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Medizin und Person
Der unendliche Horizont der Medizin
Andrea Costanzi

Ende Mai fand an der staatlichen Universität von Mailand eine Tagung der Vereinigung "Medizin und Person" statt. Dabei ging es um die Zukunft der Berufe im Gesundheitswesen.

Eigentlich sollte die dritte Tagung des Vereins "Medizin und Person" über die Zukunft der Berufe im Gesundheitswesen gehen. Doch Giancarlo Cesana sprach vor den rund 700 Teilnehmern, die sich in Mailand eingefunden hatten, aus aktuellem Anlass auch kurz das Referendum zur künstlichen Befruchtung an: "Das Problem der künstlichen Befruchtung spiegelt nicht ein Bedürfnis des Volkes nach einer rechtlichen Regelung und die Sorge um das Menschenbild oder die Kultur wider, sondern es ist eine Folge des medizinischen Fortschritts. Daher beeinflusst die Medizin die Gesetze und die Kultur und nicht umgekehrt."

To cure und to care
Das Motto der Tagung lautete: "Arzt, heile dich selbst". Nach Cesanas Überzeugung liegt das Hauptproblem der heutigen Wissenschaft darin, dass man versucht, alle Schranken aufzuheben, um das Unendliche zu erreichen. Das Problem des Kranken bestehe hingegen umgekehrt darin, "seine Grenze zu leben, um nicht zu sterben, das heißt, um zum Unendlichen zu gelangen. Der Mensch selber ist Grenze, er ist Geschöpf." Wer dies verkenne, "kehrt in die Zeiten vor Hippokrates zurück und hält sich für einen Wunderheiler, obwohl er eine Ausbildung als Mediziner hat." Für ihn stellt sich angesichts dieser Perspektiven des Gesundheitswesens die Frage, "wie können wir innerhalb dieser gigantischen Anstrengung der menschlichen Entwicklung weiterhin Protagonisten bleiben, die dem Menschen helfen?" Wenn die Medizin eine Kunst und nicht nur ein Job ist, "dann deshalb, weil sie in kreativer Weise das bedenklich gewordene Gleichgewicht zu halten sucht", so Cesana. Und er zitierte in diesem Zusammenhang einen französischen Sinnspruch aus dem 15. Jahrhundert: "Manchmal heilen, oft pflegen, stets Trost spenden".
Der Mailänder Anästhesist Luciano Gattinoni sah nach 30-jähriger Berufserfahrung die Gefahr, dass aufgrund der technischen Entwicklung zwar beim to cure (Behandlung und Heilen der Patienten) Fortschritte erzielt werden, aber das to care, also die menschliche Sorge um die Patienten, auf dem Rückzug sei. Der Heilungserfolg werde zum alleinigen Kategorischen Imperativ der Medizin. Der Preis für die schneller und öfter erzielten Heilerfolge sei allerdings hoch. Für Don Roberto Colombo geht dabei vor allem "die semiotische Bedeutung der Krankheit verloren", also ihre Zeichenhaftigkeit. Im Leiden und im Wunsch nach Gesundheit zeige sich der Wunsch nach dem persönlichen Heil des Menschen. "Die Erfahrung lehrt uns, dass der Wunsch des Kranken über die Bitte nach Heilung der Krankheit hinausgeht. Er sucht eine Hilfe, um das Geheimnis des Lebens und des Todes anzugehen", meinte Colombo und verwies auf entsprechende Äußerungen von Papst Johannes Paul II.
Wie gestaltet sich dann aber die Beziehung zwischen Arzt und Patient? Der Theologe Luigi Negri hob in diesem Zusammenhang die Caritas hervor, "und zwar die Caritas desjenigen, der den anderen in seinem Bedürfnis annimmt und sich ihm zuwendet, denn in diesem Bedürfnis folgt er einer Neuheit." Dabei sei "die pietas die Wahrnehmung, dass man gemeinsam dem Geheimnis angehört. Beim Behandeln der Krankheiten seid ihr dazu berufen, die Fülle eurer Menschlichkeit zu verwirklichen. Die Kranken, die von euch behandelt werden, sind dazu aufgefordert, die Fülle ihrer Persönlichkeit zu verwirklichen."

