Die Weisse Rose
Gesichter einer Freundschaft
Hugo Ott
Jeden Dienstag scharte Theodor Haecker
einen kleinen Kreis von Freunden um sich im Weinhaus Schwarzwälder in
München – ein fester Stammtisch Gleichgesinnter, die meisten auch
Mitarbeiter der katholischen Monatsschrift ‘Hochland’, die der
Verleger Carl Muth herausgab, bis sie 1941 verboten wurde. Konrad Weiß
gehörte dazu, mit dessen Schriften ich mich besonders verbunden
weiß. Er war ein Landsmann aus dem Württembergischen von Haecker,
der aus der Nähe von Esslingen stammt. Sie hatten ihre je eigene
Dialektfärbung nie aufgegeben, so wenig wie die Vorliebe für die
Weine aus Württemberg, Baden und Franken inmitten der Bierstadt
München.
Und was da alles beredet worden ist, das
Hochpolitische so gut wie die Münchener Lokalpolitik, vor allem aber die
geistige Entwicklung – durch die Zeiten der Weimarer Republik und dann
seit dem Jahr 1933, dessen Heraufkommen Haecker vor allem mit
größter Besorgnis angekündigt hatte – die Perversion
abendländischer Kultur – Vergil, Vater des Abendlandes! – Ja,
Haecker hatte den Freunden das Hakenkreuz gedeutet als Symbol des Antichrist,
dem Zeichen des Tieres in der Apokalypse zugeordnet, die letzte deutsche
Schmach, dem Kreuz Christi unversöhnlich und haßerfüllt
entgegengesetzt. «In solcher Zeit, o meine Freunde, wollen wir beizeiten
überlegen, was wir mitnehmen sollen aus den Greueln der Verwüstung.
Wohlan: wie Aeneas zuerst die Penaten, so wir das Kreuz, das wir immer noch
schlagen können, ehe es uns erschlägt. Und dann: Nun was einer am
heißesten liebt. Wir aber wollen nicht vergessen, unsern Vergil, der in
eine Rocktasche geht.» (aus: Vergil. Vater des Abendlandes).
[…] Zu Beginn des Sommersemesters
1942 rief Carl Muth bei Haecker an; er habe einige recht aufgeschlossene
Medizinstudenten kennengelernt, von der Front abgeordnet, in einer
Studentenkompanie zusammengefaßt zum Weiterstudium. Die könnten so
manches berichten – vor allem von der Ostfront, vom bösen
Kriegswinter 1941/42, als der Vormarsch zum Stillstand gekommen war. Ob er den
jungen Menschen einen Vortrag halten könne. Haecker, seit Jahren mit
Redeverbot belegt, sagte zu, bat sich noch ein wenig Bedenkzeit aus. Nach
langer erzwungener Pause wieder eine Begegnung mit jungen Menschen. Er müsse
sich überlegen, was er auswählen wolle – aus seinem reichen,
aber nicht einfachen Oeuvre. Auf den 10. Juli nachmittags sagte er zu –
eine Lesung aus seinem Buch ‚Der Christ und die Geschichte‘, 1935
bei Jakob Hegner Leipzig erschienen, längst vergriffen, ohne Chance einer
weiteren Neuauflage. Es war ein Samstag. Das Semesterende rückte
näher. Der Marschbefehl für die Angehörigen der Frontfamulatur
an der Ostfront war ausgegeben.
[…] Die Häuser an der
Leopoldstraße, prächtige Bauten, die Hinterhöfe mit gewerblicher
Nutzung. Dort auch das Atelier des Architekten Manfred Eickemeyer, wo sich die
Gruppe traf – auch heute am 10. Juli. […] Es war dumpf im Raum, ein
heißer Julitag, nur die Oberlichter der Fenster waren ausgeklappt. Und
dann hockten sie auf den Tischen und den wenigen Stühlen und hörten
zu, still, gesammelt, der monotonen Stimme von Haecker, zwei Stunden wohl,
hungrig nach solch geistiger Kost, Sehnsucht nach verachteter und verfemter
Deutung der Geschichte, Deutung der Geschichte durch die offiziellen Vertreter,
die selbst Geschichte machten, denen die Geschichte das Antlitz zugewandt
hatte, die glaubten, vom Mantel der Geschichte berührt worden zu sein, als
der große nationale Aufbruch 1933 über die Deutschen hereingebrochen
war – jetzt endlich hat die Geschichte der Deutschen angefangen – 1933. Das aber, bei
Haecker klang anders, einfach, ja schlicht, aber klar und entschieden:
«Es haben von Anfang an die Menschen», sagte er, «seitdem es
sie gibt, es hat sie ja nicht immer gegeben, der Mensch soll das nicht
vergessen, einander Geschichten erzählt. Fast scheint es, dass sie nicht
zum wenigsten auch dadurch eine Einheit bekundet haben und bekunden: Sie
erzählen einander gerne Geschichten. Der Mensch ist ein zoon
historicon». Und er entwickelte aus dem augustinischen Geschichtsdenken
ein christliches Geschichtsbild – Geschichte von der Offenbarung
bestimmt, die Grundkategorien sind theologischer Abkunft: «Alle
Geschichte ist Geschichte des Weges zum Heil oder des Abfalls vom Heil, des
Weges zu Gott oder des Abfalls von Gott». Aufstieg und Niedergang der
Reiche, also die Profangeschichte, ist eingefügt in die Heilsgeschichte.
