Wissenschaft
Wissenschaftsgläubigkeit. Eine Alternative zum Glauben
Marco A. Pierotti
Oft sind es kleine Bemerkungen, die große Unterschiede in der
Mentalität zum Ausdruck bringen. Der bekannte italienische
Wissenschaftstheoretiker Giulio Giorello wandte sich kürzlich scharf gegen
Don Giussani, weil dieser sich kritisch gegenüber einem weitverbreiteten
‘Szientismus’ (das ist der Glaube, die Wissenschaft könne alle
menschlichen Probleme lösen) geäußert hatte. Daraufhin meldete
sich eine Reihe von Forschern zu Wort und nahm ihrerseits Stellung.
Dokumente eines Mini-Kulturkampfs bei unseren italienischen Nachbarn.
In seiner wöchentlichen Zeitungskolumne im Magazine des Corriere della Sera
vom 20. Mai 2004 klagt der Wissenschaftstheoretiker Giulio Giorello Don Giussani
an, der Wissenschaft feindlich gegenüber zu stehen. Als Beleg wurde ein
Zitat aus einem aktuellen Buch von Giussani (Warum die Kirche?) angeführt,
in dem es über den Szientismus heißt, er sei «wie eine
Bakterienschicht durch Osmose in die Geistes- und Gemütsart der Leute
eingedrungen.»
Was einem dabei als erstes auffällt, ist, dass ein Mann wie Giorello,
der sich der Aufgabe verschrieben hat, Wissenschaft und Forschung in Italien
zu der Anerkennung zu verhelfen, die ihnen gebürt, Wissenschaft und
Wissenschaftsgläubigkeit in einem Atemzug nennt, um so Giussanis Worte als
wissenschaftsfeindlich verwerfen zu können. Dabei ist doch allseits bekannt,
dass Szientismus eine Haltung ist, die beansprucht, die ganze Wirklichkeit, den
Bereich des Menschlichen nicht ausgenommen, mit Methoden zu beschreiben und zu
erklären, die nur für einen Teilbereich der Wirklichkeit passen.
Die Geschichte bietet zahlreiche Beispiele für die unmenschlichen
Konsequenzen dieser Anmaßung. Noch heute büßen etwa die Erben
des Sowjetreiches die Anwendung der sogenannten staatlichen Genetik eines Lisenko.
Und Giussani läßt selbst keinen Zweifel daran, was er am Szientismus
zurückweist, wie aus einem Passus hervorgeht, der unmittelbar auf die von
Giorello zitierte Stelle folgt: «Die Ausrichtung des wissenschaftlichen
Fortschritts allein auf eine Förderung menschlicher Belange, die jede Form
der Entwicklung allein an diesem Maßstab misst». Eine
Anmaßung also, die die Vernunft selbst aus gesundem Realismus
zurückweisen muss. Was zum Glück - darauf weist Giorello nicht zu
Unrecht hin - bei ausgewiesenen Wissenschaftlern in der Regel geschieht.
Wieso dann aber das ganze Aufheben? Ist es nicht zu begrüßen, das
Vernunft und Glaube sich gegenseitig tragen? Vielleicht klären sich
Giorellos Absichten, wenn man in Betracht zieht, dass er kurze Zeit später
(diesmal in der Rubrik Zeitgeschehen derselben Zeitung) folgende Hoffnung zum
Ausdruck brachte:
«Dass sich doch schon bald Kirchtürme und Minarette gemeinsam in den
Himmel der Lombardei erheben mögen.»
Doch wir wollen uns hier nicht in Spekulationen verlieren. Interessanter
dürfte es sein, darzulegen, was ich den Werken Giussanis und, was mich
besonders ehrt, seiner Freundschaft in wissenschaftlicher Hinsicht zu verdanken
habe. Dabei spreche ich als Forscher, der täglich mühsam versucht, den
Bereich des Wissens ein klein wenig zu erweitern. Es geht mir also nicht um eine
Entgegnung auf Giorello und auch nicht um eine Verteidigung von Giussani (die er
keineswegs nötig hat).
