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40 Jahre II. Vatikanisches Konzil
Die Bewegung und das Konzil: Neuheit in der Kontinuität
Alessandro Banfi

Welche Bedeutung hatte das II. Vatikanische Konzil für Comunione e Liberazione oder Gioventù Studentesca (GS), wie die Bewegung zu jener Zeit hieß? Als die Kirche die Notwendigkeit spürte, die Begegnung zwischen dem Menschen und dem Antlitz des auferstandenen Christus zu vertiefen, lud Don Giussani dazu ein, diese Erneuerung nicht zu interpretieren, sondern zu leben.
Vierzig Jahre nach der Beendigung des Konzils nimmt hierzu Don Massimo Camisasca, Generaloberer der Priesterbruderschaft des heiligen Karl Borromäus, in einem Interview mit Spuren Stellung.
Wenn man in den Seiten Milano Studenti, der GS-Zeitschrift von damals blättert, findet man Artikel, Interviews und Kommentare über die Debatten des Konzils.
In einem Interview von 1979 mit Don Giussani ist die Begeisterung für die Gemeinsamkeiten der Anliegen zwischen dem, was man in GS lebte, und dem Lehramt der Kirche spürbar.

Seit dem Ende des II. Vatikanischen Konzils sind 40 Jahre vergangen. Wir sprechen darüber mit Don Massimo Camisasca, dem Generaloberen der Priesterbruderschaft der Missionare des heiligen Karl Borromäus. Er ist auch Autor einer dreibändigen Geschichte von Comunione e Liberazione. Das Thema: In welcher Beziehung stehen Don Luigi Giussani, die Bewegung von CL und das Konzil? Don Massimo empfiehlt, mit den Jahren zu beginnen, die dem Konzil vorausgingen.

Das Zweite Vatikanische Konzil entsteht als Antwort auf ein verbreitetes Bedürfnis, das dem Ausgangspunkt des jungen Giussani keineswegs fremd ist ?
Das Konzil hat eine lange Vorgeschichte. Es gab eine schon weit zurückliegende Vorbereitung auf biblischem, auf theologischem, auf liturgischem und auch auf ökumenischem Gebiet. Woher stammte dieses verbreitete Bedürfnis? Wenn nicht auf breiter Ebene aus dem Volk Gottes, so doch zumindest aus einigen ihrer regeren Kreise (denken wir zum Beispiel an die Gruppe, die sich um die Lehre Romano Guardinis gesammelt hatte). Aus einem tiefen Unbehagen gegenüber einer Theologie, die häufig intellektualistisch geworden war, einer Liturgie, die als weit weg und wenig verständlich erschien, einer Kirche, die oft einfach mit der Hierarchie identifiziert wurde und gegenüber dem Bruch, der zwischen den historischen, philosophischen und biblischen Wissenschaften und dem Leben des christlichen Volkes wahrgenommen wurde. Dieses Unbehagen brach mit dem aus, was am Anfang des Jahrhunderts als «Modernismus» bezeichnet wurde. Ich denke, dass das II. Vatikanische Konzil genau dem klaren Willen der Kirche entsprang, diesem Unbehagen, dem Bruch zwischen dem Glauben und dem Leben, zu begegnen, der als das schwerwiegendste Übel für die Kirche jener Jahre angesehen wurde. Ich möchte keine unangemessenen Parallelen ziehen. Aber es gibt keinen Zweifel, dass die Intention Don Giussanis derjenigen des Zweiten Vatikanums sehr ähnlich gewesen ist. Gleich zu Beginn des Interviews mit Robi Ronza (Was ist und was will Comunione e Liberazione, Johannes Verlag) sagt Don Giussani zum Beispiel, während er über die Situation der Kirche in diesen Jahren spricht: «Die christliche und kirchliche Tatsache war nicht mehr eine Wirklichkeit des Volkes, war nicht mehr ein Ereignis für die Menschen, sondern eine Menge aus Vorschriften und rituellen Praktiken.» Dieses Anliegen hatte sich bei Don Giussani so eingewurzelt, dass er es 30 Jahre nach dem Entstehen der Bewegung und 20 Jahre nach dem Abschluss des Konzils in seinem Beitrag für die Synode über das Laientum wiederholen wird: «Was fehlt, ist nicht so sehr ein mündliches und kulturelles Wiederholen, als vielmehr die Erfahrung einer Begegnung.» Bei denen, die das II. Vatikanische Konzil vorbereitet hatten, und bei Don Giussani merkte man das Bedürfnis, neue Horizonte für die Kirche zu entdecken, und diese Horizonte waren die Herzen der Menschen. Aufzubrechen aus der Verschlossenheit von Auseinandersetzungen innerhalb der Sakristeien und von intellektualistischen Debatten. Die Ausdrucksweise Don Giussanis und die des Konzils sind verschieden. Aber wenn wir die ursprüngliche Sprache des Konzils in Betracht ziehen, die von Papst Johannes XXIII., stellen wir das Auftauchen eines Anliegens fest, das nicht weit entfernt ist von dem Don Giussanis.