Adulte Stammzellen
Der Experte für Kinderheilkunde, Fulvio Porta berichtete aus seiner Praxiserfahrung bei der Behandlung von Immunschwächestörungen bei Kindern. Er erinnert daran, dass hierzu seit 1968 adulte Stammzellen bei Knochenmarktransplantationen genutzt werden. Damals sei ein amerikanisches Kind, das ohne Immunsystem zur Welt kam, durch pluripotente Stammzellen des Bruders gerettet worden. Heute gehe es dem damaligen Patienten wieder gut. Er sei Vater von zwei Söhnen. "Meine Patienten sind jene 50 Kinder (von 570.000 pro Jahr in Italien geborenen Kindern) mit einfachen Immunsystemstörungen, die im Brutkasten geschützt werden. In 7 von 10 Fällen ist die Diagnose: Diesen Kindern fehlen Abwehrzellen. Und in 7 von 10 Fällen kann man sie durch Transplantationen behandeln. Heutzutage kommen immer häufiger Mütter, die schon ein krankes Kind haben, zu uns, wenn sich eine neue Schwangerschaft ankündigt. 1996 kam eine Frau zu uns, die bereits ein Baby aufgrund einer Immunschwächekrankheit verloren hatte und erneut mit einem Kind schwanger war, das ebenfalls daran erkrankt war. Sie hatte gelesen, dass man in den USA eine Transplantation in utero vorgenommen hatte. Eigentlich konnten wir dies auch. Im fünften Schwangerschaftsmonat haben wir zwei Milliliter der Knochenmarkflüssigkeit des Vaters dem Kind durch die Bauchdecke der Mutter injiziert. Die Stammzellen sind in den Thymus gewandert und haben das Immunsystem wiederbelebt. Das Kind wurde gesund und ohne Aufenthalt im Brutkasten geboren, denn es war stets im Bauch der Mutter. Wir haben fünf weitere Transplantationen an Föten vorgenommen und haben uns auch für andere genetische Krankheiten interessiert, wie Osteoporose, was bei betroffenen Kindern zu circa 20 Frakturen pro Jahr führt." Porta sieht aber auch die Schwierigkeiten dieses hohen technologischen Einsatzes für eine kleine Gruppe von Patienten. "Wenn ich an meine Ärzte in der Facharztausbildung denke, die nacheinander die Kinder in Burkina Faso behandeln, bin ich manchmal verlegen. Aber ich bin überzeugt, dass ein Kind im Krankenhaus wie das andere ist."

Lehrern begegnen
Der ehemalige Gesundheitsminister Girolamo Sirchia warf die Frage des Bildes vom Arzt in der Gesellschaft auf. "Warum", so fragte er, "sehen zehn Millionen Italiener im Arzt nicht mehr ihren Ansprechpartner und gehen zu Magiern oder Wunderheilern?" Und er verwies darauf, dass die Ärzte "bis in die 30er Jahre fast keine diagnostische Ausrüstung hatten, sich aber großer Anerkennung erfreuten: Die Patienten vertrauten sich ihnen mit ihren körperlichen und seelischen Schmerzen an." Der Arzt müsse diese Rolle als Gesprächspartner wiederfinden. Luca Moltrasio von "Medizin und Person" befasste sich mit der Frage der Ausbildung aus dem Blickwinkel der Studenten: "Wir meinen, dass man nur in einer Beziehung mit einem Lehrenden lernen kann und zwar, indem man schrittweise Verantwortung übernimmt. Dies tut man aber nur, wenn man auch jemandem antwortet. Heute werden wir stattdessen allein gelassen und sollen in einem Schwimmbecken mit wenig Wasser üben. Dort sind die Risiken zwar gering, die Entdeckungsmöglichkeiten aber noch geringer. Auch für uns ist es daher einfach geworden, uns anzupassen und zu verflachen." Unter den Wünschen, die man an die Älteren richtete ging es vor allem darum, die Spezialisierung zu verbessern, indem man die Möglichkeit schafft, einzelnen Lehrern zu folgen, wenn diese sich für einen als solche erweisen.
Seit einem Jahr befasst sich "Medizin und Person" mit der Ausbildung im Gesundheitswesen. Und hier zeigten sich auf der Tagung bereits die ersten Früchte, wie Professor Guido Coggi, Präsident der Medizinischen Fakultät der Universität Mailand erläuterte: "In der Lombardei sind hervorragende universitätsunabhängige Strukturen im wissenschaftlichen Bereich und der Fürsorge entstanden, auf die wir stolz sein können. Es wäre eine grobe Nachlässigkeit, diese Strukturen nicht in den Dienst der Studenten zu stellen." Zugleich äußerte er sich zu den Herausforderungen der Zukunft: "Wenn wir heute die neuen Szenarien der Molekularmedizin betrachten, stellt sich die Frage, welche Art von Medizin in 15 Jahren nützlich sein wird? Eine Mischung aus Kultur, Forschung und Fürsorge." Hierfür will er ein gemeinsames lombardisches Forschungszentrum zur medizinischen Ausbildung errichten. Entscheidend sei aber, bei allem Fortschritt den Patienten im Auge zu behalten. "Wir arbeiten weder für die Universität noch für die Krankenhäuser. Wir arbeiten für die Ärzte von morgen und die Kranken von morgen."

Felice Achilli, Präsident von "Medizin und Person" zog eine positive Bilanz der Tagung, zu der immerhin über 200 neue Teilnehmer aus dem Gesundheitsbereich gekommen waren. Dabei machte er auch auf die neue Zeitschrift des Verbandes aufmerksam: Journal of Medicine and the Person. Sie habe den ersten Schritt in die Öffentlichkeit gewagt und sei auf großes Interesse gestoßen. "Je mehr Zeit vergeht, desto mehr vertiefen sich die Gründe, die am Anfang dieser Initiative standen und Horizonte eröffnet haben, die vor fünf Jahren undenkbar waren. Es geht darum, diesen Weg fortzusetzen", so sein Fazit.