Logo Tracce


Editorial
Unüberhörbare Herausforderung zur Freiheit
Pierluigi Battista

«Wenn auch keine Erlösung kommt,
so will ich doch jeden Augenblik ihrer würdig sein»
(Franz Kafka)

Als erstes Editorial des Jahres 2002 bringen wir einen Kommentar zum Buch von Luigi Giussani Am Ursprung des christlichen Anspruchs. Er stammt von dem Journalisten Pierluigi Battista, der für die in Turin erscheinende Tageszeitung La Stampa schreibt und den er anläßlich der Vorstellung von Giussanis Buch in Italien schrieb. Für uns bedeutet es immer einen Neuanfang, wenn sich der unabdingbare Anspruch erneuert, den das christliche Ereignis in die Welt gebracht hat und der zum Scheideweg der Geschichte wurde. Eine Herausforderung, die an freie Menschen ergeht, hier und heute.

Will man das Buch von Luigi Giussani besprechen, darf man nicht nur seinen Inhalt betrachten. Man muß auch und vor allem der ausgesprochen schlüssigen Argumentation eines Christen Beachtung schenken, der seine Leser vor die freie Wahl stellt, ganz so wie es die alles entscheidende Frage tut, die die Menschheit seit 2.000 Jahren umtreibt und die ihr keine Ruhe mehr läßt: «Stimmt es, dass Gott in die Geschichte eingriff»? «Ist es wirklich passiert oder nicht?».

Giussani versetzt den Leser in eine Lage, in der es keine Ausflüchte mehr gibt, in der jedwede moralische oder begriffliche Unbekümmertheit ihr Ende hat: «Es gibt gewisse Aufrufe, die wegen ihrer Radikalität nicht übergangen werden können, sobald man sie verstanden hat und wie ein Mensch reagiert. Der Mensch ist dann gezwungen ja zu sagen, oder nein». Eine drammatische Alternative, die Giussani in Anlehnung an Kierkegaard so formuliert: «Was heute gänzlich in Vergessenheit geraten ist, ist der christliche Imperativ: du musst. «Du musst» Stellung beziehen gegenüber Christus, weil dir das Christentum verkündet wurde. Er beziehungsweise die Tatsache, dass Er existiert oder existiert hat, entscheidet über alle Existenz».

Ein ``Europäer unserer Tage'' wie ich ist (Giussani beschreibt das im Buch, auf der Linie Dostojewskis zu Recht in aller Deutlichkeit) ganz einfach bestürzt angesichts der Radikalität solcher Fragen. Jemand, der sich wie ich schwer tut mit Gewissheiten, der dazu neigt, alle Probleme durch die Brille eines Rationalismus zu betrachten, der sie zerst¨ckelt und dessen Leben dabei zusätzlich von den Komplikationen erschwert wird, die der moderne Zweifel mit sich bringt, spürt, dass sich hinter jenen Fragen eine Herausforderung verbirgt: ein dringender Appell nicht abzuschweifen oder einer Politik der Verdrängung sowie einer Rhetorik der Gleichgültigkeit die Ehre zu geben.

Giussani zwingt niemanden zu glauben. Er erlegt kein widersinniges, verbindliches und paradoxes «Du musst glauben zu glauben» auf. Doch appelliert er an die Freiheit eines jeden von uns, auf dass wir den Blick nicht anderswo hinwenden, um dem Wesentlichen auszuweichen, um das es in diesen Grundfragen geht. Die «Freiheit» eben. Freiheit gegenüber den Sirenen und moralischen Erpressungen eines modernen Utopismus, der sich ohne weiteres anmaßt, sich an die Stelle der Religion zu setzen und die Gesellschaft oder die Menschheit zu erneuern - eine Anmaßung, die direkt in die Hülle des Despotismus und unbeschränkter Herrschaft über alles und jeden führt. Eine Freiheit, den Anspruch, zu leben «als ob es Gott nicht gäbe» auf den Kopf zu stellen. Denn so einfach ist es nicht. Die eigentliche Herausforderung für den, der nicht glaubt, lautet: «Leben, als ob es Gott gäbe», von sich selbst und den anderen eine Ernsthaftigkeit und Strenge zu verlangen, die das Gegenteil sind von Oberflächlichkeit und vorbehaltloser Hingabe an die «Welt», wie die Jesuiten einst gesagt hätten, als sie noch Jesuiten waren, als sie jesuitische Jesuiten waren.

Freiheit als Herausforderung: dies ist die Botschaft von Giussani, der gegenüber der gequälte Europäer unserer Tage nicht einfach so tun kann, als habe er sie nicht vernommen. Er kann sie zurückweisen, braucht sich ihren Imperativen nicht zu fügen. Doch kann er jetzt auch sagen, sein eigenes Gewissen nicht in einer Nische versteckt zu haben, die von der maßlosen Arroganz des Ungläubigkeit beschützt wird.