Thema - Hoffnung
Die Fünf von Brucoli und ihr Lehrer
Ricardo Piol
Fünf Studenten der Diplom-Handelsschule und ihr Geschichtslehrer, der nach
jeder Unterrichtsstunde bei ihnen verweilt und von seinen vielen Freunden
erzählt, auch von Andrea, der an Leukämie erkrankt ist. Das alles im Gefängnis
von Brucoli.
Den Gefängniswärtern sagt er: "Wir möchten uns mit den fünf Handelsschülern
treffen" und sie verstehen ihn auf Anhieb. Sie kennen den Geschichtslehrer,
dessen fünf Schüler in diesem Jahr die Abschlussprüfung machen: die
schriftliche am 6. Juli, die mündliche am 14. Und da sind sie schon, "seine
Jungs", die Klasse von Professor Giovanni Burgio. Das Schulalter haben sie
schon seit geraumer Zeit hinter sich. Aber das fällt mir kaum auf, weil heute
alles etwas außergewöhnlich ist.
"Professor!". "Wie geht's?". "Er steht wie ein fester Turm, der nicht einstürzt
/ schon gar nicht die Spitze, wenn der Wind bläst." Wie viele Menschen kennt
man schon, die Dante zitieren, um zu sagen, wie es ihnen geht? Ich kenne
vielleicht zwei. Aber hier befinden wir uns zu allem Überfluss im Gefängnis von
Brucoli, Provinz Syrakus, Sizilien. Nach Angaben des Direktors sind hier etwa
600 Gefangene untergebracht. Die Zellen sind für zwei oder drei Personen, ein
kleiner Raum für das Etagenbett, und daneben einer für die Toilette.
Man verlässt die Zellen nur zum Mittag- und Abendessen und für die Stunde im
Freien. Oder eben, um zum Unterricht von Professor Burgio zu gehen. Und heute,
um mich zu treffen. Und es ist ein besonderer Tag, so besonders, dass Giuseppe
drei Stückchen süßen Torrone aus der Tasche zieht. Sie sind für uns, "weil
heute ein Festtag ist!" Die Fünf erwarteten uns schon. Sie konnten sich nicht
vorstellen, dass der Brief an Andrea so viel Interesse erregen würde. Sie sind
stolz darauf, vor allem aber erstaunt. "Denn wir haben wirklich kein
Meisterwerk geschrieben, keine Göttliche Komödie oder Das Unendliche von
Leopardi", meint Giuseppe. Und Antonio, den Burgio den "Kulturbeauftragten"
nennt, fügt hinzu: "Wir wussten nicht, was wir sagen sollten, aber dann ist uns
der Brief in zehn Minuten, in der Stille aus dem Herzen gekommen. Unser
Professor hatte uns die Geschichte von Andrea erzählt, von seiner Chemotherapie
und wie sie ihn ganz kaputt machte. Da haben wir ihn als einen von uns
angenommen, als unseren Bruder. Denn wer leidet, versteht, und sein Leiden war
dramatischer als unseres. Es war schön, ihm ein Stück von dem Glück zu geben,
das wir empfangen haben."
Das Gefängnis und das Glück
Glück? Worin besteht Glück in einem Gefängnis? Das Glück, dem sie begegnet
sind, sitzt neben mir: "Unser Professor". Und Antonio bemerkt: "Es war kein
Zufall, dass wir uns begegnet sind: Es war der Herr." Er erzählt mir, er habe
sofort nach seiner Verhaftung viele Briefe an seine Kollegen geschrieben. Nach
sechzehn Jahren gemeinsamer Arbeit als Krankenpfleger hoffte er auf ihre
Unterstützung. Aber die wenigen, die antworteten "schickten mir kalte Briefe
und ließen mich schließlich wissen, ich solle ihnen nicht mehr schreiben." Als
man ihn zum Ucciardone gebracht hatte, dem berüchtigten Gefängnis von Palermo,
fand er in die Wand seiner Isolierzelle den Satz eingeritzt: "Das schlimmste
Gefängnis ist das Leben, denn um dem zu entkommen, musst du krepieren." - "Das
werde ich nie vergessen. Wir aber sind heute freier als viele, die draußen
leben." Denn Antonio und seine Freunde haben nie aufgehört, etwas zu erwarten.
Und dann ist eines Tages dieser Mann gekommen, um Geschichtsunterricht zu
erteilen. Am Ende der Stunde ist er aber nie gleich gegangen. Er ist bei ihnen
geblieben und hat das weiter nach jedem Unterricht so getan. Er erzählt ihnen
von seinen Freunden, einem gewissen Don Giussani, dem Brief Joshuas, eines
Häftlings im Gefängnis von North Carolina, und von Andrea. "Unser Professor ist
unsere Oase in der Wüste", sagt Antonio, der auch Dichter ist. Und Massimo
erzählt mir, als wolle er mich das besser verstehen lassen: "Er ist auch
gekommen, als er ein eingegipstes Bein hatte!" So versteht man, warum sie auf
den "Spaziergang" verzichten, wie Pippo die Stunde im Freien nennt, wenn
Unterricht ist und sie ihren Professor erwarten.
