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Die Weisse Rose
Gesichter einer Freundschaft
Anneliese Knoop-Graf

Aus dem Grußwort von Anneliese Knoop-Graf

[...] Am 12.1.1942 schreibt Hans Scholl an seinen Freund Otl Aicher über den Kreis, den er «zusammengebracht» hat: «Du würdest Deine Freude an diesen Gesichtern haben, wenn Du sie sehen könntest... Alle Kraft, die man dort verschwendet, fließt unvermindert wieder zurück ins eigene Herz.»
Als Schwester von Willi Graf bin ich eine der wenigen Überlebenden, die diesen Kreis persönlich gekannt hat, und ich versuche, zeitbedingte Distanz mit meinem persönlichen Anteil zu verbinden. Es fällt mir nicht leicht, die Brücke zu beschreiten; denn die Geschichte mit ihrer historisierenden Kraft greift auch nach mir, und es bleibt nicht aus, dass mein Gedächtnis die damaligen Ereignisse inzwischen überformt, vielleicht gar verändert hat.
Wir erinnern uns: Die Weiße Rose war ein zwangloser Kreis von Gleichgesinnten, ohne organisatorische Struktur, ohne eingetragene Mitgliedschaft und ohne programmatisch festgelegte Anweisungen; ein Freundschaftsbund, dessen Dramatik manche Außenkontakte hervorbrachte. Was hätten aber diese jungen Menschen, isoliert im eigenen Volk, unerfahren in politischen Agitationen, kundig mit Büchern und Worten zwar, doch unkundig in den Strategien einer Konspiration – was hätten sie denn anderes ausrichten können als eine menschliche Rebellion gegen Unmenschlichkeit?
Im Wintersemester 1942/43 ging ich gerne auf den Wunsch meines Bruders ein, mit ihm in München zu studieren und bei ihm zu wohnen. Hier machte er mich auch mit dem Freundeskreis der Weißen Rose bekannt, zu einer Zeit also, als diese bereits mit den Flugblattaktionen begonnen hatten. Keiner von ihnen war ein tollkühner Hasardeur, keiner so wenig ein Fanatiker wie ein idealistischer Schwärmer. Die Erstrebung des Märtyrertums lag ihnen fern, heldischer Aktionismus war nicht ihre Sache. Nicht einmal Enthusiasten waren sie, die den Blick für die Realität verloren hatten. Sie waren vielseitig begabte, weltoffene Menschen, die das Leben liebten und genießen konnten und in ständiger kritischer Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und mit sich selber lebten.
Ähnlich waren – wie uns die Ausstellung zeigt – ihre Biografien verlaufen. Sie stammten aus bürgerlichen, religiös geprägten Elternhäusern und lernten frühzeitig, sich selbst als denkende, fühlende und mitleidende Individuen zu erkennen und zu reflektieren. Sie waren darüber hinaus durch eine gleichartige Ausbildung und gleichartige Interessen verbunden. Alle Dokumente und Berichte bezeugen eine große Belesenheit und eine überdurchschnittliche künstlerische Sensibilität.
Unterschiedlich waren sie in ihrer Wesensart: Mitreißend – verhalten – kühn – besonnen – fantasievoll – grüblerisch – jeder auf seine Weise. Es verband sie die Liebe zur Musik, zur Dichtung und Sprache. Sie teilten ihre Neigung für Geschichte, Philosophie und Theologie. Sie distanzierten sich davon, ‘Vater Staat’ als Lehrmeister anzuerkennen und setzten sich kritisch mit ‘Mutter Kirche’ auseinander. Sie waren elitär, aber nicht arrogant; entschieden und selbstbewußt, aber auch demütig; jung und unbedingt, wurden sie gleichwohl von den Folgen ihres Tuns nicht überrascht.
Indessen – das in zahlreichen Publikationen übermittelte Bild einer homogenen Gruppe stimmt nicht. Und ich vermerke dankbar und anerkennend, dass in dieser Ausstellung jede einzelne Persönlichkeit in ihrer Besonderheit herausgestellt und somit eine vereinfachende Pauschalisierung vermieden wird. Denn bei aller Übereinstimmung in wesentlichen Fragen wie auch in der kompromißlosen Ablehnung des Regimes hatten sich in diesem Kreis eigenständige Naturen zusammengeschlossen, und so individuell wie die Wesensart und geistige Prägung, die familiären Voraussetzungen und das menschliche Profil eines jeden waren ihre Entwicklungsphasen, ihre Wertesysteme und Denkweisen, ihre politische Orientierung wie auch ihre Wege zum Glauben. […]
Nimmt man die Freunde der Weißen Rose jedoch als  Gruppe  wahr, so zeigen sich jenseits der individuell verschiedenen Impulse übergreifende Motive, die das gemeinsame Tun struktu-rierten. Von Anfang an war allen klar, dass der Krieg nicht gewonnen werden dürfe und bereits verloren sei. Welche geistigen und sittlichen Anstrengungen muss es wohl diese Menschen aus national denkenden Familien gekostet haben, sich zu der Auffassung durchzuringen, dem Vaterland zuliebe die Niederlage Deutschlands betreiben zu müssen. Allen gemeinsam war ihre tief gegründete christliche Überzeugung, die ihnen unentbehrlicher Trost für das Handeln, nicht aber für das untätige Abwarten war. Diese entschiedene Haltung ist nicht zu trennen von dem Entschluß zum politischen Widerstand. Ihr christlicher Glaube war ihnen Herausforderung, aber auch Hilfe und Verheißung.
