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Editorial
Eine geheimnisvolle und gütige Bestimmung
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Einer der Gemeinplätze von heute, die nie kritisch hinterfragt werden, lautet: «Wer den Glauben hat, ist zu beneiden». Viele der Schriftsteller, Journalisten oder Politiker, die sich heute in diesem Sinne äußern, meinen das durchaus ehrlich. Sie verstehen unter der Gnade des Glaubens das Glück, über eine besondere Art des Trostes zu verfügen. Gleichsam über ein Heilmittel besonderer Art, ein Schmerzmittel gegen besonders hartnäckige und unerträgliche Leiden.
Der Glaube wird dabei jedoch zu einem Phänomen abgestempelt, das nicht unmittelbar etwas mit dem Leben zu tun hat, sondern gleichsam erst eine Reaktion darauf darstellt. Als gäbe es auf der einen Seite das Leben, mit seinen Abenteuern und Grenzerfahrungen, und auf der anderen Seite den Glauben, um die Wunden zu heilen, die einem das Leben bisweilen schlägt.
Ein derartiges Verständnis der Rolle des Glaubens im Privatleben findet eine noch viel deutlichere Entsprechung im öffentlichen Leben und in der Menschheitsgeschichte. Die meisten Menschen halten es für unmöglich, dass der Glaube irgendeine positiv erfahrbare Wirkung auf die Geschicke einer Welt haben könnte, die von Hass und Gewalt regiert zu werden scheint. Der Aufruf des Papstes zu einer authentisch religiösen Haltung angesichts der jüngsten Geschehnisse im Nahen Osten oder der Ereignisse des 11. Septembers in New York muss den meisten daher als ein für die gegenwärtigen Probleme unbrauchbarer Lösungsvorschlag erscheinen.
Zu keiner Zeit haben es die Hüter der Ideologie ertragen können, dass der Glaube tatsächlich das konkrete Leben der Menschen, ihre privaten und öffentlichen Handlungen betrifft.
Würden sie das zugeben, dann wären auch vermeintliche Gewissheiten neu zu überdenken, auf denen es gemäß vorherrschender Mentalität die eigene Existenz zu gründen gilt: Erfolg, Macht und Wohlergehen, verstanden als erfolgreich verteidigter Schutz vor Störungen der eigenen Ruhe. Auch eine grundlegende Ausrichtung des Menschen auf den Sinn des Lebens müsste dann für wesentlich gelten. Im Gegensatz dazu herrscht jedoch die Meinung vor, dass es darauf nicht ankomme; eine Stellungnahme zur eigenen Bestimmung, zum Sinn des Lebens und der Wirklichkeit sei belanglos. Es komme auf Anderes an.
Der Gemeinplatz, die Religion habe in der Angst ihren Ursprung, ist weit verbreitet. Und doch füllt gerade der Mensch, der der Frage nach der Bedeutung des Lebens feindselig gegenübersteht, sein Leben mit allerlei Dingen und Beziehungen an, damit sie ihn von jener fundamentalen Frage ablenken und «trösten». Die Zensur, der er sich unterwirft, wird umso größer, je klarer er sich des Problems bewusst wird. Deswegen ist die Kirche in unseren Tagen nicht mehr erwünscht, wie Eliot bemerkte. Weshalb sich abplagen mit jemandem, der unentwegt an die Beziehung mit der Bestimmung erinnert? Man geht der Kirche daher lieber aus dem Weg oder greift sie an, verspottet sie und bringt sie, wenn nötig, in Verruf.
Mit der unerhörten Einladung «Weine nicht!» trat Jesus Christus in die Geschichte ein. Mit all seinen Lasten und Begrenzungen ist das Leben letztlich nichts, was es zu beweinen gilt. Diese Einladung ist kein vorübergehender und somit grausamer Trost, sondern die Mitteilung der Gewissheit, dass die Glückseligkeit die Bestimmung des Lebens ist. Eine solche Gewissheit ist aber nur möglich, weil die Möglichkeit besteht, in der Gegenwart mit dieser Bestimmung in Beziehung zu treten, mit der menschgewordenen Bedeutung der Welt, mit der Wahrheit, die sich als lebendig und freundlich erweist und endlich nicht mehr in Mutmaßungen und Wünschen aufgeht.
Nur der Gott, der Fleisch angenommen hat - und darin die Erfahrung des Todes gemacht hat - und alles Menschliche mit in die Auferstehung hineingenommen hat, kann sich von der Lage der Menschen rühren lassen, und ihnen die Gewissheit vermitteln, dass das Leben nicht sinnlos ist. Daher «gibt es nichts, was die Sicherheit aufhalten könnte, die aus der Gewissheit erwächst, dass die Bestimmung geheimnisvoll ist und gütig», wie Don Giussani zum Abschluss der Exerzitien der Fraternität von CL gesagt hat.