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Wort unter uns
Das Werk der Bewegung
Luigi Giussani

Eine Aufzeichnung der Rede von Luigi Giussani zum Abschluss der ersten Geistlichen Exerzitien der Bruderschaft.
Rimini, 7.-9. Mai 1982 - Zwanzig Jahre nach der Päpstlichen Anerkennung der Bruderschaft von Comunione e Liberazione

Wo zwei oder drei in Deinem Namen versammelt sind, wollen wir Deine Gegenwart unter uns anerkennen, einander vergeben und jedem zu Hilfe eilen, der in Not ist. Wir hören Dein Wort und brechen gemeinsam das Brot (...) Wir geben einander den Frieden weiter, (...) damit die Menschheit alle Spaltungen überwinde und eine neue Welt aufbaue.1 Was nun ersehnen wir anderes, wenn wir uns in die Bewegung einbringen, als dass dies wahr werde?
Und wenn wir dann gemeinsam einen Hymnus singen, wie den heute Morgen, können wir gar nicht zerstreut genug sein, um nicht eine tiefe Gefühlsregung zu empfinden. Denn es handelt sich bis ins Detail um die Beschreibung dessen, wonach wir uns sehnen, worum wir bitten - oder besser noch - um dessen Offenbarung wir flehen: wo zwei oder drei sich in Seinem Namen versammeln, erkennen wir Ihn als gegenwärtig an und Seine Gegenwart bringt eine andersartige Menschlichkeit hervor.
Ich wüsste nicht, mit welchen Worten man diese andersartige Menschlichkeit besser beschreiben könnte als mit den eindrucksvollen Worten des Hymnus von heute Morgen2. «Der Tod hat vernichtet das Leben ... die Herrlichkeit Christi des Siegers [Er ist auferstanden], erleuchtet auch unseren Morgen. Dies ist der Ursprung und er enthält schon alles. Von Freude ergriffen, schon beim Aufstehen am Morgen, lässt Er uns eins sein wie Brüder. [Einem jeden von] uns ... offenbare sich der auferstandene Christus. Er möge erneut uns begegnen und beim Namen uns rufen: was geschehen ist möge zu unserer persönlichen Wirklichkeit werden; Seine Gegenwart, die sich ständig wiederereignet, möge meine persönliche Wirklichkeit, mein Selbst, werden. Er möge erneut uns begegnen, Sein Wort soll uns heute entflammen: Seine Gegenwart sei, was uns entflamme - was das Leben des Menschen aufflammen lässt, ist nämlich der Beweggrund, der Grund, der Sinn des Lebens. Und wieder beim Brechen des Brotes erkennen wir das Antlitz des Auferstandenen: In bestimmten heiligen Zeichen, wie der heiligen Kommunion, ist es erneut, als berührten wir das Antlitz des Auferstandenen. Was ist ein Leben voller Freundschaft wie das unsere, wenn nicht eine Eucharistie, die über den Tag anhält, buchstäblich eine andauernde Kommunion, die den gesamten Tag prägt? Dort sehen wir das Antlitz des Auferstandenen! Wann immer wir uns versammeln, Wenn einmütig wir uns versammeln, möge ein neuer Gast sich hinzugesellen: Sich Seiner Gegenwart bewusst zu werden, die sich ereignet, dieser Gegenwart, die sich für die gesamte Geschichte ereignet, ist stets eine Neuheit. Zur Stärkung des wankenden Glaubens: wir brauchen nicht anders zu sein, um kraft des Heiligen. Geistes anders zu werden. Wir sind schwach, und ebendiese Schwachheit hat Er bereits überwunden, und Sein Sieg wird offenbar sein, wird sich offenbaren. Er zeige die glorreichen Wunden zur Stärkung des wankenden Glaubens, zeigen wird er die gesamte Weltgeschichte, die Geschichte in der Er Fleisch angenommen, sich offenbart und mitgeteilt hat. In dieser österlichen Freude ..., diese Freude ist lediglich die Ankündigung, dass das Leben den Tod vernichtet hat, die Liebe die Sünde vergeben, dass die Herrlichkeit Christi auch unseren Morgen erleuchtet. Freude findet man ausschließlich hier, suchen wir nicht anderswo nach ihr, denn es gibt keine andere Wurzel der Freude als diese! In dieser österlichen Freude, da uns neue Unschuld verliehen wurde: in der Freude der Verkündung des auferstandenen Christus, wird uns ständig neue Unschuld verliehen. Jedesmal wenn uns bewusst wird, wer Er ist, diese Gegenwart, die sich nunmehr fortwährend ereignet, sind wir erfüllt von Reinheit, denn hier liegt die Reinheit, im Glauben.
Ist dies nicht etwa die Beschreibung des Ideals der Bewegung?
Also dachte ich mir: Warum nicht denjenigen behilflich sein, die in der Bewegung erwachsen geworden sind, den Erwachsenen in der Bewegung, warum nicht ihnen helfen zu einem Leben in persönlicher Verantwortung, wie es einem Erwachsenen gebührt, in Freiheit, wie es einem Erwachsenen gebührt, voller Kreativität, gemäß der Berufung seiner Person, wie es einem Erwachsenen gebührt? Es kommt also darauf an, dass der Erwachsene, der, der im Schoße der Bewegung erwachsen geworden ist, behutsam an den Punkt gelange, der wesentlich ist - und dieser Punkt, das bist du! Aus diesem Grund soll der Vereinscharakter verschwinden, welcher zwangsläufig Engführung mit sich bringt. (Das heisst nicht, den einzelnen aus etwas herausreißen, sondern ihn befreien, damit er das Leben der Bewegung in der Freiheit des Geistes erlebe.) Folglich sind auch all diejenigen, die in der Bewegung eine Verantwortung tragen (ein Großteil der Erwachsenen) zu befreien, zu befreien zu einer Freiheit, die sie von der Last oder den Mühen oder den beschwerlichen Umständen ihres Dienstes befreit. Denn es gibt einen Punkt, an dem man «Ich» sagen muss, nämlich angesichts meiner Bestimmung, das heißt im Angesicht Christi. Dann und nur dann, entdecken wir uns wirklich als Brüder: Es ist das Bewusstsein seiner Gegenwart, die mir plötzlich auch diejenigen wahrlich gegenwärtig werden lässt, die Er auf meinen Lebensweg gestellt hat.