Hören wir zum Beispiel nochmals die Radioansprache vom 11. September 1962, die Papst Johannes XXIII. einen Monat vor der Eröffnung der ersten Sitzungsperiode des Konzils für die Rundfunkstationen der ganzen Welt verlesen hat: «Die Welt braucht Christus: Und es ist die Kirche, die der Welt Christus bringen muss.» Und in seiner Eröffnungsansprache sagte Johannes XXIII.: «Das Hauptziel des Konzils ist nicht die Diskussion über dieses oder jenes Thema der grundlegenden Lehre der Kirche [?]. Es ist notwendig, dass diese sichere und unveränderliche Lehre, die treu respektiert werden muss, vertieft und so dargeboten werde, dass sie auf die Bedürfnisse unserer Zeit antwortet.» In der erwähnten Radioansprache hatte Johannes XXIII. über die Notwendigkeit der Erneuerung der Begegnung zwischen dem Menschen und dem Antlitz des auferstandenen Christus gesprochen.
Man sprach nun und im Folgenden von einer Notwendigkeit des «Aggiornamento» (der Aktualisierung). Aggiornamento kommt von Tag («giorno») und Tag, das bedeutet Helligkeit und Licht. Nicht zufällig heißt die Konstitution des Konzils über die Kirche «Lumen Gentium», das Licht ist Christus. Es ist erforderlich, das Licht wiederzufinden, das heißt die Faszinationskraft des Christentums. Im Büchlein «Das Konzil verwirklichen» (Realizzare il Concilio), das die Akten des Kongresses sammelt, der von Comunione e Liberazione im Oktober 1982, 20 Jahre nach der Eröffnung der ökumenischen Versammlung organisiert wurde, sagte Angelo Scola in seinem Abschlussbeitrag: «Wenn das Konzil die Notwendigkeit einer ontologischen Beziehung zu Christus dem Heilsbringer bezeugt, hat Comunione e Liberazione eben diese Notwendigkeit zur obersten Norm ihrer Methode gemacht.» Die Tatsache, dass das Konzil sich selbst als eine hauptsächlich pastorale Synode verstanden hat, geht in dieselbe Richtung wie der von Don Giussani unternommene Versuch. Er war wie gesagt der Überzeugung, dass es nicht ausreicht, die christliche Lehre erneut vorzuschlagen, sondern dass es notwendig ist, die Methode zu entdecken, mit der die Menschen das Christentum in unserer Zeit leben können. In ihm reifte dieses grundlegende Anliegen bereits seit den Jahren im Seminar auf Grund einer eigenen angeborenen und lebendigen Wahrnehmung der Einzigartigkeit des christlichen Ereignisses und auch wegen der Anregungen, die er von vielen seiner Lehrer erhielt. Die Schule von Venegono hatte eine tiefgreifende Erneuerung der Theologie und ihrer Lehre gesucht und verwirklicht. Seine Lehrer, insbesondere Gaetano Corti, Giovanni Colombo und Carlo Colombo hatten einen sehr fruchtbaren Anti-Intellektualismus ins Herz Don Giussanis eingepflanzt, der in ihm durch die Begegnung mit Leopardi und dann mit anderen Autoren die Entdeckung dessen wurde, was er als «Grundstruktur des menschlichen Herzens» bezeichnet: die Sehnsucht nach Wahrheit, Glück und Schönheit, die in Christus, dem fleischgewordenen Wort Gottes, seine entsprechende Antwort findet.

Und dann beginnt das wahre und eigentliche Konzil?
