Logo Tracce


Kasachstan
Ein Italiener in der Steppe
Erziehen durch Übersetzung



Die größte Tageszeitung Kasachstans, die Kazakhstanskaya Prava, widmete am 3. Dezember 2004 eine ganze Seite Don Edoardo Canetta und seinem zehnjährigen Aufenthalt an der Eurasischen Universität. Dabei hob sie dessen Arbeit als Übersetzer der bedeutenden Schriftsteller des asiatischen Landes sowie seine erzieherische Methode hervor: " Das Herz des Menschen ist überall dasselbe". Wir dokumentieren im Folgenden den Artikel.

Auf dem langen Gang in der Universität kommt dir ein Mann entgegen, nicht sehr groß, mit grauem Haar. In seinem Gesicht gibt es etwas, das den Blick anzieht und dich beim ersten Hinsehen denken lässt: Wahrscheinlich ist er ein Ausländer. Nach ein paar Schritten nähert er sich einer Gruppe von Studenten und sein nachdenkliches Gesicht öffnet sich zu einem Lächeln, woraufhin es nicht einfach nur zu einem Gruß kommt, sondern zu einer Art Explosion: "Guten Tag, alle miteinander." Die Antwort ist ein Schwall freudiger Grüße.

Der verhinderte Bürger
Edoardo lebt nun schon seit zehn Jahren in Kasachstan. Er selber bezeichnet diesen Abschnitt seines Lebens als eine Art Abenteuer. Er unterstreicht aber sofort, dass es sich um eine besondere Art von Abenteuer handle, eines, für das man sich entscheiden muss, nachdem man vorher darüber nachgedacht hat.
So kam für den heute vierzigjährigen Italiener der Zeitpunkt der Entscheidung: Entweder ein honoriger Bürger werden oder prüfen, ob Überzeugungen auch dann halten, wenn die gewohnten Lebensumstände und die sichere Position in der Gesellschaft aufgegeben werden. Edoardo entschied sich für Letzteres. Und dieser Entschluss wurde für den nicht mehr ganz jungen Mann zum Bezugspunkt in diesem Abenteuer.
Edoardos Schilderungen lassen einige Gründe erkennen, aus denen in seinem Leben der Wunsch entstand, ein neues Kapitel zu beginnen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Einstellung seiner Familie, die Überzeugungen, die sich in seinem Gewissen auch dank der Eltern verstärken. Sie vermitteln den Kindern in der Erziehung grundlegende Werte, die Liebe für das Ideal und die Freiheit. Für das weitere Leben erweist sich das als entscheidend. Einer der beiden Geschwister wurde Lehrer, Übersetzer und katholischer Priester im fernen Kasachstan, der andere Wissenschaftler, ein berühmter Forscher auf medizinischem Gebiet, der auf diese Weise vielen Menschen hilft. Einen Einfluss auf Edoardos Entscheidung, in unserem Land zu arbeiten, übt auch die Familientradition und das Verhältnis zu den Familienmitgliedern aus. So ist es eigentlich keine Überraschung. Die Entscheidung entspricht gewissermaßen den Prinzipien der Familie.
Eine wichtige Rolle für die Bestimmung des Sohnes, nicht zuletzt bei diesem gewichtigen Entschluss spielt das lebendige Beispiel der Mutter. Sie steht ihm am nächsten. Und sie ist eine durchaus ungewöhnliche Frau: Antifaschistin, Partisanin und Gelehrte, die sich in Griechisch, Lateinisch, Philosophie und italienischer Literatur spezialisiert hat. Sie unterrichtete viele Jahre lang, und das nicht nur mit Worten, sondern auch durch Taten.
Auf jeden Fall gibt es sowohl objektive als auch subjektive Gründe, die zur Entscheidung beitragen, in Kasachstan zu arbeiten.

Von innen und außen
Wenn er heute von der ersten Zeit seines Aufenthaltes in unserem Land berichtet, erinnert sich Edoardo, dass es nicht immer einfach war, eine neue Lebensweise zu beginnen, gerade 1994, in dem Jahr als die soziale Krise nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihren Höhepunkt erreichte. Um sich auf die Arbeit in der Universität vorzubereiten und um unsere Verhältnisse zu verstehen, nimmt unser italienischer Gast zunächst, die Eigenheiten unseres Erziehungswesen unter die Lupe. Eine der lebhaftesten Erinnerungen jener Zeit hat mit der Arbeit der Lehrer zu tun. Trotz aller materiellen Schwierigkeiten, obwohl sie seit vielen Monaten kein Gehalt mehr bekommen, gehen sie trotzdem jeden Tag in ihre Klassen. Selbst die Schüler begreifen nicht, wie hart die Lage für ihre Lehrer ist. Dieses Beispiel eines unglaublichen Enthusiasmus wurde zur Normalität.
Hinsichtlich der Unterschiede der Bildungssysteme in Kasachstan und Italien bemerkt Edoardo, dass es in beiden Stärken und Schwächen gibt. Er kann als Experte gelten. Er kennt unsere Situation von innen und außen, denn er hat dreißig Jahre unterrichtet, davon zehn Jahre an unseren Universitäten.
Grundlegend ist dabei für den Mailänder Professor, dass uns das Wesentliche gemeinsam ist: Das Herz des Menschen ist überall dasselbe.