Und er betonte immer wieder: «Die letzte Ordnung der Geschichte ist
Heilsgeschichte.» […]
Manche hatten sein Buch auf den Knien und
lasen darin wie in einer Partitur. Eine unglaublich gespannte Stille.
Erschöpft kam er zum Ende, bat um Nachsicht, dass er nicht diskutieren
könne, aber er sei müde geworden und müsse nach Hause. Hans
Scholl begleitete ihn bis zur Straßenbahnhaltestelle, schweigend nahmen
sie den Weg. Was Theodor Haecker nie erfahren hat: noch am nämlichen Abend
entwarfen Hans Scholl und Alexander Schmorell das 4. Flugblatt der Weißen
Rose unter dem unmittelbaren Eindruck von Haeckers Lesung. […] Nach
diesem 10. Juli 1942 trat ein langes Intermezzo ein, da die Verschworenen an
die Front gingen, erst zu Beginn des Wintersemesters wieder in München das
Studium aufnahmen, als die Zeichen an der Ostfront sich verdüsterten und
die Katastrophe von Stalingrad Konturen annahm. […] Dann aber jene
berühmte Lesung Haeckers am 4. Februar 1943 in Eickemeyers Atelier vor der
verschworenen Gruppe (es waren 35 Personen versammelt) aus Schöpfer und
Schöpfung – die gewaltige Theodizee, wie das Leiden mit der
Güte und Allmacht Gottes zu vereinbaren ist – Sophie Scholl
vermittelte einen unmittelbaren anschaulichen Kommentar und eine treffende
innige Charakterisierung: «Dies waren eindrucksvolle Stunden»,
schrieb sie ihrem Freund Fritz Hartnagel. «Seine Worte fallen langsam wie
Tropfen, die man schon vorher sich ansammeln sieht, und die in diese Erwartung
hinein mit ganz besonderem Gewicht fallen. Er hat ein sehr stilles Gesicht,
einen Blick, als sähe er nach innen. Es hat mich noch niemand so mit
seinem Antlitz überzeugt wie er.»
Am Tage zuvor war die Niederlage von
Stalingrad den Deutschen offiziell eingeräumt worden. In der Nacht auf den
4. Februar hatten die Studenten der Weißen Rose an Münchner
Gebäuden die Parolen ‘Freiheit’, ‘Nieder mit
Hitler’, ‘Hitler ist ein Massenmörder’ angebracht. Das
letzte für die Gruppe todbringende Flugblatt wurde in diesen Stunden der
Erschütterung konzipiert gegen die veröffentlichte Meinung.
Theodor Haecker hatte seine Zuhörer in
Bann geschlagen. Er habe manches Besondere verstanden und gehört, notierte
Willi Graf ins Tagebuch. In der Tat: Schöpfer und Schöpfung. –
Haecker hatte das Buch 1934 publiziert – Eine große Theodizee jetzt
im Angesicht des Bösen in der Welt – welche Aktualität! –
, die große Rechtfertigung Gottes, die der Mensch geben will, das
Geschöpf. Wie kann dieser Gott eine Welt schaffen in Zeit und Raum, eine
Welt, in der es Sünde und Schuld gibt, was dieser Gott voraussehen
mußte, und all das Entsetzliche an Leiden und Tränen. An Greuel und
Verwüstung. Und Haecker gibt seinen Hörern am 4. Februar unter der
Signatur von Stalingrad die religiöse Antwort: in der
unerschütterlichen Gewißheit der Erfahrung einer göttlichen
Führung. So endete Haecker seine Lesung: «Gott Selber wird Sie
überzeugen. Und Gott ist die Liebe.»
Christoph Probst, Hans Scholl, Sophie Scholl
hatten nur noch wenige Tage zu
leben. Roland Freislers 1. Senat, eiligst nach München
transportiert, machte kurzen Prozeß. Professor Huber, Alexander
Schmorell, Willi Graf und Hans Leipelt folgten später auf das Schafott.
Es wurden Plätze, Institute, Schulen,
Straßen nach der ‘Weißen Rose’ und den Mitgliedern
benannt. Ist das Erinnerung genug? Muss diese Geschichte nicht beständig
erzählt werden? Eine Geschichte des Scheiterns, eine Geschichte von der
Wirklichkeit eines anderen, eines geheimen Deutschland, eine Geschichte von der
Strahlkraft christlicher Überzeugung!
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