Don Giussani sprach während des Unterrichts nicht viel vom Konzil (ich hatte ihn in diesen Jahren gerade als Lehrer). Ich denke, dass ihn dabei die Sorge leitete, die Schüler nicht mit klerikalen Gesprächsthemen zu behelligen. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, seine Gesprächsthemen innerhalb eines rein kirchlichen Spannungsbogens einzuschließen. Dies bedeutete in keiner Weise ein Desinteresse am Konzil. Milano Studenti, die Monatszeitschrift von Gioventù Studentesca, verfolgte das Konzilsgeschehen durch Chroniken, vertiefende Beiträge und Interviews mit Konzilsvätern und Konzilstheologen. In jenen Jahren wurden in der Bewegung Vorträge und Diskussionen über den Gang der Konzilsarbeiten gehalten, an dem auch Konzilsteilnehmer zu Wort kamen. Allerdings muss auch erwähnt werden, dass es Don Giussani nicht so sehr darum ging, über das Konzil zu sprechen; ihm ging es vielmehr darum, jene Erneuerung der Kirche, die das Konzil vorschlug, zu leben. Und die Themenkreise des Konzils flossen tatsächlich in die Bewegung ein, die damals ausschließlich aus Jugendlichen bestand. In den Heften für die Meditationen der dreitägigen Einkehrtage zu Jahresbeginn, die in Varigotti abgehalten wurden, waren Texte aus den Konzilsdokumenten zusammengestellt. Don Giussani zeigte sich immer begeisterter von der Arbeit, die Paul VI. während des Konzils leistete, um das wahre Gesicht der Kirche und des Christentums zum Vorschein zu bringen. In einem Interview für die Zeitung Sabato aus dem Jahre 1988 sagte er über den Montini-Papst in einer Antwort an Renato Farina: «Man müsste die Geschichte all seiner Eingriffe schreiben, die mutig und unpopulärerweise den falschen Demokratisierungsbestrebungen und missverständlichen Lehraussagen Einhalt geboten, die viele Konzilsväter mit einem angeblich demokratischen Anspruch durchzubringen versucht hatten.»

Welche Inhalte aus den Konzilstexten finden zunächst in der GS und dann in CL Widerhall?
Ich würde zunächst die zentrale Bedeutung Christi nennen. Christus macht dem Menschen den Menschen selbst kund und klärt sein Geheimnis auf. Dieses Thema, das Johannes Paul II. seit seiner ersten Enzyklika Redemptor Hominis fortdauernd in seinem Pontifikat übernommen hat, ist jener Stelle aus Gaudium et spes entnommen, in der es heißt: «Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf.» Diese Aussage steht im Zentrum der erzieherischen Methode Don Giussanis. Nicht nur der Mensch, sondern die ganze Schöpfung findet das sie erhellende Licht im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes. Hier treffen und vereinigen sich gleichsam die Studien, die Don Giussani über die protestantische und über die orthodoxe Welt gemacht hatte. Ein weiteres Thema, das meines Erachtens vom Konzil zutiefst bestätigt wird, ist das Christentum als lebendige Tradition, innerhalb derer die Heilige Schrift den Rang einer normativen inneren Kraft einnimmt. Don Giussani äußerte mehrere Male, zuletzt auch in dem Antwortschreiben an den Papst für die Glückwünsche zur zwanzigjährigen Anerkennung der Fraternität: «Ich wollte niemals irgend etwas gründen. Aber ich glaube, der Geist der Bewegung, die ich entstehen sah, besteht darin, die Dringlichkeit gespürt zu haben, mit der die notwendige Rückkehr zu den wichtigsten Aspekten des Christentums verkündet werden muss.»
Das Konzil hat des Weiteren von der Kirche als Communio gesprochen und als Leib Christi/Volk Gottes. Dies ist ein Thema, das die ganze Geschichte der Bewegung durchzieht und sogar ihren Namen bezeichnet. Und schließlich gibt es noch die missionarische Absicht des Konzils. Diese wurde von Anfang an von Johannes Paul II. verkündet: «Das große Problem im Angesicht der Welt bleibt auch nach fast 2000 Jahren unverändert: Christus, der immer im Zentrum der Geschichte und des Lebens aufleuchtet. Die Menschen leben entweder mit ihm und seiner Kirche und freuen sich so am Licht, an der Güte, an der Ordnung und am Frieden. Oder sie leben ohne ihn oder sogar gegen ihn und ausdrücklich gegen seine Kirche. Diese Menschen werden zum Grund für Verwirrung und sie verursachen Rauheit in den menschlichen Beziehungen und beständige Gefahr von Bruderkriegen.» Und schließlich die Liturgie: Don Giussani hat aus der Liturgie einen der Hauptorte für die Erziehung der Jugendlichen und dann auch der Erwachsenen gemacht. Dies geschah durch die Übernahme von Liedern aus der christlichen Tradition jeder Epoche, durch die Nüchternheit und Schönheit der Gottesdienste und durch die Feier des österlichen Triduums, die mit den Jahren Zehntausende von Jugendlichen versammelt hat.