Was anderswo stets Frustration, ist hier nur süßer und andauernder Gehorsam; was anderswo stets Regelzwang, ist hier nur Ausgangspunkt und Loslassen; was anderswo stets Abnutzung und Verschleiß, ist hier nur Stütze und die Gelegenheit zu wachsen, was anderswo stets Verwirrung, ist hier nur das Aufscheinen des schönen Abenteuers.3
Diese Worte von Charles Péguy, die zu vertiefen ich euch ans Herz lege, sollten das Klima beschreiben, das in unseren Gruppen der Bruderschaft herrscht. Keiner urteile über sich selber, oder gar über die anderen, vielmehr sollte jeder den Blick erheben, sein Gesicht erneut erheben, vor dem Angesicht Gottes, wie Kinder, die ihre Mutter anschauen. Keiner urteile über sich selber, oder über die anderen, doch ist es recht, dass das Bild des Ideals im Herzen brenne und es unser Boot jeden Morgen aufs Neue aufs Meer hinaustreibe. In diesem Sinne sollten Péguys Worte wirklich das Ziel einer idealen Freundschaft vor Augen stellen, das Ziel des idealen Zusammenlebens anzeigen; sie sollten auf den Horizont einer Menschlichkeit verweisen, die wirklich und wirksam anders ist in ihrer Weise zu denken, zu fühlen und sich zu verhalten. Damit Ihr Euch auf diesen Weg macht, habe ich Euch dazu eingeladen, Euch zusammenzuschließen - uns zusammenzuschließen.
Neulich habe ich bei einem Treffen in Mailand festgestellt, dass seit etwa 15 Jahren, all den Jahren unseres gemeinsamen Weges, Gemeinschaft und Befreiung auf die Werte gesetzt hat, die Christus gebracht hat. Sicherlich hatte all die Mühe, die man sich anlässlich gemeinsamer Aktivitäten caritativer, kultureller, sozialer und politischer Art machte, den Zweck, uns selbst und die Dinge in Bewegung zu setzen, gemäß dem Ideal, gemäß der Werte, die Christus uns mitgeteilt hat. Doch ganz am Anfang der Bewegung war dem nicht so. Wie ich gestern andeutete, wurde in den ersten Jahren der Bewegung, anfangs, nicht auf den Werten aufgebaut, die Christus gebracht hatte; man baute vielmehr auf Christus selber, mag es auch noch so naiv erscheinen, doch das Thema unseres Herzens, der letztlich überzeugende Beweggrund, war Christus selbst und folglich die Tatsache Seines Leibes in der Welt, die Kirche.
Anfangs baute man auf etwas beziehungsweise versuchte man auf etwas aufzubauen, das sich gerade ereignete und nicht auf den überlieferten Grundwerten und folglich nicht auf unserer zwangsläufigen Interpretation von ihnen: man versuchte auf etwas aufzubauen, das sich gerade ereignete und das uns widerfahren war. So einfältig und ausgesprochen unangemessen dies auch sein mochte, es war eine Haltung der Reinheit. Weil wir diese Haltung aufgegeben und gegen eine solche eingetauscht haben, die in erster Linie «kulturelle Umsetzung» anstrebt, mehr als die Begeisterung für eine Gegenwart, deswegen erkennen wir - im biblischen Sinne des Wortes - Christus nicht, wir kennen das Geheimnis Gottes nicht, denn Er ist uns nicht vertraut.
Es geht um Christus als Sinn der Existenz, um Christus als Antrieb unserer Kreativität, nicht jedoch vermittels einer Auslegung, sondern um ihn ganz unmittelbar: keine andere Haltung als letztere kann als christlich bezeichnet werden. Alles andere - die Mobilisierung unserer Existenz und Kreativität - folgt später. Christus als Sinn der Existenz und Antrieb der Kreativität gilt es wiederzugewinnen. Ich wünsche von ganzem Herzen, diese ursprüngliche Reinheit wiederzugewinnen, welche das Leben unserer Bewegung kennzeichnete und so vielen heute unbekannt ist: eher noch kennen sie sie dank der schlichten christlichen Tradition ihres Elternhauses, als dass sie ihr in unserer Mitte in unmittelbarer Schlichtheit begegnet wären. Aufgrund dieses Wandels ist es nunmehr so leicht, unsere Bewegung für ein Engagement zu halten, das ganz in Aktivismus, Organisation oder Kulturarbeit aufgeht und das zudem oftmals auch noch ganz elitär und autoritär aufgefasst und geleitet wird.
Mit der Bruderschaft hingegen wollte ich zu einem Engagement einladen, das sich in erster Linie als Hilfe für das Herz eines jeden versteht, als Hilfe, damit jeder im Angesicht Christi voranschreite. Darüber hinaus wollte ich sicherstellen, dass Personen in immer größerer Glaubensreife das Werk der Bewegung errichten, mit kreativer Gewissheit also. All die Mühe, die mitunter schmerzhafte Mühe, die Energie, die viele von Euch einsetzen oder gar erleiden im Dienste der Bewegung, bedürfen der Unterstützung. Euch muss am Grunde eures Herzens direkt geholfen werden, an der Wurzel dessen, weshalb eure Person sich einsetzt und diese Mühen auf sich nimmt. Deswegen will ich den Erwachsenen, so sie dies wünschen, eine ganz unmittelbare, persönliche Hilfe anbieten, die ebendeshalb gewährleistet, dass in freier Weise gereifte Personen das Leben der Bewegung prägen. Nun gut, ich möchte jetzt einige Punkte vertiefen, die gestern abend im Gespräch mit einigen Leitern der Bruderschaft zum Vorschein kamen. Die betreffen das Verständnis unserer Bruderschaft gemäß ihrer Satzung, die von der heiligen Kirche angenommen wurde. Was wir beginnen, ist ein Weg. Das gilt auch für das Bewusstsein seiner Bedeutung, das Bewusstsein davon, worin unsere Schritte bestehen. Was man sich diesbezüglich zu denken, sich darunter vorzustellen oder dafür zu verwirklichen hat, wird eine Begleitung sein, wird der Weg sein, auf dem es sich zeigt. Wir stehen am Anfang, lassen wir uns also nicht verwirren angesichts dessen, was scheinbar noch unklar ist, angesichts der Beziehungen, insbesondere derjenigen zur Bewegung, die scheinbar Besorgnis erregen, nicht klar definiert oder nicht ausreichend geeint sind. Machen wir uns darüber keine Sorgen, lasst uns ernsthaft danach trachten, den springenden Punkt unserer Initiative, unseres Engagements zur erfassen. Und der springende Punkt ist, was ich vorhin sagte: eine Hilfe für unser Herz, auf dass unser Leben im Angesicht Christi voranschreite. Alles weitere, was aus der Ausrichtung der Bruderschaft auf dieses Ziel folgt, wird sich mit der Zeit klären.
