Ökumene
Eine Begegnung für's Leben. Die mögliche Ökumene
Giovanna Parravicini
Vor zwanzig Jahren stieß er auf die Bewegung. Heimlich, denn damals war es in Rußland gefährlich, sich mit anderen Christen zu treffen. Die Rede ist von Viktor Popkov, einem orthodoxen Christen, der anderthalb Jahre im Lager verbrachte und langjähriger Herausgeber der russischen Ausgaben der Bücher von Don Giussani ist. „Man merkt, wenn man es mit dem zu tun hat, was man sucht. Ja, es gibt noch andere Menschen, die das eigene Christsein zu leben versuchen!“
Vor zwanzig Jahren hatten wir uns das erste
Mal bei einem der heimlichen Seminare gesehen. Dann und wann waren diese
Seminare heimlich unter Italienern und Russen organisiert worden, nachdem
jeweils zuvor zufällige Begegnung zwischen den ersten in der UdssR spontan
entstandenen christlichen Gemeinden (einer Gruppe von zwischen Moskau,
Leningrad und Smolensk verstreuter Jugendlicher) und einigen Studenten von CL
stattgefunden hatten.
Jenes Mal waren wir an die fünfzehn,
als wir uns in der Wohnung eines Freundes, in einer
‘Volkswohnsiedlung’ in der schäbigen und trostlosen Peripherie
Leningrads zusammendrängten. Ich erinnere mich unter anderem an ein
junges, etwas verschüchtertes Gesicht, an zwei hellblaue Augen, einen
ernsten, neugierigen Blick:
Viktor Popkov kam aus Smolensk und hatte
eine nächtliche Zugfahrt auf sich genommen, um die „Italiener“
zu treffen. Er hatte bereits eineinhalb Lagerjahre hinter sich. 1980 war er
dazu verurteilt worden, weil er sich einer Gruppe von Christen angeschlossen hatte.
Heute sind es bereits zehn Jahre, daß
Viktor mit uns in Moskau in der ‚Bibliothek des Geistes’
zusammenarbeitet. Wir leben zusammen, treffen gemeinsam Entscheidungen, die
sich in der Arbeit mit den Kollegen ergeben, beraten familiäre Probleme
und beurteilen die Politik. Am faszinierendsten aber ist die Möglichkeit,
uns täglich bei der Arbeit an dem Werk auf das Ideal auszurichten, uns
dabei zu helfen, den Menschen, denen wir begegnen, die Schönheit eines
Lebens im Glauben zu bezeugen - wir als Katholiken und er als Orthodoxer.
„Das, was ich suchte“
Viktor hat die ganze Entwicklung der Bewegung hier in Rußland aus
nächster Nähe erlebt, von den ersten Treffen bis zum Erscheinen
der Bücher Giussanis, als deren Herausgeber er heute firmiert.
„Was hat dich beeindruckt, was hast
du im Charisma erblickt, als du ihm begegnet bist?“, frage ich ihn
unvermittelt von einem Schreibtisch zum anderen, denn wir arbeiten im selben
Raum. „Man merkt, wenn man es mit dem zu tun hat, was man sucht, das
zieht unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich“, antwortet er etwas
gedankenverloren, „so ging es mir mit der Bewegung: damals war hier keine
Art religiösen Lebens, es war eine Wüste. Die Kirche war
verwüstet worden und nur dann und
wann traf man auf einen Menschen, der eine ganz innerliche, individuelle
Religiosität lebte, die aber auf rein private Frömmigkeit
beschränkt war und sich nicht gestaltend im Leben entfalten konnte. Als
ich begonnen hatte, mich mit der religiösen und sozialen Frage zu
beschäftigten und mit der Frage, was all dies mit dem Christentum zu tun
hätte, war es natürlich unmöglich, daß von außen
eine Antwort auf mich zugekommen wäre, die den Dualismus, in den wir
eingebettet waren, hätte überwinden können. Meine Frage war: was
ist der Sinn des Lebens? Was bedeutet es, sich als Person zu verwirklichen, als
Christ in der Welt zu leben, die Wirklichkeit gemäß der Wahrheit,
der man begegnet ist, umzugestalten?“
Ideele Schützenhilfe
Eine erste Antwort hatte Viktor beim Lesen
von Dostojewskij und anderen christlichen Denkern wie Solovjew, Bulgakov,
Shmemann, Meyendorf und anderen gefunden. Jedoch war dies für ihn immer
eine Theorie, eine rein intellektuelle Bestätigung seiner eigenen Ideen:
„Ich war bereits darüber froh, weil ich mir sagte, also bin ich
