Charisma und Berufung - Gespräch mit Antonio Giavini
Memores Domini Berufungs-Gemeinschaft
Luca Doninelli
Eine ständige Leidenschaft für die eigene Menschlichkeit und
eine auf die Bestimmung hin geführte Gemeinschaft: die beiden
Bedingungen um heute und jeden Tag die Gegenwart Christi zu erleben.
Ein Gespräch mit Antonio Giavini, einem Mann der ersten Stunde.
«Die Bewegung ist nicht ein Weg, sondern der Weg ». Diese Worte des
Papstes geben unserem Leben eine unendliche Perspektive. Mir scheint, dass sie
zutiefst die eigentliche Natur unserer Fraternität treffen.
Gewiß. Die Idee auf die sich die Fraternität –und somit die
ganze Bewegung – gründet ist schlicht und einfach das Bewußtsein,
daß nur der gegenwärtige Christus das Menschliche rettet.
Daraus folgt sofort eine Frage: wie kann ich heute die Gegenwart Christi
erleben?
In der Gemeinschaft, verstanden als dem Ort, an dem Christus durch Personen
hindurch gegenwärtig bleibt. Mit anderen Worten ist sie die Möglichkeit,
beim Anfang zu bleiben, das heißt ständig in der Dimension des Anfangs
zu leben, auf der Ebene zwischen Ich und Du. In der Beziehung zum Leben in all
seinen Aspekten ist das Ich nicht mehr allein. Und nicht mehr allein sein
bedeutet, daß das Ich die Wirklichkeit nicht mehr auf seine Vorstellungen
über die Wirklichkeit reduzieren kann, sondern sie von einem Standpunkt aus
angeht, der für Gott und für uns gleich ist.
Mit anderen Worten?
Christus wird unser Wegbegleiter in dem
Maße, in dem Seine Gemeinschaft uns immer wieder neu geschenkt wird:
Memores Domini. Das gilt natürlich für jede Berufung, denn jede
Berufung läuft darauf hinaus. Die Memores Domini verstehen sich als
Christi Begleitung in der Welt.
Was sind die Bedingungen dafür, daß dies hier und jetzt,
in diesem Augenblick möglich ist?
Im Wesentlichen sind es zwei: man muß sich selbst lieben, das
heißt: die Liebe zum Sein pflegen und eine beständige
Leidenschaft für die eigene Menschlichkeit besitzen.
Das entspricht der dritten Vorbemerkung,
die Giussani in seinem Buch Der religiöse Sinn macht, nämlich,
daß man die Wahrheit mehr lieben muß als sich selbst.
Darüber hinaus braucht man aber auch eine Weggemeinschaft, die auf die
Bestimmung hin geführt wird – und ich unterstreiche
“geführt wird“ -, denn die Garantie dafür, dem Charisma
treu zu bleiben besteht in der Beziehung zur Autorität.
Was ist dann der Unterschied zwischen der Fraternität und den Memores
Domini?
Es kommt nicht darauf an, was uns unterscheidet oder was uns gemein ist, sondern
auf den Ursprung. Der Ursprung der Fraternität und der Memores Domini ist
ein einziger, es handelt sich um zwei Akzente der Einzigartigkeit des Charismas,
das uns hervorbringt. Der zentrale Punkt liegt darin, zu verstehen, daß
das, was das Menschliche in mir rettet, die Beziehung zu Christus ist, der hier
und jetzt gegenwärtig ist. Und die Bedingung dieser Beziehung nennt sich
„Charisma“, das sich in einer ‚bleibenden’ Gemeinschaft
Ausdruck verschafft. Ohne dies wird alles formal.
Was heißt ‚bleibend’?
Das ist der Kern der Frage: das, was
bleibt. Als Don Gussani die Intuition hatte, die Fraternität ins Leben zu
rufen, war das ein klarer Beleg dafür, wie sehr er uns Vater ist. Man
könnte sagen, daß er die Zukunft seiner Kinder garantieren will:
nicht im Sinne der Schaffung einer Organisation, durch wirtschaftliche
Maßnahmen oder als soziale Institution, sondern im ontologischen Sinn:
das Verbleiben seiner Söhne in der Gemeinschaft mit Christus: Christus,
Gemeinschaft Gottes für den Menschen.
Darin besteht auch die ganze Dramatik des menschlichen Lebens, abgesehen
von der Form, in der sich die Berufung jedes einzelnen verwirklicht.
Am Ursprung zu bleiben, bedeutet im Kampf
zu bleiben. Es gibt Personen, die sagen: «Ich habe verstanden, was Don
Giussani sagt» und ständig für Veränderungen
verfügbar sind. Der gleiche Gesichtspunkt realisiert sich zwischen Gott
und mir, wenn ich es zulasse, daß mein Blick dem Seinem folgt, und dies
ist im Geheimnis einer auf die Bestimmung hin geleiteten Gemeinschaft
möglich.
Warum sprichst Du von Geheimnis im
Zusammenhang mit der geleiteten Gemeinschaft?
Weil es sich nicht um eine Leitung handelt,
die nach sentimentalen oder politischen Kriterien bestimmt wurde. Das Geheimnis
der Autorität ist das Geheimnis Christi. Die Autorität ist der
gegenwärtige Christus. Hier liegt der Unterschied zwischen der richtigen
und der heute vorherrschenden Auffassung der Kirche, welche die Kirche auf eine
Idee reduziert.
Das ist aber eine allgemeine Gefahr.
Eines der größten Risiken, auch unter uns, ist die Reduzierung des
Charismas auf eine Idee. In diesem Sinne wird klar, wenn man sagt: Das, was
eine wahrhaft menschliche Position kennzeichnet, ist die Sehnsucht danach
korrigiert zu werden, denn das Charisma ist ein Anderer. Daher muß man
sich stets um Korrektur bemühen.
Sowohl die Memores Domini als auch die Fraternität geben sich eine Regel.
Wie würdest Du den Inhalt der Regel definieren?
Der Inhalt der Regel ist die correctio: kein do-it-yourself, sondern ein
Mit-machen.
Aber nicht im Sinne von Kollegialität! Das entspräche ja der
Mentalität der alten italienischen Kommunistischen Partei…
Natürlich nicht im Sinne der Kollegialität! Mit-machen bedeutet:
mit Christus machen. Wenn wir vom Geheimnis der geleiteten Gemeinschaft sprechen,
ist das gemeint. Wenn einer die Führung nicht mehr wahrnimmt, nimmt er das
Geheimnis nicht mehr wahr.
Zur Vereinigung der Memores Domini haben sich Angehörige von CL
zusammengeschlossen, die durch Befolgung der evangelischen Räte des Gehorsams,
der Jungfräulichkeit und des Verzichts auf Eigentum eine totale Hingabe an
Gott inmitten der Welt leben wollen. Die Memores Domini gibt es seit 1964 in Mailand,
wo sie unter Schülern von Don Giussani entstand.
Nach ihrer Verbreitung in mehreren Diözesen wurde die Vereingung 1981 erstmals
auf kirchlicher Ebene anerkannt und erhielt sieben Jahre später, am
8. Dezember 1988 allgemeine kirchliche Anerkennung durch den Heiligen Vater.
Gegenwärtig gibt es etwa 300 ‚Häuser’ der Memores Domini,
davon ca. 80 weltweit.
|