Schließlich möchte ich noch eine Anmerkung hinzufügen: Kurz vor seinem Aufbruch zum Konklave, das ihn zum Papst wählen würde, machte Kardinal Montini Don Giussani auf die Gefahren aufmerksam, die mit der Verwendung des Begriffes «Erfahrung» verbunden seien. Don Giussani begann daraufhin mit der Abfassung eines Textes, aus dem ein Büchlein wurde, das gerade den Namen Die Erfahrung trug. Es wurde auf seine ausdrückliche Bitte mit dem Imprimatur von Bischof Carlo Figini herausgegeben. In der ersten, programmatischen Enzyklika von Paul VI. finden wir dann diesen Begriff. Der Ausdruck «Erfahrung» war eines der Kreuze im Zeitalter des Modernismus. Man sah in ihm die Versuchung eines radikalen Subjektivismus. Nachdem sich die Wogen des Modernismus geglättet hatten, war es möglich, die authentische Bedeutung des Wortes «Erfahrung» wiederzuerlangen. Diese Bedeutung geht auf die Kirchenväter zurück und führt uns zum Christentum als einem Ereignis, das alle Bereiche des Lebens der Person betrifft. Viele, zum Beispiel Pater Congar, haben bemerkt, dass das Konzil in erster Linie nicht eine Verkündigung war, sondern eine Erfahrung, die die Kirche gemacht hat.

Und dennoch wurde gegen CL der Vorwurf erhoben, anti-konziliar zu sein?
Dieser Vorwurf kam manchmal nicht nur von Personen außerhalb der Kirche, sondern auch von Christen. Die Anschuldigung lautet, das Konzil nicht ins Leben umgesetzt oder ihm sogar widersprochen zu haben. An dieser Stelle müssen die verschiedenen Interpretationen des II. Vatikanischen Konzils in Betracht gezogen werden. Für einige stellte es eine epochale Wende, einen neuen Anfang in der Kirche dar. Man möge sich zum Beispiel die Interpretationsrichtung der Schule von Bologna anschauen, von Alberigo bis Melloni. Für andere hingegen stellt das Konzil eine Neuheit in der Beständigkeit dar. Gewiss ist die Kirche semper reformanda. Die Geschichte der Kirche ist die Geschichte ihrer beständigen Reform und Erneuerung. Aber es würde sich nicht um eine echte Reform handeln, wenn sie nicht in Kontinuität mit der gesamten Geschichte der Vergangenheit und vor allem mit dem Ursprung des christlichen Ereignisses stünde. Dieser Ursprung ist Christus selbst. Die Reform besteht also in der Gleichzeitigkeit Christi, in seiner Gegenwart in jedem Augenblick der Geschichte. Hier liegt der tiefste Grund der Anschuldigung gegen CL: Die Interpretation des Konzils als eines Bruches und radikalen Neuanfangs. Aus dieser Interpretation folgt die Anklage des Verrats am Konzil gegen diejenigen, die es als Erneuerung in der Kontinuität umgesetzt haben. In diesem Sinne war das Pontifikat Johannes Pauls II. ein epochales Ereignis. Wojty?a hat sein ganzes Pontifikat verstanden als Umsetzung des Konzils in der Kontinuität. Dass das Konzil leider nicht nur gute Früchte hervorgebracht hat, spürte anfänglich bereits Paul VI. selbst, der in einer dramatischen Rede sagte: «Wir haben geglaubt, dass nach dem Konzil für die Geschichte der Kirche ein Tag des Sonnenscheins kommen würde. Hingegen zog ein Tag der Wolken und des Unwetters auf, ein Tag der Finsternis.» (29. Juni 1972)
Zusammenfassend gesagt: Das Leben der Bewegung geht mehr in die Richtung der Umsetzung des Konzils, als dass es sich mit seiner Interpretation beschäftigt. Sie ist eine von jenen Kräften, die der Heilige Geist hervorgerufen hat, um - nach den Worten von Johannes Paul II. anlässlich der 30.-Jahrfeier von CL - «mit dem heutigen Menschen jenen Dialog fortzusetzen, den Gott in Christus begonnen hat und der im Laufe der christlichen Geschichte immer fortgesetzt wurde».