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Kirche - Mexico
«Die Menschen sollen nicht einer Doktrin begegnen, sondern Christus»
Amedeo Orlandini

Mexiko, Brücke zwischen Nord- und Südamerika: eine Herausforderung Als Kreuzungspunkt von Völkern und Kulturen vereinigt das Land der Muttergottes von Guadalupe in sich Traditionen der Eingeborenen, des Christentums und der Aufklärung. Der Primas der Kirche in Mexiko und Erzbischof von Mexiko-Stadt, Kardinal Norberto Rivera Carrera, äußert sich zu Fragen gesellschaftlicher Spannungen, der Freiheit der Religion und der Erziehung, sowie zum Verhältnis zu Nord- und Südamerika und der Berufung zur Mission.

Eminenz, «Mexiko ist ein katholisches Land»: Ist das ein Gemeinplatz oder entspricht es der Wirklichkeit? Wo sind die Licht- und Schattenseiten der Kirche in Mexiko?
Ich glaube die Aussage ist begründet. Denn das Christentum ist nicht nur Sache des Einzelnen, sondern in der Kultur unseres Volkes verwurzelt, im Ursprung seiner Kultur. Wie unser Katholizismus seine wundervollen Seiten hat wie die Werte des Familienlebens, der Solidarität, so hat er allerdings auch seine dunklen, seine Schattenseiten, weil er sich im öffentlichen, im alltäglichen Leben oft nicht zeigt. Wie auch immer, es ist wahr: Das mexikanische Volk ist katholisch, christlich.

Warum zeigt sich das nicht im Alltag, im gesellschaftlichen oder kulturellen Leben?
Ich glaube, das ist das Erbe von zwei Jahrhunderten, in denen der Liberalismus immer mehr in unser Land eingedrungen ist. Ein Liberalismus, der die Religion auf die Intimsphäre, das Private zu beschränken sucht, auf etwas, das sich in den Kirchen abspielt und nicht etwas, das alle Aspekte des Lebens betrifft.

Sie sprechen von Liberalismus. Demnach hat das Volk einen katholischen Ursprung oder katholische Wurzeln, aber in einigen Bereichen ist auch der Liberalismus vertreten, der Positivismus, und manchmal tauchen auch marxistische Strömungen auf. Es gibt also verschiedene Wurzeln, Kulturen und Ideologien. Können sie friedlich zusammenleben oder ist ein Konflikt immer unvermeidbar? Was tut man, um mit den verschiedenen Seiten in Kontakt zu kommen? Versucht man eine neue Art des Zusammenlebens aufzubauen, das alle einschließt?
Unsere Religiosität hat im Grunde genommen drei Wurzeln. Zunächst die Religiosität der Eingeborenen.Wir stammen von sehr religiösen Völkern ab, die eine tiefe Neigung zur Spiritualität und zur Transzendenz besitzen. Dann kommt die Verkündigung des Christentums, und ich glaube, das ist der Augenblick der Begegnung, der echten Vermischung der Rassen.
Dessen ungeachtet darf man nicht vergessen, dass die Französische Revolution mit all ihren Idealen und all ihren Problemen in Mexiko tiefe Wurzeln geschlagen hat.
In Mexiko leben diese drei Welten mit- beziehungsweise nebeneinander: Die Welt der Eingeborenen, die katholische Welt (das Evangelium ist von den Missionaren schon vor fast fünf Jahrhunderten nach Mexiko gebracht worden) und die der Aufklärung und des Liberalismus.
Manchmal stoßen diese großen Strömungen aufeinander. Es kam dabei zu sehr starken gesellschaftlichen Spannungen und zu Kriegen, die die mexikanische Nation zerrissen haben, wie der blutige Krieg gegen die katholische Kirche in den 20er Jahren. Zurzeit erleben wir einen starken Einfluss der sich weltweit ausbreitenden Säkularisierung.
All diese Strömungen sind irgendwie in unserem religiösen Leben gegenwärtig. Das erklärt manchmal die Gegensätze und Auseinandersetzungen, die es in uns als Individuen und in unserer Gesellschaft gibt.

