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Kultur - Thiede
Nachruf auf Carsten Peter Thiede (1952-2004)


Ein Leben, das dem Studium außerordentlicher Fragmente gewidmet war Im Alter von nur 52 Jahren verstarb der Wissenschaftler, der in den achtziger und neunziger Jahren durch die Identifizierung des Fragments 7Q5 einen Skandal hervorrief: zwanzig Buchstaben, die die Historizität der Evangelien beweisen.

7Q5: Ein etwas merkwürdiges Kürzel, mit dem für immer der Name von Carsten Peter Thiede verbunden bleiben wird. 7Q5: ein Fragment, dessen Erforschung er sich mit großer Leidenschaft hingab. Thiede widmete sich immer neu der Aufklärung äußerst schwieriger archäologischer Geheimnisse, die sich aber stets auf denselben Gegenstand bezogen: auf Jesus Christus und auf die Epoche, in der er lebte. Obwohl Thiede nicht nur in Papyrologie, sondern auch in Philologie und Komparatistik bewandert war, lag ihm akademischer Dünkel völlig fern. Er war Direktor am Deutschen Institut für wissenschaftstheoretische Grundlagenforschung und zugleich anglikanischer Geistlicher.
7Q5: ein Papyrusfragment von der Größe einer Briefmarke, mit nur wenigen Buchstaben darauf. Gefunden wurde es in den Höhlen von Qumran am Toten Meer, die ein junger Ziegenhirte 1947 entdeckte. Auf der Suche nach einer verloren gegangenen Ziege hatte er einen Stein in eine Höhle geworfen und ein merkwürdiges Geräusch gehört. Als er in die Höhle hineinging, fand er große Krüge, die Papyri und Pergamentrollen enthielten. Bei deren Untersuchung stellte man staunend fest, dass es sich um die ältesten jemals gefundenen Textdokumente der Bibel handelte: das Buch Jesaja von Qumran ist tausend Jahre älter als alle bis dahin bekannten Abschriften dieses Buches. Darüber hinaus fand man Briefe, Hymnen und andere Schriften. Es handelte sich um die große Bibliothek der antiken Gemeinschaft der Essener. Die Höhlen wurden mit Sicherheit nicht länger als bis zum Jahr 68 nach Christus genutzt, als die Truppen Vespasians nach Jerusalem kamen. Alle Texte sind auf Hebräisch und Aramäisch geschrieben. Lediglich die aus der Höhle 7 sind auf Griechisch verfasst. Zunächst wurden nur zwei davon entziffert, die zum Alten Testament gehören. Die anderen blieben vorerst ein Geheimnis.

Ein Stück aus dem Markusevangelium
Doch in den siebziger Jahren hatte ein schüchterner und gebildeter Jesuit, Pater José O'Callaghan, die Intuition, dass eines dieser Fragmente nicht dem Alten, sondern dem Neuen Testament entstammen könnte. Die 20 Buchstaben des Fragments 7Q5 (des fünften aus der Höhle 7 von Qumran) stimmen perfekt mit einem Stück des Markusevangeliums überein. O'Callaghan veröffentlicht seine Entdeckung, erntet hierfür aber nur Hohn und Spott. Seine Entdeckung gerät in Vergessenheit, bis 1984 Thiede das Feld betritt. Er als Anglikaner verteidigt den Jesuiten O'Callaghan. Mit seiner Erfahrung als Papyrologe zeigt er auf, dass jene Identifizierung sich auch vom wissenschaftlichen Standpunkt der Papyrologie her belegen lässt. Doch auch Thiede wird von den Äußerungen namhafter Wissenschaftler übertönt. Zu viel steht auf dem Spiel. Anzuerkennen, dass jenes Fragment von Markus stammt, bedeutete aufgrund seiner Datierung zugleich das Eingeständnis, dass es sich bei den Evangelien um historische Dokumente handelt, in denen schon wenige Jahre nach dem Tod Jesu dessen Leben nahezu unmittelbar aufgezeichnet wurde. Zu einer Zeit also, zu der die meisten Zeugen der in seinem Leben geschehenen Wunder noch lebten. Die Evangelien sind damit keine Sammlung von Mythen, die von den nachfolgenden christlichen Gemeinden zusammengestellt wurden, wie es eine Richtung der protestantischen Exegese behauptet, die aber auch in der katholischen Kirche Einzug gehalten hat - und zwar auf so tiefgreifende und zerstörerische Art und Weise, dass Thiede und O'Callaghan gerade aus katholischen Kreisen die verächtlichsten Kritiken einstecken müssen. Alles droht daher nach einer hitzigen Debatte unter Wissenschaftlern wieder in Vergessenheit zu geraten.