nicht der Einzige, der so denkt…Und dann kam die erste Begegnung mit euch
in Leningrad, wo ich mir gesagt habe: es gibt auch andere Menschen, die
versuchen, das eigene Christsein zu leben. Aber mir kam das damals sehr
exotisch vor. Es erschien mir kurios, eine Geschichte, die sich in weiter Ferne
ereignet hat (damals in der UdssR fühlten wir uns vollkommen isoliert, wir
waren ein wenig wie Marsmenschen)…Doch um wirklich als Person zu wachsen,
muß man schon jemandem begegnen, muß mit ihm gemeinsam unterwegs
sein. Und genau das fehlte mir… Als ich dann das erste Mal nach Italien
kam und eure Gemeinschaft kennenlernte, fand ich genau das.“
Was geschah daraufhin? “Na ja, ich
hatte Gemeinschaften gesehen, die aus den verschiedensten Menschen bestanden,
Menschen mit den verschiedensten Beschäftigungen, mit verschiedenen
Verantwortung und Interessen – sie waren verschieden, aber auch zutiefst
miteinander verbunden. Zusammen mit euch habe ich besser verstanden, daß
wir in einer Welt leben, für die wir Verantwortung tragen, daß wir uns
nicht gegen die Verantwortung wehren können, indem wir uns auf unser
persönliches Heil beschränken. Ich dachte immer, daß jeder sein
eigenes Talent erhalten hat und es dort, wohin er gerufen ist, fruchtbar werden
lassen muß, je nach der erhaltenen Berufung. Die Begegnung mit den Leuten
der Bewegung, durch die verschiedenen Gemeinschaften, die ich in Italien
kennengelernt habe, hat mir ermöglicht, anzuerkennen, daß dies immer
und überall möglich ist.“ Viktor legt Wert darauf zu
unterstreichen, daß er der Antwort mitten im Leben begegnet ist, in einer
Freundschaft, die von der Arbeit bis zu den Ausflügen in den Bergen und
den Fußballspielen (ursprünglich übte er den Beruf des Trainers
aus, der Fußball bleibt seine Leidenschaft) reicht.
Das Christentum ist ein Leben
„Ich habe bemerkt, daß es viele
waren, die dieselben Fragen hatten, die in mir waren, und daß sie bereits
dabei waren, ernsthaft darauf zu antworten. Das war für mich die
Bestätigung, daß das Christentum als Leben möglich war, woran
ich bis dahin einen gewissen Zweifel gehegt hatte: Theologen sprechen zu
hören und mit ihnen über das Gesagte einverstanden zu sein, ist eine
Sache; aber es ist schon etwas ganz anderes, wenn man gewöhnliche, normale Menschen erlebt, die ein
christliches Leben leben, indem sie es in ihre eigene Erfahrung einwachsen
lassen, jeder in einer anderen Weise, je nach den eigenen Gaben, den eigenen
Charakteren, dem gewählten Beruf…Und noch etwas hat mich in diesem
Sinn beeindruckt: der Name, Gemeinschaft und Befreiung. Die Idee, die dahinter
stand, erinnerte mich an die Aussprüche der Kirchenväter über
die Freiheit, die sie nicht als Wahlfreiheit verstanden, sondern als eine
Lebensneuheit, die durch eine gelebte Gemeinschaft möglich wird. Somit war
es unmöglich, die Bewegung zu vergessen, nachdem ich sie einmal kennen
gelernt hatte, denn sie war genau das was mir fehlte.“
Die Arbeit in der ‚Bibliothek des Geistes’
Schließlich hat sich dieses Leben
auch in Rußland gewissermaßen fortgepflanzt, und zwar durch die
Arbeit in der ‚Bibliothek des Geistes’ ...“Am
Arbeitsplatz“, fährt Viktor fort, „hat die Begegnung mit der
Bewegung gezeigt, daß das christliche Leben Wirklichkeit sein kann, sich
verwirklichen kann und mit dem Anderen geteilt werden kann, so verschieden der
Andere auch von dir sein mag. So entsteht eine Möglichkeit der
Gemeinschaft, welche jeder durch seinen eigenen Beitrag bereichern kann. Dies
macht eine sonst undenkbare Einheit möglich: Das ist es, was mich an
unserer Arbeit am meisten fasziniert: Im Herzen der Menschen eine
Übereinstimmung zu bemerken, mit dem, was wir ihnen vorschlagen, und so zu
einem Instrument zu werden, auf daß jeder sich nach der eigenen Berufung
verwirklichen kann.“
„Welcher Aspekt hat dich beim
Arbeiten mit den Büchern von Don Giussani am meisten beeindruckt?“.