Was ist angesichts dieser Lage Aufgabe der Kirche, der Katholiken?
Als Gesellschaft, als Nation müssen wir eine Synthese erarbeiten und uns mit uns selbst und mit unseren Wurzeln als Eingeborene, als Kinder der Kolonialzeit, als Liberale aussöhnen. Es geht darum, von allem das Beste zu einer Synthese zusammenzufassen, um in Frieden leben zu können. Diese Anstrengung können wir auf gesellschaftlicher Ebene und in unserem Privatleben machen. Denn wir müssen lernen, uns so für einander zu öffnen, dass jedem dieser drei Elemente der richtige Wert zuerkannt wird.
Aus unterschiedlichen Gründen müssen viele Mexikaner in den Vereinigten Staaten arbeiten. Daher stellt die Emigration ein großes Problem dar. Sie haben eigens ein Seminar eingerichtet, um Seminaristen hispanischer Herkunft aus Diözesen der USA auszubilden. Wie verfolgt die mexikanische Kirche diese Situation? Welche Sorgen hat sie?
Auf der Ebene des Episkopats und der einzelnen Kirchen in Mexiko hat man sich, wenn auch unzureichend, bemüht, diese Auswanderergemeinden zu begleiten.
Mehr als 24 Millionen Mexikaner sind in die USA ausgewandert. Als Folge gibt es dort regelrechte mexikanische Gemeinden, die mit Spanisch sprechenden Einwanderern aus anderen Ländern Lateinamerikas und aus Spanien zusammen leben. So bilden sich Ghettos, Gruppen, die manchmal sehr abgeschlossen leben, manchmal aber auch Gemeinden angelsächsischer Herkunft gegenüber aufgeschlossen sind.
Es gibt aber auch eine außerordentliche Anstrengung seitens der Kirche in den Vereinigten Staaten.
Die Bischöfe in den Vereinigten Staaten zeigen sich gegenüber diesen Gemeinden als sehr feinfühlig und aufgeschlossen. So sind viele Leute aus unseren Städten, die hier in Mexiko keine praktizierenden Katholiken waren, in den Vereinigten Staaten dazu geworden. Denn die Kirche hat sie aufgenommen, ihnen bei der Einbürgerung geholfen und ihnen Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, wo sie unter sich sein konnten.

Diese Problematik führt uns zum päpstlichen Schreiben Ecclesia in America. Mexiko liegt in Amerika an einem kritischen Punkt: zwischen dem englisch- und französischsprachigen Norden, also den Vereinigte Staaten und Kanada, und Südamerika mit seinen Ureinwohnern und der aus dem Lateinischen kommenden Sprache der Bevölkerung. Welche Rolle könnte die mexikanische Kirche bei dem Versuch spielen, zu einem einzigen Amerika zu gelangen?
Ich knüpfe an die vorhergehende Frage an. Die Idee des Hispanischen Seminars hier in der Erzdiözese ist mir gekommen, weil Ecclesia in America uns auffordert, mit konkreten Schritten einer größeren Gemeinschaft auf die anderen Kirchen zuzugehen. Ich hielt es für richtig, mich nicht darauf zu beschränken Priester zur Begleitung hispanischer Gemeinden in den Vereinigten Staaten auszuleihen, sondern ein Seminar zur Ausbildung junger Priester anzubieten, deren Berufung in den hispanischen Gemeinden der Vereinigten Staaten gewachsen ist. Die mexikanische Kirche soll so den Hirten helfen, diese Gemeinden verständnisvoller zu begleiten.
Was die Rolle der mexikanischen Kirche angeht, sehe ich für uns als katholisches Land die große Berufung und Herausforderung darin, Missionare zu sein, Missionare für den Norden und den Rest des Kontinents. Wir müssen Europa dankbar sein, dass es uns das Evangelium gebracht hat. Und der beste Dank ist, in jeder einzelnen Kirche einen missionarischen Geist zu wecken.
Tatsächlich war die katholische Kirche in den Vereinigte Staaten bis vor kurzem eine Minderheitenkirche. Jetzt ist sie dort die bei weitem größte. Sie verdankt das unseren Leuten mit ihren Werten, Traditionen und Gewohnheiten, die Zeugen christlicher, katholischer Kultur sind.
Ich glaube, das ist nicht nur eine Frage der Einwanderung. Wir müssen uns bemühen, diese Leute zu bilden, damit echte Zeugen Christ in dieser Gesellschaft heranwachsen, die sich heute nicht nur protestantisch nennt, sondern die auch gleichgültig ist gegenüber christlichen Werten.
Was das übrige Lateinamerika betrifft, so glaube ich, dass Mexiko die besten Voraussetzungen mitbringt, zusammen mit den anderen Nationen, besonders auf der Ebene des Celam, des lateinamerikanischen Bischofsrates, diesen missionarischen Geist zu fördern, damit nicht nur Mexiko, sondern ganz Amerika sich zu einem missionarischen Kontinent bekehrt.