Die Bruderschaft dient also zum Zwecke, den Willen all derjenigen zu schützen, zu leiten und zu unterstützen, die beabsichtigen, sich bis zum Äußersten auf die Erfahrung der Bewegung einzulassen. Es braucht also lediglich Personen, die sich auf die Erfahrung der Bewegung bis aufs Äußerste einlassen möchten, oder besser, für die die Erfahrung der Bewegung eine Auseinandersetzung mit ihrem Glauben darstellt, eine Auseinandersetzung mit ihrem Bewusstsein als Menschen und Christen. Die Erfahrung der Bewegung ist, was ich vorhin mit dem kurzen Verweis auf unsere Geschichte angedeutet habe. Die Erfahrung der Bewegung wird also gerade in unseren Versammlungen, in den Briefen, die wir uns schreiben, in den Beziehungen, die wir aufbauen werden, Klarheit und Tiefe finden. Jeder der dieses Anliegen hat, kann daher der Bruderschaft beitreten. Im Artikel 5 der Satzung heißt es: Mitglieder sind diejenigen, «die sich darauf einlassen, vollkommen den Geist der Bruderschaft zu leben, dem Wesen wie der Form nach».
Das Wesen des Lebens der Bruderschaft besteht in dem, was ich vorhin andeutete: den Hymnus der Laudes Wirklichkeit werden lassen, die Schaffung von menschlichen Bereichen, in denen die Gewissheit des Benedictus tatsächlich nicht nur ein Teil der morgendlichen Laudes werde, sondern Antrieb im Leben, Horizont des Lebens, das, was im Leben das Herz bestimmt. Die Form der Bruderschaft ist unsere Gemeinschaft, ist die Weggemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist zunächst die Bruderschaft als solche. Fälschlicherweise spricht man von «den Bruderschaften»: es ist hingegen «die» Bruderschaft, welche von der heiligen Kirche anerkannt wurde. Die Bruderschaft zeichnet sich in der Regel durch die freie Entscheidung von Mitgliedern aus, die sich in Gruppen von Freunden zusammenschließen. Die Bruderschaft bildet sich üblicherweise durch oder innerhalb von Freundesgruppen, die sich frei zusammenschließen. So ist beispielsweise das «Teatro dell'Arca» [eine Theatergruppe aus der Nähe von Rimini (Anm. d. Ü.)]. Anlass zur Bildung einer Gruppe der Bruderschaft. Oder wie es in einem Brief heißt: «Lieber Don Giussani, wir sind eine Gruppe von Lehrern, die in diesem Jahr versucht hat, die Erfahrung der Bruderschaft zu leben. Was uns anfangs dazu bewogen hatte, uns zusammenzutun, war der Wunsch, unseren Schülern die Erfahrung der Bewegung zugänglich zu machen. Doch dann merkten wir, dass dies nicht genug war, oder besser, dass dies wesentlich mehr bedeutete: in der Gemeinschaft unter uns kam unsere ganze Person ins Spiel. Unsere Sehnsucht nach der Wahrheit unserer selbst begann in der Tat unser Leben so sehr zu bestimmen, dass die Bewegung als solche mehr und mehr den Horizont unserer Erziehung bestimmte, unserer eigenen und derjenigen, denen wir begegneten». Auch das kann ein Anlass sein: Lehrer in einem bestimmten Umfeld, die sich aus den genannten Gründen zu einer Gruppe der Bruderschaft zusammenschließen. Es kann aber auch sein, dass Leute eine landwirtschaftliche Genossenschaft gründen möchten, und sich dies zum Anlass für etwas Größeres, entschieden und endgültig Menschlicheres nehmen. Oder aber es sind Freunde der Familie oder Leute, die an der Diakonie teilnehmen, ebenso wie jene, die eine Genossenschaft gründen, sich fragen: Was bedeutet für uns die Arbeit in der «Diakonie», die uns zu «Managern» der Gemeinschaft macht, all dieser anderen Leute, für die wir, sozusagen, Zeit und Leben hingeben? Was ist mit uns? Und um jene anleiten zu können, um ihnen ein Zeugnis zu sein, sollten wir zunächst selbst leben! Beginnen wir selbst zu leben! Und sie gründen eine Gruppe der Bruderschaft. Eine solche Gruppe kann auch aus Leuten bestehen, die in ganz verschiedenen Städten wohnen. Der Ausgangspunkt für den Wunsch so zu leben ist vollkommen beliebig.
Daher kann also jeder, in aller Freiheit, einen Beitrittsantrag einreichen, der dann von der zentralen Diakonie (darauf werde ich im folgenden noch eingehen) angenommen werden muss, nach vorheriger Feststellung der Aufrichtigkeit der Antragsteller. Die Verantwortung der Antragstellung ist eine persönliche.
Merkmal solcher Solidarität sollte wahre Freundschaft sein, denn wahre Freundschaft ist Wegbegleitung zur Bestimmung, nämlich zu Christus. Freundschaft definiert sich durch den Zweck des Zusammenseins, durch den Grund ihrer Entstehung. Wahre Freundschaft, die Freundschaft, bei der der Mensch bis aufs Herz getroffen wird, ist eine Wegbegleitung hin zur Bestimmung. Deshalb ist die Freundschaft innerhalb der Gruppen der Bruderschaft eine persönlichkeitsbildende, oder nennen wir es auch asketische Freundschaft, denn sie versteht sich als Flussbett, das zur Wahrheit seiner selbst führt, das heißt zu einer wahren Beziehung zu Christus. In diesem Sinne wird eine so geartete Freundschaft zur Lebensregel, einer Regel für den persönlichen Glauben.
