Die Christen] haben zwar genug
Glauben, um zu handeln, nicht aber, um geduldig zu sein» (R.H. Benson,
Der Herr der Welt, Würzburg 1994, S. 184). eine sehr nützliche
Bemerkung, denn ohne Geduld wird man einfach nicht erwachsen. Wenn Du also ein
Unbehagen spürst, dann prüft Dich der Herr; und wenn Du Dich dieser
Gemeinschaft angeschlossen hast, dann weil Du hoffst, dass Dir geholfen wird,
so wie wir hoffen, aus Deiner Mühe zu lernen. Inzwischen jedoch gilt es,
Gott zu bitten und dafür keine Zeit zu verlieren. Allein dies
müssten wir im Grunde immer tun.
Was den Verantwortlichen für eine Bruderschaft betrifft,
so ist zu sagen, dass ihm die Aufgabe zukommt, zur Korrektur aufzurufen und um
Einheit bemüht zu sein, also zur Solidarität anzuregen.
Wahrscheinlich wird die Gruppe eine Persönlichkeit wählen, die etwas
ausstrahlt, was aber nicht notwendig ist, da ihre Funktion eine zweifache ist:
einerseits die Hilfestellung zu leisten (sie wird wohl auch zum Telefon
greifen müssen, sagen, «Lasst uns doch...» und bei
Uneinigkeiten das letzte Wort sprechen müssen), andererseits eine Art
Askese zu leben, insofern andere irgendwie an ihr hängen. Mehr will ich
dazu nicht sagen, sonst geraten wir noch in pietistische, moralistische
Details. Wir sind doch nicht im Kloster, sondern Laien in dieser Welt! Doch,
aufgepasst, eine Regel für Laien in der Welt, wie in der Bruderschaft,
zieht sehr wohl Nutzen aus den asketischen Werten des Klosters, wenn sie im
Leben angewandt werden: die Abhängigkeit von einer Person, und sei sie
auch ein Quälgeist, kann das erhabenste Gefühl vertiefen, dessen der
Mensch fähig ist, nämlich das der Abhängigkeit von Gott.
Natürlich kann das nicht mechanisch vonstatten gehen. Auch in einem
Konvent herrschen Regeln, die Obrigkeit regeln, unter denen auch der Obere
steht. Es geht dort schlicht und einfach darum, prinzipiell einen letzten
Bezugspunkt der Gruppe zu haben. Bei uns hingegen herrscht ein sehr dehnbares
Verständnis davon: einer mag es zu hundert Prozent leben, ein anderer zu
einem Prozent, einer mag in der Lage dazu sein, es hundertprozentig zu leben,
ein anderer nur einprozentig, weil sonst der Erstere zum Fatzke wird. Man kann
auch nicht auf mich blicken, um zu verstehen, was das für die Beziehung
mit der eigenen Frau heisst!
Was ich hier tue, bitte nehmt das zur Kenntnis, tue ich
für Euch, ebenso wie ich es auch für mich tue, und es kommt mir in
den Sinn, weil ich es für notwendig halte. Es kam mir in den Sinn, weil
ich es war, der seine Notwendigkeit verspürte. Man kann nicht
verspüren, was in einem anderen Menschen ist, was für ihn gilt, wenn
man es nicht in der eigenen, innersten Menschlichkeit verspürt.
Nichts hilft jemandem mehr auf seinem Lebensweg, wie das
erstaunliche Faktum, dass andere bei ihm bleiben: das ist eine Sache, die
nicht von dieser Welt ist! Lebt diese Einfachheit also auch unter Euch. Wem
man am meisten danken muss, sind die vielen unter euch, die die Botschaft der
Bewegung mit Ernsthaftigkeit und tiefer Einfachheit zu leben wissen, wie die
beiden Brautleute, die ihre Hochzeitsreise hierher mit uns gemacht haben.
Ich bitte Euch jedenfalls, schließlich und endlich,
gegenseitiges Vertrauen zu haben, geben wir uns einen Vertrauensvorschuss.
Gleich ob wir jetzt 1.800 sind, oder drei oder vier. Wir sind wirklich wie
eine Familie. In diesem Sinne bitte ich Euch - und das stelle ich aller
Verantwortlichkeit, die ich für die Bewegung noch habe, voran: teilt mir
Fragen, Vorschläge und Vertrauliches mit, allerdings nicht, ohne auch
Geduld mit einzuplanen, denn die Zeit ist kurz.
Anmerkungen:
1 Fürbitten bei den Laudes des Sonntags, in Lieder. Ein singendes
Volk, pro manuscripto, S. 22.
2 Der Morgen rötet sich und glüht, Hymnus bei den Laudes des
Sonntags. Ebd., S. 37.
3 Charles Peguy, Prière de résidence. In: La tapisserie de
Notre Dame, Paris 1913, S. 71-83.
4 Vgl. Luigi Giussani: Das Wagnis der Erziehung. Zur christlichen
Erfahrung. St. Ottilien, EOS-Verlag 1996.
5 Gal 3, 27.
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