Politik - Europa
Ohne Identität hat Europa keine Zukunft
Michele Rosboch
Aufgrund innerer und äußerer Schwächen ist die Entwicklung der Europäischen
Union derzeit blockiert. Viele Bürger sind misstrauisch. Giorgio Lombardi,
Professor für Öffentliches Recht an der Universität Turin, erläutert in diesem
Interview, wie ein Neuanfang aussehen könnte.
Das Scheitern der EU-Verfassung in Frankreich und Holland, die zunehmenden
Streitigkeiten zwischen den Mitgliedsstaaten, die Meinungsverschiedenheiten
zwischen der Kommission und einzelnen Staaten sind klare Zeichen, dass es
Europa nicht gut geht. Warum ist es so weit gekommen? Was kann getan werden, um
den alten Kontinent wieder in Schwung zu bringen? Diesen Fragen stellt sich
Giorgio Lombardi, Professor für Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät
der Universität Turin.
Professor Lombardi, welches Europa können wir nach der Ablehnung des
europäischen Verfassungsvertrags in Frankreich und Holland erwarten? Was wird
aus dem Integrationsprozess?
Die Antwort könnte allzu einfach scheinen, aber ich glaube, dass dem nicht so
ist. Der Prozess wird vielleicht langsamer vorangehen, aber das wird nützlich
sein. Die plötzliche Beschleunigung Europas, der Wille, um jeden Preis eine
Verfassung aus dem Boden zu stampfen, hatte eine ungewisse Grundlage. Sagen wir
ruhig Verfassung. Manche nennen es Verfassungsvertrag, aber es handelt sich
tatsächlich um eine Verfassung, eine Verfassung in Form eines Vertrages, aber
mit Verfassungscharakter. Das geschah nun zu einem Zeitpunkt, in dem sich die
Mitgliedsstaaten in einer Krise befanden, die nicht nur wirtschaftlicher,
sondern auch politischer Natur war. Die EU war ihrerseits an einem Punkt
angekommen, an dem eine Vertiefung der Integration nötig war. Dennoch wollte
man es so machen, um der europäischen Entwicklung größere Kraft zu verleihen
und größere Einflussmöglichkeiten gegenüber den Mitgliedsstaaten zu schaffen.
Um mich klarer auszudrücken: Der Staat ist mittlerweile auf Grund der Bindungen
an die EU nicht mehr in der Lage, die von außen kommenden Probleme, die sich in
seinen Grenzen zeigen, zu lösen. Ich denke dabei an die Krisen der
wirtschaftlichen Strukturen, Organisationsprobleme und so weiter. Zugleich ist
aber die EU weder in der Lage, die Entwicklung innerstaatlicher Lösungen zu
fördern (die sonst nur als unzulässige Finanzspritzen für einzelne Unternehmen
daherkommen und somit als unerlaubte Einmischung), noch kann sie die Probleme
in den Mitgliedsstaaten lösen. Hier überschneiden sich zwei Schwächen: die
inneren der Mitgliedsstaaten und die äußeren der EU. Das führt zu dieser
Situation unzureichender Wettbewerbsfähigkeit und der Blockade der Entwicklung
der einzelnen Staaten.
Deswegen glaube ich, dass die Lösung der Probleme, die sich aus der
unterbliebenen Ratifizierung der Verfassung in Frankreich und Holland ergeben
haben, darin besteht, eine aufmerksamere Bewertung zu fordern, eine weniger
oberflächliche Einschätzung dieser Verfassung, die um jeden Preis von der EU
gewollt wurde, um die Integration zu beschleunigen. Es geht also um eine
größere Ernsthaftigkeit, um eine aufmerksamere Reflexion und eine größere Ruhe.
Darüber hinaus hat die EU-Verfassung viele Schwächen, die der aufmerksamen
Bevölkerung nicht verborgen bleiben können, aber darauf kommen wir noch zu
sprechen.