Zwei Dinge möchte ich an dieser Stelle sagen (eines nannte ich bereits, doch werde ich es als zweiten Punkt nochmals wiederholen). Erstens, angesichts der Ernsthaftigkeit, die wir verkünden und zu leben versuchen, bestreiten wir nicht deren Schwierigkeit. Doch - und dies ist der zweite Punkt, den ich wiederholen möchte - fürchtet euch nicht: notwendig ist allein der Wunsch, uns mit unserem ganzen Leben auf die Erfahrung, der wir begegnet sind, einzulassen (auf die Erfahrung, die uns zuteil wurde, nicht auf die Bewegung als Organisation) und das reicht. Nicht umsonst hat der Heilige Stuhl, die Kirche, die Reife der Auseinandersetzung mit dieser Erfahrung anerkannt, hat er diese Erfahrung in ihrer reifsten und freiesten Form anerkannt, nämlich den Gruppen der Bruderschaft. Es kommt also darauf an, wirklich den Herrn zu ersehnen, sich mit Ihm zu beschäftigen, gemäß der Gnade, die uns zuteil wurde, gemäß der Gnade der Erfahrung, die zu berühren uns geschenkt wurde.
Es ist überflüssig in Erinnerung zu rufen, dass eine derartige Gemeinschaft vor allem - «zunächst und vor allem» im wörtlichsten Sinne - der Fähigkeit zur Vergebung bedarf, und zwar, wie ich zu sagen pflege, der Fähigkeit, das Andersartige zu umarmen. Ihr, die Ihr mit Ehemann oder Ehefrau zusammenlebt, solltet mich dies lehren: das erste grundlegende Merkmal, die Mitgift für ein gemeinsames Lebens - umso mehr je enger das Zusammenleben ist - ist die Vergebung. Es bedarf also der Fähigkeit, das Andersartige aufzunehmen, und damit auch der Fähigkeit, sich korrigieren zu lassen, welche Ausdruck für das Bewusstsein ist, unterwegs zu sein, eine Bestimmung zu haben und daher eine Hilfe, das Bewusstsein zu vertiefen, eine Hilfe zur Vertiefung der Erkenntnis und des Bewusstseins. Vergebung, Korrektur, Vertiefung des Bewusstseins. Dies sind gewiss die notwendigsten Güter für eine Gemeinschaft wie die Bruderschaft sie mit sich bringt.
Die offensichtlichste Folge dessen, was diese Freundschaft zu sein beabsichtigt - nämlich das Sicheinlassen auf Christus gemäß der Gnade, die wir erfahren haben, - die offensichtlichste Folge sollte eine wahre Solidarität unter allen Mitgliedern sein. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid «einer» in Christus Jesus.4 Dies, welches das Geheimnis der gesamten Kirche ist, möge beginnen, sichtbarer zu werden, sich zu offenbaren, sich kundzutun dort, wo Menschen so sehr überschüttet und bereichert wurden wie wir. Fangen wir an, dies offensichtlich zu machen! Dies ist die Bruderschaft, dies ist eine Gruppe der Bruderschaft!
Dabei handelt es sich nicht um eine gefühlsmäßige Solidarität. Sentimentalität zeichnet sich stets durch einen zweideutigen Ursprung aus: sie beansprucht, an die Person heranzutreten, sie zu umarmen, doch tut sie dies aus einseitigen Gründen oder um etwas damit zu bezwecken. Solidarität ist echt und nicht sentimental, wenn der bestimmende Beweggrund die Person in ihrer Gesamtheit ist, das heißt, die Person mit Blick auf ihre Bestimmung. Nicht einmal zwischen Ehemann und Ehefrau herrscht solche Solidarität! Die Aufmerksamkeit, die einen erfüllt, wenn man voller Leidenschaft mit anderen zusammenlebt, zwingt mich zu sagen, dass letztlich eine gewisse Befangenheit auch zwischen Mann und Frau herrscht.
Daher ist es eine nicht-sentimentale Solidarität, die die ganze Person umfasst, die Person also im Hinblick auf ihre Bestimmung: es geht darum, die Bestimmung der Leute zu bejahen, die um uns herum sind. Wie fern sind wir noch von solch einer Auffassung der Beziehungen! Doch ohne diese Solidarität sind wir unmenschlich, menschlich unterentwickelt. Allein ein gewisser Selbsterhaltungstrieb, eine instinktive Selbstverteidigung bewahrt uns vor einer totalen gegenseitigen Fremdheit - so unabdingbar sentimental und berechnend, so einseitig sind unsere Beziehungen!
So wie die Bruderschaft beschaffen ist, liegt die Verantwortung für sie gänzlich bei denjenigen, die sie leben - gänzlich! Insbesondere ist die Bruderschaft, jede Gruppe der Bruderschaft völlig unabhängig von der Struktur der Bewegung. Gebt bitte acht! Sie ist nicht unabhängig von der Bewegung, sie ist vielmehr die höchste Form und das Herz der wahren Bewegung, aus ihr kommt die Wahrheit der Bewegung. Der Bewegung kommt es zu, ihr ein intelligent eingesetztes, eifriges und großzügiges Hilfsmittel zu sein. Die Bewegung ist eine Erfahrung von Menschen und somit das Beziehungsgeflecht der Leute, die diese Erfahrung leben. Deshalb ist die Bruderschaft gleichsam der Gipfel der Bewegung und gleichzeitig ist sie ihr Herz, ihre Wurzel. Wie es gestern hieß, verwirklicht sich erst in ihren Formen der Solidarität die Bewegung wahrhaft und in Reife.
Jede einzelne Gruppe ist derart autonom, dass sie ihre eigene Regel selbst festlegt. Wir als Leitung der Bruderschaft verlangen lediglich, dass drei Punkte gewahrt bleiben, drei Bestandteile dieser Regel (gestaltet sie nach Belieben, doch diese drei Punkte sollten beachtet werden): erstens, das Gebet; zweitens, als Symbol und Zeichen der Armut, die treue Einzahlung in die Gemeinschaftskasse der Bruderschaft (was im folgenden noch näher erläutert wird) und drittens einen letzten Gehorsam gegenüber der Diakonie des Zentrums, welche die Bruderschaft leitet und Verantwortung gegenüber der kirchlichen Autorität, gegenüber der Kirche trägt. Die Diakonie des Zentrums trägt die Verantwortung für sämtliche Gruppen vor der Kirche, deshalb bitten wir um einen letzten Gehorsam gegenüber der Diakonie. Ich bestehe auf dem Ausdruck «letzter Gehorsam gegenüber der Diakonie», denn in Anbetracht dessen, was vorhin erläutert wurde, kann die Diakonie offensichtlich nicht den Anspruch erheben, auf Einzelheiten oder auf die Praxis eures Lebens in der Bruderschaft einzugehen. Es sei denn, um auf einen Weg der Askese hinzuweisen, im Einklang mit der Erfahrung der Bewegung, oder um eventuelle grobe Fehler zu berichtigen. Dieser Gehorsam dient gleichsam als Schutz einerseits und Richtschnur, ideale Weisung andererseits.