Über Erziehungsmethoden und Schokolade
Edoardo geht von folgender Überzeugung aus: Jede Stunde muss ein Abenteuer sein. Denn wenn der Unterricht zur Routine wird, droht für ihn das Wichtigste verloren zu gehen, nämlich das Interesse an der Person. Damit der Unterricht ein Abenteuer werden kann, muss man die Studenten überraschen. Manchmal, in den schwierigsten Fällen, muss man auch den Mut zum Risiko haben, etwas experimentieren.
Während des ersten Jahres als Lehrer in Kasachstan probiert Edoardo einen neuen Ansatz zum Studium aus. Es ist Winter und die Studenten des zweiten Kurses haben Italienisch-unterricht, der um acht Uhr morgens beginnt. Wie es dabei häufig vorkommt, sind viele unpünktlich, und einige finden wegen der Kälte nicht die Kraft, zum Unterricht zu kommen. Daraufhin beschließt Edoardo, sie etwas zu provozieren, wie er es selbst nennt. Er bringt eine große Thermoskanne voll heißer italienischer Schokolade sowie Schlagsahne und Kekse mit, die er gerade aus Mailand geschickt bekommen hat. Das Thema des Unterrichts ist völlig unerwartet: "Unser Leben und unser Studium können nicht von den Unständen abhängen, in denen wir leben." Und die erstaunten Studenten sind mit dieser Idee völlig einverstanden. Sie nehmen die Anregung des Professors begeistert auf, jeden Tag eine Art heiße Schokolade mit Schlagsahne zu suchen, also immer etwas Besonderes im Alltäglichen. Noch größer ist die Freude der Studenten, als sie die italienischen Süßigkeiten probieren können. So prägt sich ihnen auch der Inhalt der Stunde in ihrer Erinnerung ein.

Die Kultur kennen lernen oder zu Papageien werden.
Dank Edoardos Bemühungen gibt es heute viele Spezialisten auf verschiedenen Gebieten, die Italienisch auf hohem Niveau sprechen. Viele von ihnen sind beruflich als Übersetzer tätig. Auch in Italien schätzt man die Professionalität der Übersetzer aus Kasachstan. Denn es zeigt sich, dass ihre große Qualität nicht nur darin besteht, den Sinn der Wörter wiederzugeben, sondern mitzubedenken, was hinter den Worten steht, die Psychologie der verschiedenen Völker und teilweise auch ihre Lebensart.
Hier wird Edoardos Wunsch verständlich, seine Studenten davon zu überzeugen, dass "ein Übersetzer ohne Kultur ein Papagei ist, mehr noch, ein nutzloser Papagei". "Es ist wichtig, nicht nur die Sprache, sondern auch die Kultur kennen zu lernen", so der Priester. Indem er den italienischen Lesern die Möglichkeit gibt, die Werke der wichtigsten Vertreter der kasakischen Literatur kennen zu lernen, übersetzt Edoardo nicht nur von einer Sprache in eine andere, sondern baut eine Brücke zwischen den Kulturen. Übrigens ist in Kürze die Veröffentlichung der Werke von Yassui, Abaly, Ch. Valihanov, aus der Schriftensammlung Von den sieben Gesetzen in der Übersetzung Edoardos vorgesehen.

Nachsatz
Dieser nicht sehr große Mann mit grauem Haar geht weiter den Flur der Universität entlang. Nun ist er nicht mehr allein. Seine Studenten begleiten ihn und führen eine lebhafte Unterhaltung auf Italienisch. Der aufmerksame Blick derer, die um ihn herumstanden, begleitet die Gruppe noch lange. Die zehn Jahre in unserem Land haben ihm nach seiner Einschätzung viel Gutes gebracht. Andernfalls wäre er schon nach Hause zurückgekehrt - oder als italienischer Arbeitsloser in Kasachstan geblieben - meint er scherzhaft.