Warum hat der europäische Einigungsprozess in den letzten Jahren die
Unterstützung der Bevölkerung verloren? Welchen Unterschied gibt es zwischen
dem Europa der Gründungsväter und dem Europa, das diese Verfassung erarbeitet
hat?
Auch diese Frage ist nicht schwer zu beantworten. Europa ist vom Profil her zu
bürokratisch geworden, wohingegen es am Anfang einen großen ideellen Ansporn
gab. Damals lag der Krieg wenige Jahre zurück, der auch wegen der Rohstoffe
begonnen wurde. Außerdem bestand die Bereitschaft, um die Kontrolle von Kohle
und Stahl Konflikte auszutragen. Das alles wurde damals aus dem
Kompetenzbereich der Staaten herausgenommen und auf die Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft übertragen. Danach galt es jedoch, die Gemeinschaft
auszugestalten, und das wurde leider in trockener und bürokratischer Art und
Weise verwirklicht. Inzwischen legt die EU fest, wie ein Apfel und wie Käse zu
sein hat. Sie drängt ein Procedere auf, das erschreckende technologische und
bürokratische Folgen hat. Damit tötet man das Interesse und die Begeisterung
der Bürger. Man glaubt, zunächst mehr Möglichkeiten zu haben, und was findet
man vor? Verbote. Man glaubt, etwas aufbauen zu können, und stößt auf
Hindernisse. Wenn dann irgendwann die Kriterien für die technische Sicherheit
geändert werden und ein Unternehmer alle seine Anlagen austauschen muss, dann
kann er schon auf den Gedanken kommen, dass Europa nicht besonders nützlich
ist. Außer für die vielen Lobbys, die Einfluss nehmen und sich dort breit
machen, wo es keine Beteiligung der Bevölkerung gibt. All diese komplizierten
Abläufe nehmen die Gestalt von "erlaubter Korruption" an. Es gibt nichts, was
die Bevölkerung so sehr von den Institutionen entfernt wie der Eindruck, das
diese für sich selbst und nicht für das Volk da sind.
Wie kann also ein Neuanfang aussehen?
Man muss von der bescheidenen Einschätzung der gemeinschaftlichen
Notwendigkeiten ausgehen, von einer ehrlichen und objektiven Bewertung des
bisher erreichten Entwicklungsstandes und damit arbeiten. Man sollte nicht
sagen "weiter so" und somit die bürokratische Seite weiter überwiegen lassen,
sondern man muss die wahren Probleme herausfinden und zu lösen versuchen. Wenn
die Lage in den verschiedenen Mitgliedsstaaten nicht einheitlich ist, muss man
Maßnahmen finden, die tatsächlich für alle von Nutzen sind.
Welche Rolle könnte dabei das so genannte Humankapital spielen, das der
Europäische Rat von Lissabon im Jahr 2000 als erste Ressource für den Neustart
der Wettbewerbsfähigkeit Europas genannt hat?
Das Humankapital ist enorm wichtig, da es das Lebenselixier jeder Institution
ist. Hier muss man beginnen. Wenn es eine authentische Kraft gibt, die an die
Werte Europas glaubt und die mit Demut und gleichzeitig mit Entschlossenheit
ihren eigenen Beitrag einbringt, dann gibt es Anlass zur Hoffnung, sonst nicht.
Sonst gibt es nur einen Überbau, der von den Völkern der EU als solcher
wahrgenommen wird. Was zählt, ist die Identität. Dafür muss man sich einsetzen.
Aber man kann keine Identität ohne das menschliche Element schaffen. Das
menschliche Element bringt in natürlicher Weise kulturelle, religiöse und
ideelle Werte mit sich. Alles Dinge, die in der EU-Verfassung zum großen Teil
vergessen worden sind oder bei denen klammheimlich gewissen Werten Vorrang zum
Schaden anderer gegeben wurde.
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