Anacleto González, ein führender Katholik zur Zeit der religiösen Verfolgung, der demnächst selig gesprochen wird, zitiert in seinem Buch La cuestión religiosa en Jalisco , (Die religiöse Frage im mexikanischer Bundesstaat Jalisco) die folgende Erklärung eines Liberalen aus den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts: «Wir können den Priestern die Freiheit lassen, in den Kirchen zu predigen, aber wir müssen ihnen die Möglichkeit nehmen zu erziehen und zu unterrichten». Dieses Programm ist in Mexiko langsam Wirklichkeit geworden. Die Kirche ist von der Erziehung ausgeschlossen worden. Wie ist die aktuelle Situation?
Ich muss daran erinnern, dass dies genau eine der Parolen des Liberalismus ist: sich der Erziehung bemächtigen, um so die Zukunft der Nation beeinflussen zu können. Aus diesem Grunde geht in Mexiko der Kampf um Religionsfreiheit und nicht nur Kultfreiheit bis heute weiter.
Das bedeutet auch, dass die Religionsfreiheit sich auch auf das Gebiet der Erziehung auswirken muss. Es gibt weitere solcher Gebiete. Ein Beispiel sind die Medien.
Deshalb hat die Kirche immer dafür gekämpft, dass nicht nur das Gesetz geändert wird, sondern auch die Mentalität, dass es wirkliche Freiheit gibt, dass die Eltern für ihre Kinder eine Erziehung wählen können, die ihren Überzeugungen am meisten entspricht. In den letzten zehn Jahren hat es bedeutende Gesetzesänderungen gegeben. Ich glaube aber, in der Mentalität haben diese Änderungen oft nicht stattgefunden. Die Religionsfreiheit und die Freiheit der Erziehung ist in Wirklichkeit den Familien vorbehalten, die über die finanziellen Mittel verfügen, um eine Privatschule zu wählen, wo ihre Kinder in ihrem Sinn erzogen werden. Aber die Mehrheit des mexikanischen Volkes verfügt nicht über diese Mittel.
Ich glaube deshalb, dass die Gesetze in ihrer gegenwärtigen Form weiter diskriminierend sind: Wer über wirtschaftliche Mittel verfügt, ist immer noch privilegiert.

Sie haben vor kurzem in Mexiko-Stadt Luigi Giussanis Buch Perché la Chiesa (Wozu die Kirche) vorgestellt. Welche Teile dieses Buches halten Sie derzeit für die Kirche, für die Katholiken, für den Glauben am wichtigsten?
Ich hatte das Privileg, zwanzig Jahre lang Kirchenlehre sowohl am Seminar von Durango als auch an der päpstlichen Universität von Mexiko zu unterrichten. Für mich ist es ein sehr bedeutsames Buch, weil es uns zum Kern des kirchlichen Auftrags führt: Christus gegenwärtig zu machen; so zu wirken, dass die Menschen nicht einer Hierarchie, einer Institution oder einer Lehre begegnen, sondern Christus in Person.
Ich glaube, es ist ein großer Beitrag, wenn Don Luigi Giussani mit solcher Eindringlichkeit immer wieder betont, dass die Kirche Gegenwart Christi ist. Mehr noch: Christus selbst ruft ständig zu sich, versammelt die Gemeinde. Folglich hat die Gemeinde die große Aufgabe, das Antlitz Christi widerzuspiegeln.