Gemäß der erzieherischen Tradition der Bewegung sollte jede Gruppe - eben hinsichtlich der Askese - eine Person bestimmen, die es für einen von der Gruppe festgesetzten Zeitraum übernimmt, zur Korrektur aufzurufen, die sich um Einheit bemüht und den anderen ihre Hilfe anbietet, also einen Verantwortlichen. Ich sage «gemäß der erzieherischen Tradition der Bewegung», denn die Gegenwart einer Autorität ist wesentlicher Bestandteil unserer Vorstellung von Erziehung4.
Es wäre wünschenswert, dass jede Gruppe einen Priester in ihrer Mitte hat oder zumindest als Bezugspunkt, um Rat und Hilfe zu suchen. Innerhalb der Bruderschaft siedelt sich der Priester als Gläubiger an, als Getaufter; es ist deshalb bezeichnend, dass viele der Bewegung zugehörige Priester, der Bruderschaft mit Aufmerksamkeit gegenüberstehen, so sehr, dass auch sie zwei Tage oder ein Wochenende opfern, um bei dieser Versammlung anwesend zu sein: es ist bezeichnend für die Intelligenz unserer Erfahrung; seinerseits fühlt sich der Priester wie zurückverwiesen auf den Ursprung seiner ganzen Erscheinung einschließlich seines Priesteramtes, denn worauf auch das Priesteramt baut, ist der Glaube und die Taufe. In diesem Sinne ist der Priester, jedweder Priester, ein Mitglied der Bruderschaft, wie jedes andere (es können auch drei oder vier Priester in einer Gruppe der Bruderschaft sein). Es ist aber selbstverständlich förderlich, wenn jede Gruppe der Bruderschaft zu ihrer Unterstützung einen Priester als geistlichen Beistand bestimmt. Das Auswahlkriterium ist klar: dass er die Erfahrung der Bewegung mit Herz und Verstand wohlwollend betrachtet und sich mit ihr identifizieren kann (er muss nicht unbedingt der Bewegung angehören, denn es kann Priester geben, die derart christlich sind, dass sie den Wert und die Ursprünglichkeit einer vom Heiligen Geist erweckten Erfahrung so sehr verspüren, dass sie ihre Person als Hilfe anbieten und dabei bereit sind, sich in jene Erfahrung hineinzuversetzen).
Die Bruderschaft als solche sichert geistliche Unterstützung zu durch die regelmäßige Veranstaltung von Einkehrtagen. Nicht dass jeder gezwungen wäre daran teilzunehmen: es kommt, wer will, denn ich hoffe, es ist klar geworden, dass dies alles im Zeichen absoluter Freiheit steht. Was in der Geschichte Bestand hat, was konstruktiv ist, ist allein das, was in absoluter Freiheit entsteht. Kreativität entsteht aus Freiheit.
Die Bruderschaft als solche sichert also geistliche Unterstützung zu durch die regelmäßige Veranstaltung von Einkehrtagen, bei denen auf theologische und asketische Themen eingegangen wird, gemäß der Eingebung unserer Erfahrung und mit besonderer Bezugnahme auf die liturgische Zeit, wozu uns das Dekret anhält.
Die einzelnen Gruppen können selber ihren Einkehrtag halten, beispielsweise eine halbtägige Einkehr organisieren -, doch da der Einkehrtag der einzig vorgegebene Moment ist (alles übrige ist dem Leben der einzelnen Gruppen überlassen), sollte eine solche Initiative stets dem Verantwortlichen vor Ort mitgeteilt werden. Die Einkehr kann für einzelne oder für mehrere Gruppen veranstaltet werden, je nach dem, was angemessen erscheint. So zum Beispiel mag es angebracht scheinen, Einkehrtage vor Ort anzubieten, für sämtliche Gruppen einer Region. Möchte jedoch eine Gruppe die Einkehr mit ihrem Priester halten, so tue sie dies. In jedem Fall, müssen diese Einkehrtage von Priestern geleitet werden, die sie gemeinsam mit mir vorbereiten. Ich werde mich regelmäßig mit den Priestern treffen, welche die Einkehrtage leiten, um gemeinsam die theologisch-asketische Richtung zu vertiefen, gemäß der jeweiligen Linie der Bewegung, die jene Einkehrtage mitteilen sollen.
Freier als so geht's nicht! Doch tiefer verankert in die Erfahrung der Bewegung geht's auch nicht mehr!
Die Gruppen können mir, im Einvernehmen mit dem Verantwortlichen vor Ort, Namen von Priestern für diese Aufgabe vorschlagen. Eine Gruppe sagt: «Wir möchten die Einkehr mit Priester Soundso halten»; also lassen sie mir unmittelbar oder durch den Verantwortlichen vor Ort, den Namen jenes Priesters zukommen. Oder aber 5-6 Gruppen oder gar die gesamte Region möchten gemeinsame Einkehrtage halten, dann nennen sie mir einen Priester.
Diejenigen, die keiner bestimmten Gruppe angehören, werden sich mit dem jeweiligen Verantwortlichen vor Ort einigen, um an einem der Einkehrtage teilzunehmen. Da es der Einzelne als Person ist, der an der Bruderschaft teilnimmt, gibt es viele Personen, die noch keiner Gruppe angehören. Es wird allgemein empfohlen, sich möglichst in Gruppen zusammenzuschließen. Zumindest für den Einkehrtag jedoch sollte man das tun, einzig und allein deshalb, weil es notwendig ist, einen Bezugspunkt zu haben. Wer in Absprache mit dem Verantwortlichen eines Gebietes zu keiner Gruppe gehört, kann auch nach freier Wahl an einem der veranstalteten Einkehrtage teilnehmen.
