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Kasachstan
Die kasakische Kultur und die Wahrnehmung des Geheimnisses
Papst Johannes Paul II.

Bei seinem Besuch in Kasachstan ergab sich für Papst Johannes Paul II. während eines Treffens mit Vertretern der Kultur die Gelegenheit, über die kasakische Kultur zu sprechen.
Astana, 24. Septembe 2001.

Kasachstan ist ein großes Land, das im Laufe der Jahrhunderte eine lebendige Kultur entwickelt hat, die reich an verschiedensten Impulsen ist. Hierzu haben auch Vertreter der russischen Kultur beigetragen, die das totalitäre Regime hierhin verbannt hatte.
Wie viele Menschen haben euer Land durchquert! Besonders möchte ich an das Tagebuch des venezianischen Reisenden und Händlers Marco Polo erinnern, der bereits im Mittelalter voll Bewunderung die hohe Moral und die reichen Traditionen der Steppenbevölkerung beschrieben hat. Die grenzenlose Weite eurer Ebenen, das durch die entfesselten Naturgewalten hervorgerufene Bewusstsein der menschlichen Schwäche, die Wahrnehmung des Geheimnisses, das sich hinter den sinnlich erfassbaren Phänomenen verbirgt: All das fördert die Offenheit eures Volkes, sich mit den grundlegenden Fragen des Menschseins und der Suche nach gehaltvollen Antworten für die universale Kultur auseinander zu setzen.
Sehr geehrte Damen und Herren, Ihre Aufgabe ist es, die reiche kulturelle Tradition Kasachstans in der Welt zu verbreiten. Es ist eine schwierige, aber zugleich auch faszinierende Aufgabe, die von Ihnen verlangt, deren grundlegende Elemente zu entdecken und sie in harmonischer Synthese zu vereinen.
Ein großer Denker eures Landes, Abai Kunanbai, brachte dies folgendermaßen zum Ausdruck: »Der Mensch kann nicht Mensch sein, wenn er nicht fähig ist, die sichtbaren und unsichtbaren Geheimnisse des Universums wahrzunehmen, ohne nach einer Erklärung für alles zu suchen. Derjenige, der hierauf verzichtet, unterscheidet sich in nichts von den Tieren. Gott unterschied den Menschen vom Tier, indem er ihm eine Seele gab ?« (Worte Abais, Kap. 7).
Kann uns die tiefe Weisheit dieser Worte entgehen, die gewissermaßen die beunruhigende Frage Christi aus dem Evangelium zu kommentieren scheinen: »Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt?« (Mk 8, 36) Im Herzen des Menschen gibt es Fragen, denen wir nicht ausweichen können. Sie zu ignorieren, bedeutet keineswegs größere Freiheit, sondern eher eine größere Schwäche des Menschen, der oft zum Opfer seiner eigenen Instinkte und der Rücksichtslosigkeit anderer wird.

»Wenn das Herz nach nichts mehr verlangt« - schreibt Abai Kunanbai -, »wie kann dann der Geist geweckt werden? Wenn die Vernunft der Begierde ausgeliefert ist, verliert sie jegliche Tiefe ? Kann ein Volk, das dieser Bezeichnung würdig sein will, ohne die Vernunft bestehen?« (Gedichte 12).

Fragen wie diese sind wesensmäßig religiöser Natur, denn sie verweisen auf jene höchsten Werte, die letztlich auf Gott gründen. Die Religion muss sich ihrerseits mit diesen existenziellen Fragen auseinander setzen, wenn sie den Bezug zum Leben nicht verlieren will. (..)

Hören wir erneut die Worte des großen Abai Kunanbai: »Der Beweis für die Existenz des einen und allmächtigen Gottes ist die Tatsache, dass die Menschen seit mehreren Jahrtausenden in verschiedenen Sprachen von dieser Existenz sprechen und alle, welcher Religion sie auch immer angehören mögen, bezeichnen ihn als Gott der Liebe und Gerechtigkeit. Jener, der sich durch Liebe und Gerechtigkeit auszeichnet, ist wahrhaft weise« (Worte Abais, Kap. 45).