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Kirche - Predigt pro eligendo pontefice
«Eine Diktatur des Relativismus»
Joseph Ratzinger

Auszüge aus der Predigt von bei Eröffnungsmesse zum Konklave

"In dieser Stunde großer Verantwortung hören wir mit besonderer Aufmerksamkeit, was der Herr uns mit seinen eigenen Worten sagt. Von den drei Lesungen möchte ich nur einige Ausschnitte wählen, die uns in einem Augenblick wie diesem direkt betreffen.
(....)
Wir wollen uns nur bei zwei Punkten aufhalten. Der erste ist der Weg zur "Reife Christi" (...) Genauer müssten wir nach dem griechischen Text von dem "Maß der Fülle Christi" sprechen, zu der wir berufen sind, um wirklich Erwachsene im Glauben zu werden. Wir dürfen nicht Kleinkinder im Glauben bleiben, in einem Zustand der Unmündigkeit. Und in was besteht das Unmündigsein im Glauben? Der heilige Paulus antwortet: Es bedeutet "ein Spiel der Wellen, hin und her getrieben von jedem Widerstreit der Meinungen" zu sein (Eph 4,14). Eine sehr aktuelle Beschreibung!
Wie viele Winde der Meinungen haben wir in den vergangenen Jahrzehnten kennen gelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkmoden ... Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wellen durchgeschüttelt worden - von einem Extrem ins andere geworfen: vom Marxismus in den Liberalismus, bis zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus und so weiter. Jeden Tag erscheinen neue Sekten, und es vollzieht sich das, was der heilige Paulus über den Betrug an den Menschen sagt, über die Verschlagenheit, die versucht, in den Irrtum zu führen (vgl. Eph 4,14). Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft mit dem Etikett des Fundamentalismus belegt, während der Relativismus, also das Sichtreibenlassen von jedem Widerstreit der Meinungen, als die einzige Haltung erscheint, die auf der Höhe der heutigen Zeit ist. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letzten Maßstab nur das eigene Ich und seine Wünsche gelten lässt.
Wir hingegen haben einen anderen Maßstab: den Sohn Gottes, den wahren Menschen. Er ist das Maß des wahren Humanismus. "Erwachsen" ist nicht ein Glaube, der den Wellen der Mode und der letzten Neuerung folgt. Erwachsen und reif ist ein Glaube, der tief in der Freundschaft mit Christus wurzelt. Es ist diese Freundschaft, die uns für alles offen macht, was gut ist, und die uns die Richtschnur der Unterscheidung zwischen wahr und falsch, zwischen Betrug und Wahrheit schenkt. Diesen erwachsenen Glauben müssen wir zum Reifen bringen, zu diesem Glauben müssen wir die Herde Christi führen. Und es ist dieser Glaube - allein der Glaube - der Einheit schafft und sich in der Liebe verwirklicht. Im Gegensatz zu den immer neuen Wechselfällen jener, die wie Kleinkinder von den Wellen hin- und hergeworfen werden, bietet uns der heilige Paulus als grundlegende Formel der christlichen Existenz eine schöne Formulierung an: Die Wahrheit in der Liebe tun. In Christus fallen Wahrheit und Liebe in eins. In dem Maße, in dem wir uns Christus annähern, verschmelzen auch in unserem Leben Wahrheit und Liebe. Die Liebe ohne Wahrheit wäre blind, die Wahrheit ohne Liebe wäre wie ein "dröhnendes Erz" (1 Kor 13,1).
(...)
" Ich habe euch dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt" (Joh 15,16). Hier erscheint die Dynamik der Existenz des Christen, des Apostels: Ich habe euch dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht ... Wir müssen von einer heiligen Unruhe beseelt sein: der Unruhe, allen das Geschenk des Glaubens, der Freundschaft mit Christus zu bringen. Wahrlich, die Liebe, die Freundschaft Gottes wurde uns gegeben, damit sie die anderen erreiche. Wir haben den Glauben empfangen, um ihn anderen zu schenken - wir sind Priester, um den Anderen zu dienen. Und wir müssen eine Frucht bringen, die bleibt. Alle Menschen wollen eine Spur hinterlassen, die bleibt. Aber was bleibt? Nicht das Geld. Auch die Bauwerke bleiben nicht, die Bücher auch nicht. Nach mehr oder weniger langer Zeit vergehen all diese Dinge. Das einzige, was in Ewigkeit bleibt, ist die menschliche Seele, der von Gott für die Ewigkeit geschaffene Mensch. Die Frucht, die bleibt, ist daher das, was wir in den Seelen der Menschen gesät haben - die Liebe, das Erkennen; die Geste, die das Herz berührt; das Wort, das die Seele für die Freude des Herrn öffnet. Machen wir uns also auf und bitten den Herrn, dass er uns hilft, Frucht zu bringen, eine Frucht, die bleibt. Nur so wird die Erde von einem Tal der Tränen in den Garten Gottes verwandelt.