An einigen der Zusammenkünfte und Lesungen des Weiße-Rose- Kreises habe ich – gemeinsam mit meinem Bruder – zwischen November 1942 und Februar 1943 teilgenommen. Bei unseren Treffen fiel mir der moralische Rigorismus, aber auch die ungewöhnliche geistige Regsamkeit und hochgespannte Verfassung auf, mit der insbesondere Hans Scholl diskutierte und argumentierte. Er spielte nach Status und Überzeugungskraft in diesem Kreis den Primpart des Planenden und mitreißenden Voranstürmenden, während wir anderen, auch Sophie sowie mein bedächtiger und zurückhaltender Bruder, mehr im Hintergrund blieben als stille Zuhörer oder schweigend nachdenkliche Partner.
Wir gingen miteinander zu Konzerten und zum Essen, fanden uns zusammen bei Gesprächen und beim Tee, den Sophie auf einem Samowar zubereitete. Besuchten Vorlesungen bei Prof. Huber, trafen uns auch bei Leseabenden im Atelier Eickemeyer – und es ging keineswegs nur bedeutungsschwer zu. Die Themen, mit denen wir uns befaßten, waren meist literarisch bestimmt; Themen, die mein Bruder in seinem Tagebuch zutreffend mit den Worten skizziert: «Wir sprechen über Bücher und Menschen.» Lektüre war Hilfe, Überlebenshilfe.
Doch wurde in diesem größeren Kreis über den «Plan» und den «Aufbau» (diese Verschlüsselungen benutzte mein Bruder in seinem Tagebuch zur Umschreibung der Widerstandsaktivitäten) nie gesprochen. Mir wurde aber zunehmend klar: Dieser Zirkel lebte ein gespaltenes Leben zwischen dem Staatsterror und dem kollektiven Taumel auf der einen Seite und dem politisch wachen, ständig gefährdeten Leben im Freundeskreis auf der anderen Seite. Als dann am 18. Februar 1943 die Flugblätter in der Universität München verteilt und abgeworfen wurden, erinnerte ich mich an Gespräche und unverhohlene Äußerungen von der Notwendigkeit, einen klaren und sichtbaren Protest gegen das Regime zu wagen – und obgleich ich nichts Konkretes wußte – ahnte ich doch, wer die Urheber der Flugblätter waren.
Nachdem man Hans und Sophie gefaßt hatte, wurden Willi und ich ebenfalls verhaftet. Begleitet von zwei Gestapobeamten, im Fond eines Polizeiautos sitzend, hielten wir uns schweigend fest an der Hand.
Kurz vor seinem Tod hat Willi dem Gefängnispfarrer eine Bot-schaft an mich diktiert: «Du sollst dazu bestimmt sein, mein Andenken und Wollen aufrechtzuerhalten... Sage allen Freunden meinen letzten Gruß. Sie sollen weitertragen, was wir begonnen haben.» Hier ist es wieder: dies alles umfassende Motiv ‘Freundschaft’.
[…] Was – so gilt es zu fragen – was zieht uns bei der Beschäftigung mit dem Widerstand in seinen Bann? Ist es nicht immer auch die Integrität der handelnden Personen, die jener Verschmelzung von Wollen und Tun der Wahrhaftigkeit Ausdruck gibt?
Der Mut zum Widerstand wird niemandem in die Wiege gelegt. Widerstand entwickelt sich im Vollzug. Dies ist ein Prozeß, bei dem die Besonderheiten des Individuum stärker zutage treten als in normalen Situationen. Dennoch: Die Geschichte der Weißen Rose ist kein Heldenepos, so wenig, wie diese Ausstellung der Denkmalpflege dient. Es darf nicht der Eindruck entstehen, es handele sich bei den Mitwirkenden der Weißen Rose um unerreichbare Vorbilder. Das wäre angesichts der inneren Haltung dieser Menschen nicht mehr als ein Klischee. Jedes Pathos der Heldenverehrung würden sie sich auch gewiß verbeten haben. Auch in seiner unbestreitbaren Unfertigkeit, den Fehleinschätzungen und Versäumnissen, der ungeduldigen Überstürzungen, ja, auch durch sein Scheitern gewinnt dieser Widerstand an zeitlosem Profil, denn dadurch sind die Freunde der Weißen Rose Menschen mit Vorzügen und Schwächen, und sie erstarren nicht zu heroischen Geschichtsfiguren. Sie werden näher, faßbarer, menschlicher.
Diesem Anspruch wird die Ausstellung gerecht: Es sind die Gesichter einer Freundschaft, an denen nunmehr auch Sie Ihre Freude haben werden. Und ich wünsche Ihnen, daß alle Kraft, die davon ausgeht, «unvermindert in Ihr eigenes Herz zurückfließt». Ich möchte, daß sie Ihnen allen nahe bleiben, wie Bekannte, wie Verwandte, wie Freunde.