Was mich immer sehr an Giussani beeindruckt hat, war die Harnäckigkeit,
mit der er, gleich um welches Thema es ging, die Frage nach der Wahrheit auf den
Tisch brachte und zugleich die nach der Methode, um zu ihr zu gelangen, das
heißt die Methode und die Dynamik des Erkennens. Eine grundlegende Einsicht,
die ich gewinnen konnte lautet:
Das Schöne ist ein Synonym für das Wahre und wird immer begleitet von
Staunen und einem Gefühl der Dankbarkeit.
Don Giussani hat mich gelehrt, dass der ganze Erkenntnisprozeß stets von
Zuneigung getragen sein muss. Um zu verstehen, was Erkenntnis bedeutet, reicht
es nicht aus, sich in Genetik auszukennen und über die biochemischen
Vorgänge im Gehrin informiert zu sein, wenngleich sie doch das Funktionieren
des Gehirns bedingen. Man erkennt nur, was einen beeindruckt, was einen betroffen
macht. Wir selbst bestehen sozusagen aus dem, was uns beeindruckt hat, aus den
Geschehnissen und Personen, die uns beeindruckt haben.
Giusanni zitiert in besagtem Buch einen Brief von Karl Marx an seine Frau, in dem
es heißt: «Aber die Liebe, nicht zum Feuerbachschen Menschen, nicht
zum Maleschottschen Stoffwechsel, nicht zum Proletariat, sondern die Liebe zum
Liebchen und namentlich zu Dir, macht den Mann wieder zum Mann.» Zuneigung
kommt von affectus und heißt so viel wie betroffen oder getroffen werden.
Erkenntnis vollzieht sich oft auch auf einem geistigen Leidensweg, der ins Leere
läuft, wenn er nicht von einer Zuneigung getragen wird. Und Erkenntnis dient
zu nichts, wenn sie nicht Orientierung im Handeln ermöglicht.
Erkenntnis heißt ja, von etwas beeindruckt sein, angezogen,
fasziniert sein. Dafür bedarf es der Schönheit als Abglanz der Wahrheit,
der Wahrnehmung einer Entsprechung, der Ahnung, dass das, was ich untersuche,
für mich gemacht ist! Die Schönheit ist der Sinn der Dinge, sie
ermöglicht es dem Menschen, die ihn umgebende Welt in sein Bewußtsein
hereinzulassen und der Wahrheit als Erkenntnis der Wirklichkeit einen Schritt
näher zu kommen. Schönheit ist jedoch immer auch geheimnisvoll und wie
bei wahrer Liebe ist hier Besitz nur möglich, wenn man sich selbst besitzen
lässt. Das heißt, man muss anerkennen, dass der letzte Sinn, die
Bedeutung der Dinge, ja des Lebens überhaupt in einem Anderen liegt. In
dem Maße, wie etwas wahr ist, ist es auch schön. Es steht mit der
Natur und der Vernunft in Einklang und wird vom Geschöpf als Abglanz des
Wahren erfahren. Giusanni drückt das so aus: «Das menschliche Schauen
zielt letztlich immer auf eine Betrachtung der Schönheit ab.»
Betrachtung meint hier aber nicht den passiven Genuss eines Gefühls, sondern
Ausrichtung des Geistes, die sich in einem klaren Blick widerspiegelt, der
bewegt die Schönheit einer Sache erkennt und in ihr das primus movens
empfängt, das die Erkenntnis des Wahren einleitet, gleich welche
wissenschaftliche Methode zur Anwendung kommt.
Das Staunen ist die Haltung, in der mich Giussani erzogen hat, um im Schönen
das Wahre zu erfassen. Er sagt: «Eines lässt den wahren Forscher
unmittelbar staunen: das Wunder Gegenwart, die mich anzieht! Das ist es, was
meinen Forscherdrang weckt». Auf dieses Staunen kommt es grundlegend an
beim Erkennen, denn es lässt mich der Verbindung zwischen mir und der
Wirklichkeit gewahr werden.