Mehr Freiheit geht gar nicht. Eine tiefere Verankerung in der Erfahrung der Bewegung geht auch nicht! Was uns am Herzen liegt, das Werk, das es aufzubauen gilt, ist, wie aus dem Brief, den ich euch geschrieben habe, hervorgeht, die Bewegung. Dieses Werk gehört mit zum Zweck der Bruderschaft. Das Werk, das wir aufbauen möchten, besteht darin, dass sich diese Erfahrung von Glauben und Menschlichkeit, so weit wie möglich verbreite und vertiefe. Was wir nun von der Bruderschaft erwarten, ist, dass diese viele Leute hervorbringe, erziehe und heranreifen lasse, die an der Verbreitung dieser Erfahrung mitwirken, was gleichbedeutend ist mit dem Aufbau der Bewegung. Denn die Bewegung wird nicht von der Organisation aufgebaut, sondern vielmehr vom Leben der Personen. Die Organisation ist ein Werkzeug. Sie ist wie ein Flussbett: nicht das Flussbett ist der Fluss, sondern das Wasser, das darin fließt. In diesem Sinne ist die Institution der Bruderschaft wahrlich ein Aufruf zu völliger Reinheit bei unserem Engagement in der Bewegung.
Dass wir etwas mit der Bewegung zu tun haben, beruht ausschließlich darauf, dass der asketische Reifungsprozess der eigenen Person, unser Heranreifen in der Beziehung zu Christus, unweigerlich ein größeres Maß an Verantwortlichkeit und Leidenschaft für das Leben der Bewegung mit sich bringt. In einem Brief an mich heißt es: «Ich bitte um Aufklärung in der Frage über die Notwendigkeit, CL anzugehören, um der Bruderschaft beitreten zu können, ich meine CL so wie es vor Ort organisiert ist». Dies ist eine heikle, doch verständliche Frage: es geht ja nicht nur um einen bestimmten Ort. Wir sind Menschen und als solche sind wir engherzig, lästig, besitzergreifend, verlieren im Namen der Wirksamkeit an Wirksamkeit, obwohl nur zu fünft, geraten wir in Zwietracht und verfolgen hartnäckig drei verschiedene Ansichten; dies alles ist menschlich und wir dürfen nicht vergessen, es zu beichten, denn es handelt sich tatsächlich um Sünden. Wie dem aber auch sei, der zitierte Satz birgt ein Missverständnis: CL ist keine Organisation vor Ort, sondern die Erfahrung, von der ich sprach. So ist es nicht notwendig, an den Veranstaltungen, wie sie vor Ort gestaltet werden, teilzunehmen, um CL anzugehören und folglich der Bruderschaft. Ich behaupte, wer zur Bruderschaft gehört, ist in erster Linie von CL; besonders wer der Bruderschaft zugehört ist von CL! Selbst wenn daher die Organisation von CL im eigenen Umfeld nicht nur unbefriedigend bleibt, sondern sogar unserem gesunden Menschenverstand, der eigenen Aufgeschlossenheit und Flexibilität scheinbar widerspricht, so dürfen wir nicht gleichgültig bleiben; wir werden beten, auf dass die Lage sich ändere, doch Alternativen werden wir keine schaffen. Was die Organisation betrifft, kann es keinerlei Alternativen geben. In Bezug auf die Organisation verträgt der Organismus keine Alternative: nur die Organisation (ich oder der Rat) in ihrer Eigenschaft als solche können einem Verantwortlichen seine Autorität entziehen: alles andere wäre nur schlimmer, wäre ein noch schlimmeres Übel. Die Bruderschaft ermöglicht es erstens, die Erfahrung in aller Freiheit dem eigenen Temperament und der eigenen Geschichte entsprechend zu leben, und zweitens, Werke zu hervorzubringen: nicht eine Organisation, die sich von der Bewegung unterscheidet, sondern Werke. Keiner kann dir beispielsweise verbieten, eine Genossenschaft zu gründen oder eine Zweigstelle des ADAC oder eine caritative Initiative für ältere Leute deines Gebiets ins Leben zu rufen. Keiner kann dir dies verbieten, nicht einmal der Leiter der Diakonie.
Ich lege Wert darauf, dass dieser Punkt klar ist, denn nicht nur kann keine Feindseligkeit oder alternative Haltung zwischen Bruderschaft und CL als Struktur bestehen. Die Bruderschaft ist vielmehr gleichsam ein wirksames Korrektiv, das sich langsam zugunsten einer Flexibilität und Großherzigkeit, eines größeren Einfühlungsvermögens und einer Freiheit auch bezüglich der Organisation niederschlägt. Wir sollten einander vergeben, in erster Linie insofern wir Teilhaber derselben Erfahrung sind. Außerdem setzt die Bruderschaft eine Art Stachel ins Fleisch; sie ist ein wenig «schelmisch». Nehmen wir an, dass die Diakonie eine Bruderschaftsgruppe bildet und andere, die unzufrieden sind mit der Diakonie, eine andere Gruppe - dies wäre möglich, mehr noch, es entspricht der Wirklichkeit. Dann verlange ich weiter nichts - ich weiß selbst, was der Mensch ist, seine Schwächen, seine Verschlossenheit. Doch können «diese Leute» nicht behaupten, einer Bruderschaft gemäß zu leben, wenn die Liebe, die innerhalb jeder Gruppe der Bruderschaft herrschen sollte, nicht auch nach einer Öffnung, nach gegenseitiger Vergebung, nach Verbesserung und Vertiefung der Beziehung mit der anderen Gruppe strebt. Denn die Bewegung ist eine einzige, die wahre Bewegung ist eine einzige! Ich meine damit nicht, dass die andere Gruppe der Bruderschaft sich der von der Diakonie gebildeten beugen sollte, denn es könnte sehr wohl sein, dass sie recht hat, wer weiss. In der Freiheit liegt eine gegenseitige Verbesserung - denn die correctio fraterna, das «Sich gegenseitig aufrichten», ist nicht möglich, wenn nicht in Freiheit.
Ich bin mir sicher, dass ihr noch fern seid vom Verständnis der großartigen Liebe für eure Freiheit und der großartigen Leidenschaft für die Wahrheit, die die Bewegung hervorbringt. Die Bewegung hat eine derartige Leidenschaft für die Wahrheit, dass sie, als Folge, eine unvermeidliche Leidenschaft für die Freiheit hegt: ansonsten wäre vor 30 Jahren niemand gekommen. Wehe demjenigen also, der die Bruderschaft missbraucht, um die einen oder die anderen ausschließen zu wollen, um sich an der Institution zu rächen (CL als Organisation) oder um jene auszuschalten, die sich nicht dem eigenen Managerbestreben fügen.
