Editorial
Ein Volk inmitten all der Völker
-
Unlängst schrieb die Tageszeitung Le Monde, eine der gewichtigsten
laizistischen Stimmen Frankreichs, Weihnachten und Neujahr seien die
Feste, die sich im französischen Volk der größten
Beliebtheit erfreuten. Einer Untersuchung zufolge käme diesen
beiden Festen, abgesehen von ihrer ursprünglichen Bedeutung,
eine wichtige Funktion dadurch zu, dass sie ein in vielfacher
Hinsicht zerissenes Volk zusammenhielten.
In Italien versucht
man seit einiger Zeit (u.a. bei Fußballweltmeisterschaften)
nationalen Symbolen (wie Hymne und Trikolore) wieder mehr
Aufmerksamkeit als Symbole einer - mehr oder weniger - vorhandenen
volkstümlichen Verbundenheit und nationalen Einheit zukommen zu
lassen. In Europa diskutiert man über devolution und
Regionalisierung.
Unterdessen zeigen die seit Jahren laufenden Diskussionen zu einer
Europäischen Grundrechtecharta, wie schwierig es ist, Europa, das
zwar eine gemeinsame Währung besitzt, aber gut vierzig Sprachen
spricht, als ein Volk mit eigener Identität zu definieren.
Es ist also nicht verwunderlich, wenn nicht wenige Politker, gerade in
Zeiten wirtschaftlicher Schwäche, sich auf ein 'Volksbewusstsein`
oder den 'Gemeinsinn` berufen, um Einschnitte und Opfer
zu rechtfertigen.
Die Frage, was es
heißt, ein Volk zu sein, ist heute aktueller denn je zuvor.
Seit rund fünfhundert Jahren ist das Leitbild in Kultur,
Religion und Politik die vermeintliche Autonomie des Individuums. Ein
Großteil der Menschen vermag mit dem Wort "Volk"
nichts mehr anzufangen, zu oft wurde es rhetorisch mißbraucht,
wird mit "Fanklubs" oder "aufgewiegelte Massen"
assoziiert.
Die Geschichte hat
den Aufstieg und den Untergang großer Völker gesehen,
mögen sie auch noch so verschiedenen gewesen sein. Die einen
hinterließen prächtige Spuren, die anderen kaum einmal die
Erinnerung an ihren Namen. Was auch immer sie vereinte, nichts konnte
sie davor bewahren, ihre eigene Identität allmählich zu
verlieren und wieder aus der Geschichte zu verschwinden: weder das
politische Geschick ihrer Heerführer, noch ihre günstige
äußere Lage oder die Anbetung der eigenen Götter.
Irgendwann kam der Zeitpunkt, da sie nichts Originelles mehr
hervorbrachten. Und so wird es wohl immer bleiben.
Doch es gibt ein
Volk unter allen Völkern der Erde, das eine Ausnahme bildet: das
christliche Volk. Ein Volk "sui generis" (Paul VI.), das
heißt ein Volk, das auf seine Weise Volk ist. Sein Ursprung
liegt nicht in einem Geschehen der Vergangenheit, sondern in etwas,
von dem es stets begleitet wird. «Ich werde bei Euch sein, alle
Tage bis zum Ende der Welt», hat Jesus den Seinen verheißen,
diesem verlorenen, etwas verschreckten Grüppchen von Leuten, die
mit Ihm lebten, mit Ihm aßen und tranken und mit denen das
christliche Volk seinen Anfang nahm, das sich damals noch vollzählig
unter dem Tor Salomons versammeln konnte - so unbedeutend war es in
soziologischer Sicht.
Allein die liebevolle Anerkennung des gegenwärtigen Christus wird
das christliche Volk am Leben erhalten. Dies unterscheidet es auch vom
Volk der Juden, aus dem es sich in eigener Kraft herausbildete. Der
Bund mit Gott, also das größte Abenteuer für einen
Menschen und für das Volk, das bei diesem Abenteuer entsteht,
hat die Gestalt eines Mädchess angenommen, das ihr Kind in den
Armen hält. Jener Bund hat sich auf unerwartete Weise erfüllt
in einem Ereignis, das das Herz derjenigen erfüllt, die ihm
begegnen, ohne dass es zuvor irgendwelche Bedingungen, Gesetze oder
Bräuche einzuhalten gälte. «Ich habe euch Freunde
genannt», sagt Gott, der in die Geschichte eingetreten ist und
die auf die Bestimmung ausgerichtete Freundschaft zum neuen Band
macht, das sein Volk zusammenhält. Ein neues Band: es besteht
nicht mehr im Blute oder in politischem Konsens oder dem allgemeinen
Recht. An der Freundschaft allein erkennt man das christliche Volk.
Nicht Fahnen, Hymnen oder Strategiepapiere werden dieses Volk am
Leben erhalten, das Geschichte gemacht hat und sie weiterhin macht.
Es wird neu geboren, sobald ein Mann und eine Frau von demselben
Staunen ergriffen werden, das Maria ergriffen hat, als das EREIGNIS
sie im Fleisch berührte. Ein Leben in diesem Bewusstsein wird
zur Quelle der Hoffnung für alle, sei es dass wir zu Hause
arbeiten, Hilfswerke ins Leben rufen oder niemand von unserem Tun
Kenntnis nimmt. Unser Schmerz und unsere Liebe, unsere Furcht und
unser Lob, alles stimmt ein in ein gemeinsames Lied, an dem sich
unser Volk ganz einfach und schön erkennen lässt, und das
seine einzige Waffe ist in dem unbewaffneten Kampf gegen den Versuch,
es auszulöschen.
|