Mit Staunen erfüllt mich auch, wenn ich der Wirklichkeit in ihrer
unverkürzbaren Kompaktheit gegenüberstehe, die im Pslam 8 beschrieben
wird, wo der einzelne Mensch in seiner Beziehung zum Unendlichen beschrieben
wird und als Selbstbewußsein der ganzen Welt, des Kosmos und seiner
selbst. Das Staunen angesichts des Mysteriums, dass die Schöpfung von
einem Geschöpf betrachtet und zumindest teilweise verstanden werden kann,
läßt sich bei allen finden, die sich durch intellektuelle
Aufrichtigkeit auszeichnen. Unabhängig davon, welcher Philosophie oder
Theologie sie nahe stehen. Um ein Beispiel zu machen: Einer der großen
Wissenschaftspublizisten, Edoardo Boncinelli, schreibt in seinem Kommentar zum
zweiten Gesang aus Dantes Inferno über die Vernunft (für die Virgil
steht): «Ist sie nicht Ausdruck erkenntnistheoretischer und normativer
Hybris, die uns einen Platz zwischen Tier und Engel zuweist und uns zu
verstehen gibt, weder zu den einen noch zu den anderen zu gehören? Sie ist
wohl eine Anomalie, eine Abart, ein Virus im Computer der Welt. Zugleich macht
sie uns aber auch als einzige auf diese Tatsache aufmerksam.» Die
Vernunft, ein Virus im Computer der Welt! Jedenfalls nicht ohne Tiefgang!
Die Entdeckung der Schönheit beim
Erkennen wird neben dem Staunen aber immer auch von einem Gefühl der
Dankbarkeit begleitet. Auch dies zeigt mir Giussani: «Die Dankbarkeit ist
ein Indiz der Beziehung, die der Mensch mit dem Unendlichen hat». In
dieser Haltung befindet sich der Mensch, wenn er vor seiner Bestimmung, vor dem
Ideal, steht. Die Dankbarkeit führt der Wahrheit entgegen, schließt
auf für alles, was einem an Wertvollem entgegenkommt. In meiner Arbeit
erfahre ich dies als die befreiende Objektivität der wissenschaftlichen
Methode. Als eine große Offenheit, wie sie aus einem Kalkül heraus
nicht erreicht werden kann, die vielmehr menschliche Lebensform ist. Der
größte Reichtum eines Forschers besteht wohl darin, dass er stets
mit dem rechnet, was er nicht vorhersehen kann.
Ich muss an dieser Stelle auch meine vielen
Besuche auf dem Meeting für die Freundschaft unter den Völkern in
Rimini erwähnen. Die Themen, mit denen man sich dort auseinander gesetzt
hat, belegen klar die Leidenschaft, die Giussani für die Wirklichkeit in
all ihren Facetten hat, auch für Naturwissenschaft und Technik. Ich und
viele andere Forscher aus aller Welt wurden immer wieder dorthin eingeladen.
Viele meiner Kollegen, die dem Denken Giussanis und seinem Werk eher fern
stehen, waren mehr als beeindruckt von der Leidenschaft für die
Erkenntnis, die dort herrscht und von der Offenheit und der Gastfreundschaft,
die ihnen entgegengebracht wurden, obwohl oft genug klar war, dass man nicht
derselben Ansicht war.
Im Geiste dieser Offenheit und Wertschätzung bleibt mir zum Abschluß
nichts anderes, als in leicht abgewandelter Form den Wunsch von Giorello
aufzugreifen und der Hoffnung Ausdruck zu verleihen: «Dass Kirchtürme
und Minarette bald gemeinsam in den Himmel ragen mögen - in den Himmel
über Riad und Teheran».
* Der Autor forscht am nationalen ital. Institut für Zell- und
Molekularpathologie.
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