Liebe Freunde, im Angesichte Christi, so wie Er uns in der Geschichte seines Leibes, der Kirche, die den tiefsten Inhalt unserer Bewegung bildet, verkündet wird, ist es unmöglich, sich nicht gegenseitig zu umarmen, obgleich sämtliche Verschiedenheiten zwischen uns bleiben werden (sie bestehen zwischen Eheleuten, wieviel mehr erst zwischen Fremden!). Doch die Verschiedenheiten dürfen nicht ausschlaggebend werden für die Anerkennung unserer Beziehungen, denn Vergebung bedeutet die Annahme der Verschiedenheit: die Vergebung ist das erste grundlegende Merkmal der Beziehung zwischen Gott und uns (dies nennt sich Barmherzigkeit), es ist daher die erste Bedingung für die Beziehung zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mann und Frau, unter den Leuten. Die erste Bedingung ist nicht die Anziehungskraft, sondern die Vergebung. Denn die Anziehungskraft - so mein guter Freund der Dichter Giacomo Leopardi - verbirgt sich hinter dem Gesicht.
Im vorhin zitierten Brief heißt es weiter: «Zu behaupten, dass die Bruderschaften im Dienste der lokalen CL-Gemeinschaften stehen, bedeutet bei uns, dass die Mitglieder der Bruderschaft gehalten sind, in den bereits existierenden Werken mitzuarbeiten». Keineswegs! Die Bruderschaften stehen im Dienste der Bewegung; doch die Art und Weise des Dienstes an der Bewegung, dort wo die Bruderschaft anwesend ist, geht durch die Freiheit derer hindurch, die sie leben. Dass die Bruderschaft im Dienste der Bewegung steht, bedeutet nicht, dass ihre Mitglieder gehalten sind, an den Werken mitzuarbeiten, die bereits existieren: die Mitglieder der Bruderschaft reifen langsam heran, sie überwinden dabei Beschränktheiten, Widerstände, und so weiter, versuchen mit größtmöglicher Nachsicht, das bereits Existierende zu betrachten. Im Rahmen des Möglichen (auch des psychologisch Möglichen) werden sie versuchen, behilflich zu sein bei dem, was schon existiert. Doch können sie auch anderes tun, etwas anderes kann ihnen in den Sinn kommen und vor allem ist es möglich, dass man mit gewissen Ansätzen nicht übereinstimmt, dann baut man eben etwas anderes auf. Doch alle, die einen wie die anderen, sollten glücklich sein, dass der Glaube eine mannigfache, vielfältige Kreativität anregt.
Beachtet meine Worte, denn es kann keine Bruderschaft geben, die Groll gegen andere hegt oder gegen die Leitung der Bewegung am jeweiligen Ort, in der jeweiligen Stadt: Was wäre das denn für ein Ansatz? Es könnte eine Gruppe der Bruderschaft geben, die die Bewegung tatsächlich liebt und willens ist, mit der örtlichen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, doch in einigen Dingen wirklich nicht einverstanden ist. In so einem Fall wird sie darüber zu sprechen versuchen. Ich meine: zuallererst muss die Vorgehensweise, die Bewegungsart frei sein!
Es könnte zu den Aufgaben der Diakonie beispielsweise gehören, alle Gruppen der Bruderschaft zu bitten, ein bestimmtes Werk zu unterstützen, anstatt sich in etwas eigenem zu engagieren. Dies wäre eine Einsicht, der es zu gehorchen gelte. Doch so etwas wird gewiss nur mit äußerstem «grano salis» durchgeführt. Ich werde jetzt schnell zwei Anmerkungen verlesen, eine über die zentrale Diakonie und die andere über die Gemeinschaftskasse.
Es ist nochmals darauf hinzuweisen, dass die zentrale Diakonie als einzige Autorität innerhalb der Bruderschaft gilt. Ihr nämlich steht nicht nur die Ernennung der Personen zu, denen die bedeutungsvollsten Verantwortungsbereiche in unserer Vereinigung übertragen werden; vor allem auch erlässt sie die geltenden Richtlinien für das Leben der Bruderschaft. Nur ihr steht das zu, da die Organe vor Ort (der Verantwortliche der Region und die regionale Diakonie) lediglich die Richtlinien der zentralen Diakonie in den einzelnen Gemeinschaften der Region umsetzen (wie in der Satzung verankert).
Ich lese Euch dies alles zur Kenntnisnahme, doch das Wesentliche ist, was ich vorhin sagte: diese Dinge werden wir Schritt für Schritt auf unserem Weg begreifen, das Großartige und Wichtige aber ist der Grund unseres Zusammenseins.
Aufgrund der Bedeutung der Diakonie des Zentrums, ist es ratsam, kurz ihre Struktur zu erläutern. Die Diakonie setzt sich zusammen aus den Verantwortlichen der Regionen, den Verantwortlichen für verschiedene Bereiche (ein Vertreter für das Schulwesen, einer für die Universitäten, einer für die Arbeitswelt, einer für Leben als Bürger, einer für die Kultur), sowie einer bestimmten Anzahl hinzugewählter Mitglieder. Die Verantwortlichen einer Region haben gewissermaßen eine Mittlerfunktion in der Beziehung zwischen den Mitgliedern der Bruderschaft und der zentralen Diakonie (der für eine Region Verantwortliche leistet einen Dienst und vermittelt zwischen den einzelnen Gruppen und der zentralen Diakonie).
Schließlich noch eine letzte Feststellung, die die Gemeinschaftskasse betrifft: Jedes Mitglied verpflichtet sich, mit einer selbstbestimmten, jährlichen Summe - einem Prozentsatz seines Gehalts - zur Unterstützung der Bedürfnisse unserer Gemeinschaft beizutragen. Der Beitrag zu diesem gemeinsamen Fond ist verpflichtend und frei: Verpflichtend, insofern jeder beitragen sollte; frei, absolut frei, was die Höhe angeht. Der Beitrag versteht sich als Prozentsatz des eigenen Gehalts, als Symbol und Zeichen der Armut, der Tatsache nämlich, dass das, was uns gehört, nicht unser ist, sondern von Gott zur Verwaltung anvertraut. Armut bedeutet nicht, nichts zu verwalten zu haben: Armut bedeutet Verwalten und dabei als oberstes Ziel haben, dass alles dem Reich Gottes, der Kirche diene. Das Zeichen, dass wir unser ganzes Leben - einschließlich des Geldes und all dessen, was wir besitzen - als etwas begreifen, das dem Reich Gottes dienlich ist, ist der Beitrag zur Gemeinschaftskasse.