Eine internationale Angelegenheit
Doch dann wird das Thema 1991 von einer italienischen Wochenzeitung, Il Sabato, mit einem Artikel von Antonio Socci, sowie von der Monatszeitschrift 30Tage wieder aufgegriffen. Sie widmen dem Thema Titelblätter, befragen Experten und tragen die Debatte um 7Q5 in die Massenmedien. Was schon in Vergessenheit geraten zu sein schien, gewinnt nun internationales Interesse. Zuerst erscheint das Thema in den italienischen Zeitungen, dann in den europäischen und schließlich in den amerikanischen. 7Q5 und die Höhlen von Qumran begeistern plötzlich ein großes Publikum. Thiede ist in jenen Tagen erstaunt und dankbar angesichts der Unterstützung jener italienischer Journalisten, die seine Freunde werden. Die Debatte verschärft sich. Thiede und O'Callaghan sowie die Zeitungen, die deren Entdeckungen verbreitet hatten, sehen sich hitzigen Vorwürfen ausgesetzt. Il Sabato und 30Tage veröffentlichen nahezu einhundert Artikel, Interviews und Stellungnahmen von Experten. Stefano Alberto, auch Pino genannt, stellt sie in seinem Buch Vangelo e storicità (Die Historizität der Evangelien) zusammen. Es erscheint beim angesehenen Verlag Rizzoli in der von Don Giussani herausgegebenen Reihe I libri dello spirito cristiano. Die Auseinandersetzungen nehmen zu. Bis mich eines Tages Thiede anruft und mir in bester Laune mitteilt: "Ok, jetzt können wir die Waffen niederlegen. Endlich kann ich mich anderen Themen widmen. Die «Grand Old Lady» der Papyrologie hat gesprochen, und niemand wird es mehr wagen, ihre Autorität in Frage zu stellen. Die Identifizierung ist als gewiss anerkannt". Ich hatte mit Orsolina Montevecchi, der emeritierten Dozentin für Papyrologie an der Katholischen Universität Mailand, ein Interview geführt. Sie war dafür bekannt, polemischen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, und hatte sich bis dahin noch nie zum Fall 7Q5 äußern wollen. Nun hatte sie endlich ein Interview gewährt. "Man muss sowohl die apologetischen als auch die ideologischen Vorurteile beiseite lassen", hatte sie gesagt. Und dann zu meiner Überraschung ergänzt: "Die Identifizierung von 7Q5 als Fragment des Markusevangeliums scheint mir gesichert". Eine Anerkennung, der sie mit ihrer ganzen Autorität Gewicht verlieh.

Matthäus und Jesus
Thiede beginnt nun, sich mit anderen Fragen zu beschäftigen. Er untersucht die drei Papyrusfragmente des Matthäusevangeliums, die im Magdalen College in Oxford aufbewahrt werden, und datiert sie auf das Jahr 60 nach Christus. Damit liegt er mindestens zehn Jahre vor dem bis dahin von Experten anerkannten Entstehungsdatum. Doch da es sich um ein als Buch gebundenes und auf Griechisch verfasstes Manuskript handelt, dem ein gerolltes, auf Aramäisch geschriebenes Original zugrunde liegen muss, folgt daraus, dass Matthäus sein Evangelium unmittelbar nach dem Tode Jesu verfasst haben muss. Thiede veröffentlichte seine Entdeckungen in dem Buch Der Jesus-Papyrus, das weltweit ein Bestseller wurde. Andere erfolgreiche Bücher folgten, die seinen Ruf als Wissenschaftler weiter förderten, so zum Beispiel das Buch Das Jesus-Fragment/Kaiserin Helena und die Suche nach dem Kreuz, in dem er belegt, dass es sich bei der Tafel, die in der Basilika Santa Croce in Gerusalemme in Rom aufbewahrt wird, tatsächlich um diejenige handelt, die am Kreuze Jesu befestigt worden war. Doch trotz der Vorwürfe, denen er von mehreren Seiten ausgesetzt ist, betreibt Thiede keine Apologetik, sondern nur wissenschaftliche Forschung, und dies auf höchstem Niveau. Er war unter den Ersten, die in den letzten Jahren die Authentizität mehrerer archäologischer Entdeckungen bestritten haben: den so genannten Sarkophag des Jakobus, in den der Text "Sohn des Josef, Bruder Jesu" eingemeißelt war, und der als der "älteste archäologische Beweis für die Existenz Jesu" bezeichnet worden war, sowie das angebliche Grab des Zacharias, des Vaters von Johannes dem Täufer.
Am 14. Dezember vergangenen Jahres erlag Thiede in Paderborn mit nur zweiundfünfzig Jahren einem Herzinfarkt. Doch sein kurzes Leben hatte er intensiv gelebt und voller Leidenschaft der Erforschung der außerordentlichsten und faszinierendsten Fragmente der Weltgeschichte gewidmet.