„Mir war Don Giussani durch das, was du mir von ihm erzählt hattest,
vertraut geworden. Dann kamen die ersten Übersetzungen, mit denen ich
meine Mühe hatte, denn seine Sprache ist sehr poetisch, reich an Bildern
und Metaphern, welche zu entschlüsseln mir zunächst schwer fiel. Das erste Buch, das ich begonnen hatte
zu verstehen (allmählich, vielleicht waren auch die Übersetzungen
besser geworden), war Der Religiöse Sinn. Ich fühlte mich zu Hause,
weil ich dort die mir vertraute Idee einer Verantwortung des Menschen vor Gott
gegenüber der Wirklichkeit in all ihren Aspekten kraft der ihm gegebenen
Berufung wiederfand.
Menschen und Kosmos
Christentum und Politik. Kein einfaches
Wortpaar im heutigen Rußland, doch Viktor sieht das, was er über die
Verantwortung und den religiösen Sinn bei Giussani gesagt hat, in
großer Nähe zum Denken der russischen religiösen Philosophen.
Er zitiert deshalb Florenskij: „Auch ein Atemzug des Menschen hat einen
Wert für den gesamten Kosmos“. Gleich darauf Giussani: „Ich
wünsche euch, nie ruhig zu sein“, euch nie vor der Herausforderung,
die die Wirklichkeit jeden Augenblick darstellt, zu verstecken und zu sagen:
„das betrifft mich nicht“.
CL ist eine um einen katholischen Priester
entstandene Bewegung. Was kann sie dir, als Orthodoxen geben? „Formell
ist sie natürlich eine große Bewegung, die im Westen entstanden ist,
mit einer eigenen Geschichte und von der orthodoxen Kirche verschiedenen
Traditionen, aber der innere Antrieb, die Methode ist der Weg des Christentums,
auf dem sich jeder befindet, sei er nun Katholik oder Orthodox, denn es ist ein
Weg, der dazu führt, die eigene Umgebung zu verwandeln. Es ist der Weg des
Christentums, und man kann nicht sagen, daß es ein rein katholischer Weg
sei (offensichtlich sind katholische Elemente enthalten, weil die Bewegung in
einem katholischen Umfeld entstanden ist, und vor allem aus Katholiken
besteht), aber sie ist wirklich universell und für alle von Interesse, es
ist die Position des christlichen Menschen an sich, denn es geht um die
Verkündigung Christi für die Welt und die Bezeugung seiner
menschlichen Herrlichkeit. Und ich denke, daß jeder von uns dieses
Zeugnis verwirklichen kann und soll, indem er das bleibt was er ist, in der
Kirche, in der er getauft und erzogen wurde und einen gewissen Weg
zurückgelegt hat.“
CL aus der Sicht eines Muslims
Mit der Bewegung von CL verbindet mich mehr als nur Freundschaft. Mit diesen
Freunden verbindet mich gemeinsames Gebet, gemeinsame Betrachtung, ein
gemeinsamer Akt der Liebe zu Gott. Ich fühle mich von ihren Gebeten nicht
ausgeschlossen, ich fühle mich nicht nur als Muslim angeschaut.
Vielmehr sind ihre Gebete, das, was sie in Gott, im Göttlichen erkannt
haben und von ihm wissen, etwas, das unserem muslimischen Glauben Ehrerbietung
erwiesen hat. So entdecken wir in Gemeinschaft und Befreiung unsere Beziehung
zu Gott neu.
Ali Qleibo, Universitätsprofessor
(aus dem Interview für die Reportage zum 50jährigen Bestehen von CL)
„Wir sind Juden“
Ich denke, dass die Aussage Don Giussanis
“Wir sind Juden” – so wie auch die Aussagen anderer, die
diesen Wandel deutlich machen - das Zeugnis einer der bedeutendsten
Veränderungen in unserer Zeit darstellt. Potentiell sind die Christen im
Heiligen Land die Brücke, die alle Nachkommen Abrahams in gegenseitigem
Respekt und durch gemeinsames Handeln vereinen kann. Ich hoffe, dass die
christliche Gemeinde vor Ort mit Hilfe der Unterstützung der Christen auf
der ganzen Welt fähig sein wird, diese Rolle wahrzunehmen. Aber vor allem
denke ich, dass die Zukunft der christlichen Minderheit tatsächlich
Indikator dafür sein wird, inwieweit es dem Staat Israel mit Demokratie
ernst ist.
David Rosen, American Jewish Committee
(aus dem Interview für die Reportage zum 50jährigen Bestehen von CL)
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