Die Gemeinschaftskasse wird in der Regel für folgende Zwecke benutzt: Spesen für organisatorische Dinge, die für das Leben der Bruderschaft notwendig sind; Unterstützung von wichtigen und bedeutsamen Aktivitäten der Bewegung missionarischer und kultureller Natur (denn kulturelle Aktivität verleiht unserer Erfahrung Wirkkraft) und Hilfestellung im Falle ernster Bedürfnislagen, die der zentralen Diakonie gemeldet werden.
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Bevor ich nun schließe, möchte ich nochmals daran erinnern, dass die Bruderschaft gegründet wurde, um uns dabei behilflich zu sein, Christus besser kennenzulernen. Sie wird diese Aufgabe erfüllen, wenn wir gehorsam an ihr teilnehmen. Wesentlicher Bestandteil dieses Gehorsams ist das Gebet. Jemand von euch hat mir ein Zitat aus dem Roman «Der Herr der Welt» von Benson gegeben: «[Die Christen] haben zwar genug Glauben, um zu handeln, nicht aber, um geduldig zu sein» (R.H. Benson, Der Herr der Welt, Würzburg 1994, S. 184). eine sehr nützliche Bemerkung, denn ohne Geduld wird man einfach nicht erwachsen. Wenn Du also ein Unbehagen spürst, dann prüft Dich der Herr; und wenn Du Dich dieser Gemeinschaft angeschlossen hast, dann weil Du hoffst, dass Dir geholfen wird, so wie wir hoffen, aus Deiner Mühe zu lernen. Inzwischen jedoch gilt es, Gott zu bitten und dafür keine Zeit zu verlieren. Allein dies müssten wir im Grunde immer tun.
Was den Verantwortlichen für eine Bruderschaft betrifft, so ist zu sagen, dass ihm die Aufgabe zukommt, zur Korrektur aufzurufen und um Einheit bemüht zu sein, also zur Solidarität anzuregen. Wahrscheinlich wird die Gruppe eine Persönlichkeit wählen, die etwas ausstrahlt, was aber nicht notwendig ist, da ihre Funktion eine zweifache ist: einerseits die Hilfestellung zu leisten (sie wird wohl auch zum Telefon greifen müssen, sagen, «Lasst uns doch...» und bei Uneinigkeiten das letzte Wort sprechen müssen), andererseits eine Art Askese zu leben, insofern andere irgendwie an ihr hängen. Mehr will ich dazu nicht sagen, sonst geraten wir noch in pietistische, moralistische Details. Wir sind doch nicht im Kloster, sondern Laien in dieser Welt! Doch, aufgepasst, eine Regel für Laien in der Welt, wie in der Bruderschaft, zieht sehr wohl Nutzen aus den asketischen Werten des Klosters, wenn sie im Leben angewandt werden: die Abhängigkeit von einer Person, und sei sie auch ein Quälgeist, kann das erhabenste Gefühl vertiefen, dessen der Mensch fähig ist, nämlich das der Abhängigkeit von Gott. Natürlich kann das nicht mechanisch vonstatten gehen. Auch in einem Konvent herrschen Regeln, die Obrigkeit regeln, unter denen auch der Obere steht. Es geht dort schlicht und einfach darum, prinzipiell einen letzten Bezugspunkt der Gruppe zu haben. Bei uns hingegen herrscht ein sehr dehnbares Verständnis davon: einer mag es zu hundert Prozent leben, ein anderer zu einem Prozent, einer mag in der Lage dazu sein, es hundertprozentig zu leben, ein anderer nur einprozentig, weil sonst der Erstere zum Fatzke wird. Man kann auch nicht auf mich blicken, um zu verstehen, was das für die Beziehung mit der eigenen Frau heisst!
Was ich hier tue, bitte nehmt das zur Kenntnis, tue ich für Euch, ebenso wie ich es auch für mich tue, und es kommt mir in den Sinn, weil ich es für notwendig halte. Es kam mir in den Sinn, weil ich es war, der seine Notwendigkeit verspürte. Man kann nicht verspüren, was in einem anderen Menschen ist, was für ihn gilt, wenn man es nicht in der eigenen, innersten Menschlichkeit verspürt.
Nichts hilft jemandem mehr auf seinem Lebensweg, wie das erstaunliche Faktum, dass andere bei ihm bleiben: das ist eine Sache, die nicht von dieser Welt ist! Lebt diese Einfachheit also auch unter Euch. Wem man am meisten danken muss, sind die vielen unter euch, die die Botschaft der Bewegung mit Ernsthaftigkeit und tiefer Einfachheit zu leben wissen, wie die beiden Brautleute, die ihre Hochzeitsreise hierher mit uns gemacht haben.
Ich bitte Euch jedenfalls, schließlich und endlich, gegenseitiges Vertrauen zu haben, geben wir uns einen Vertrauensvorschuss. Gleich ob wir jetzt 1.800 sind, oder drei oder vier. Wir sind wirklich wie eine Familie. In diesem Sinne bitte ich Euch - und das stelle ich aller Verantwortlichkeit, die ich für die Bewegung noch habe, voran: teilt mir Fragen, Vorschläge und Vertrauliches mit, allerdings nicht, ohne auch Geduld mit einzuplanen, denn die Zeit ist kurz.

Anmerkungen:
1 Fürbitten bei den Laudes des Sonntags, in Lieder. Ein singendes Volk, pro manuscripto, S. 22.
2 Der Morgen rötet sich und glüht, Hymnus bei den Laudes des Sonntags. Ebd., S. 37.
3 Charles Peguy, Prière de résidence. In: La tapisserie de Notre Dame, Paris 1913, S. 71-83.
4 Vgl. Luigi Giussani: Das Wagnis der Erziehung. Zur christlichen Erfahrung. St. Ottilien, EOS-Verlag 1996.
5 Gal 3, 27.