Ärzte und Kranke
Salvatore sagt es mit entwaffnender Einfachheit: "Was machen Ärzte, um Arzt zu
werden? Sie leben mit Kranken. Wir leben mit dem Leid und darum verstehen wir
es." Der Brief an Andrea war im Grunde ein Gespräch zwischen Menschen, die
wissen, was es heißt zu leiden. Aber auch zwischen solchen, die gelernt haben,
für die einfachsten Dinge dankbar zu sein. Die jeden Augenblick mit einer
Hoffnung leben, die nicht sterben will. Giuseppe erzählt von dem Tag, an dem er
wieder im Gefängnis gelandet war, diesmal in Palmi. "Ich habe mich auf der
Liege ausgestreckt und gesehen, dass in dem Sprungfederrahmen über mir ein
Büchlein von Schwester Faustina über die Göttliche Vorsehung steckte. Es war
als zwinge mich der Herr, es zu lesen." Das Büchlein empfahl, an jedem ersten
Freitag im Monat eine Novene zu beten. Aber er hatte es eilig und genug, worum
er bitten wollte. "Ich betete für die Entlassung meines Bruders und der anderen
Mitangeklagten, die nichts mit der Sache zu tun hatten." Er beginnt die Novene
und seine Freunde werden einer nach dem anderen entlassen, bis "ich eines Tages
mit meinem Bruder in der Zelle bin. Ein Wachmann kommt herein und sagt: "Wer
von euch hat einen Namen, der mit C beginnt?" "Alle beide", antworten wir.
"Michele C.? Du bist frei." Es war Freitag."
Mit der Familie vor Augen
Nach den Prüfungen wird Giuseppe nach Catanzaro verlegt. So ist er näher bei
seiner Heimat, denn er ist Apulier. Er wird damit auch seiner Frau und seinen
drei Söhnen näher sein; auch dem, der in diesem Sommer arbeiten wird, um die
Schulbücher zu bezahlen: "Er geht aufs Gymnasium. Welche Lektion fürs Leben hat
er mir erteilt!" Wenn sie von ihrer Familie sprechen, und sie sprechen oft
darüber, scheint es, als hätten sie diese unmittelbar vor Augen. Und ich
verstehe, warum sie sich in Salvo und Carmela, die Eltern von Andrea,
hineinversetzen können, die beim Begräbnis ihres Sohnes Freunde und Verwandte
getröstet haben. Die Eltern hatten mir von den Monaten in Pavia erzählt, vom
Leiden ihres Sohnes und dabei häufig ein Wort ausgesprochen, das unmöglich
scheint: Dankbarkeit. Dankbarkeit gegenüber dem Herrn, gegenüber ihrem Sohn,
ihren Freunden und Don Giorgio - und den Verfassern dieses Briefes: "Ciao
Andrea, wer dir schreibt, sind fünf Häftlinge ...". Hätten die fünf Häftlinge
das nicht klar und deutlich geschrieben, ich hätte wirklich Mühe gehabt, es zu
verstehen. Denn sie verstecken nicht das Leiden, aber auch nicht die Hoffnung,
die zu finden, man überall erwarten würde, außer in einem Gefängnis. Antonio
aber sagt: "Hier gibt es Menschen, die zu lebenslänglich verurteilt sind, und
dennoch so leben, als würden sie morgen entlassen. Hier stirbt die Hoffnung
zuletzt.
Und wenn ich das Glück habe, jemandem wie "unserem Professor" zu begegnen, dann
ist mir klar, dass ich mich zu Recht nicht den Antidepressiva überlasse." Denn,
so meint Giuseppe, "es gibt etwas, das mir unser Professor von Don Giussani
erzählt hat ... weshalb wir nicht umhin können, auch von ihm zu sprechen. Er
hat Recht, wenn er sagt, dass der Mensch glücklich leben kann, wenn er seine
Lebensumstände annimmt."
Erwarten, Gott zu sehen
"Für uns ist die Erwartung, zu unserer Familie zurückzukehren, wie die
Erwartung, Gott zu sehen." Das mag wie eine Übertreibung scheinen, aber man
versteht, dass Giuseppe nicht übertreibt. Denn als ich Pippo frage, ob er
Familie hat, sagt er mir schüchtern aber stolz: "Ich bin schon Großvater." Vor
acht Monaten wurde Maria Grazia geboren. "Es war eine Frühgeburt, und sie war
in Lebensgefahr. Aber jetzt geht es ihr gut." Während wir uns verabschieden,
sagt mir Massimo, dass seine Freundin Maura heißt. Er ist mit 19 Jahren ins
Gefängnis gekommen und ist jetzt 31 - "Aber sie ist mehr als eine Verlobte.
Schreib das in deinem Artikel!". Salvatore wiederum hat in Belpasso, unterhalb
des Ätna, eine Frau, drei Kinder und drei Enkel, die hoffen, dass er möglichst
schnell zurückkommt. Und auf Antonio warten in Palermo, in ihrem Haus an der
Straße zum Hafen Eltern, Frau und Kinder.
Jungs - wie euer Professor euch nennt -, ich weiß nicht, wie lange es noch
dauert, bis ihr nach Hause zurückkehren könnt. Ich habe euch nicht danach
gefragt. Aber ich hoffe bald. Denn draußen gibt es das Meer, Oleander, die wie
Bäume aussehen, und die Sonne scheint. Es gab das alles auch, bevor ich Euch
getroffen habe, aber mir war nie aufgefallen, dass alles so schön ist, wie ihr
sagt.
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