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Das Leben hingeben
Das Christentum - ein neuer Geschmack am Leben
Enzo Piccinini

Mitschrift einer Versammlung für die Studenten von CL zum Beginn des Semesters (Bologna, 5.10.1988)

Schaut euch um: Wer von euch könnte sagen, dass er dies gemacht hätte? Wären wir zusammen fähig, so etwas zu machen? Nein, dazu ist etwas anderes nötig. Und damit sind wir auch direkt beim Problem: Die Freiheit kommt auf Grund einer Gegenwart ins Spiel, auf Grund von etwas, das dich herausfordert, provoziert, herausruft. Wir sind zusammengekommen, weil wir eine neue Menschlichkeit ersehnen und wünschen; nicht, um eine Gruppe zu bilden, eine bestimmte Anzahl zu erreichen oder uns selbst zu bestätigen, sondern wegen einer neuen Art von Menschlichkeit, die wir erfahren haben und von der wir wünschen, dass die Welt sie kennen lernt. Und diese neue Art von Menschlichkeit entfaltet sich, weil wir uns beharrlich und geduldig in dieses Neue, das uns widerfahren ist, hineinversetzt haben.
Es ist eine neue Art von Menschlichkeit, die uns am Herzen liegt. Und das erfordert einen langen Weg, der beharrlich und geduldig zu gehen ist. Wir dürfen uns nicht gestatten, rein formal hier zu sein. Denn dann würde uns alles entgleiten wie Wasser auf einem Felsen, das weggleitet und nichts zurücklässt, oder wie bei einer seifigen Oberfläche, die undurchlässig macht.
Das Wunder und das Staunen im Angesicht einer wirklich großen Sache macht das Leben transparent. Die Fähigkeit zum Staunen ist die erste Regung des lebendigen Menschen, wie Jean Guitton in einem seiner wunderbaren Bücher sagt. Er vergleicht diesen lebendigen Menschen mit jemandem, der das Krankenhaus verlässt und dieselbe Luft wie immer einatmet, denselben Hof, dieselben Gebäude vorfindet. Als er jedoch aus der Toreinfahrt des Krankenhauses tritt, sagt er fast instinktiv: «Ah! Was für eine Freiheit!» Dabei hat sich nichts geändert. Was also ist passiert? Er hat die Fähigkeit des Staunens wiedergefunden, als ob er eine Sache von neuem wiedergetroffen hätte, die er sich gewünscht hatte und nicht mehr besaß.

Die Kunst des Staunens
Genauso ist unser Leben. Wenn ihr die Fähigkeit des Staunens verliert, die Kunst, euch zu wundern über das, was euch umgibt und was ihr euch nie hättet vorstellen können, und auch über das Wunder eurer selbst zu staunen. Wenn ihr das verliert, welchen Geschmack hat das Leben dann noch? Es bleibt nur die akribische Analyse der eigenen psychischen Befindlichkeit oder die Hoffnung auf ein Glück. Aber das ist kein Leben.
Uns liegt eine neue Menschlichkeit am Herzen. Sie beginnt mit der Einsicht, dass um uns herum eine ungeheure Gnade existiert, ein Geschenk, etwas, das nie Besitz war und das wir selbst nie hätten schaffen können. So kann das Leben sich allmählich ändern. Denn wenn du verstehst, dass das Leben ein Geschenk ist, das nicht du dir gegeben hast, verstehst du sofort, dass das Leben bewahren heißt, wenn du es zurückgibst. Die Natur des Lebens als Geschenk bleibt erhalten, wenn das Leben zurückgegeben wird, aber nicht, wenn es kalkuliert oder für sich behalten wird.
Christus ist gekommen, um den Menschen und seine Freiheit herauszufordern. Und seitdem Gott sich in Christus offenbart hat, ist alles rein Formale, Mechanische oder Rituelle für jeden Christen (erst recht für Katholiken) völlig unerträglich. Denn in der Person Christi scheint das Zeugnis einer außerordentlichen Menschlichkeit auf.

Eine wirkliche Freundschaft
Wenn du den anderen nur teilweise wahrnimmst, fordert er dich nicht heraus, und es kann keine wirkliche Freundschaft entstehen. Nur wenn du ihn ganz wahrnimmst, das heißt, wenn du den anderen als lebendige Wirklichkeit begreifst, obwohl du diese oder jene Gefühle für ihn hegst, kann er dich herausfordern. Denn seine Gegenwart zwingt dich zu deiner Wahrheit. Versucht, euren Banknachbarn so anzuschauen, und das Leben bekommt eine Intensität, die ihr euch nie hättet träumen lassen. Das ist etwas ganz anderes als Rockmusik und Sensationen. Die wirkliche Sensation ist, dem Leben und dem anderen gegenüberzutreten und zu ihm «du» zu sagen. Du kannst nicht «ich» sagen, sondern du musst «du» sagen, denn es gibt eine andere Wirklichkeit, und sie existiert in ihrer Ganzheit. Wenn ich so vor dem anderen stehe und von meiner Sympathie, Antipathie oder meinem Interesse für ihn absehe, dann wird der andere zu einer lebendigen Frage über die Wahrheit meiner selbst.
Was verschließen wir uns für Möglichkeiten mit der Sentimentalität, die wir uns täglich verabreichen, von den Zeichentrickfilmen für die Kinder bis zu dem, was ihr im Fernsehen oder Kino anschaut!
Das ist aber nicht das wirkliche Leben, und ich hoffe, dass ihr euch dessen bewusst seid? Das wirkliche Leben ist die Freundin, die noch vor allem, was ihr für sie fühlt, eine Frage der Wahrheit über euch ist. Die Tatsache, dass sie da ist, bezeugt schon, dass sie nicht auf das reduziert werden kann, was du fühlst. Und dann behauptet man, dass Christentum sei rückständig in diesen Dingen. Ich behaupte, alles Übrige ist tierisch, was sehr viel schlechter ist. Eure Mutter, die euch am Morgen begegnet, ist genau diese Frage der Wahrheit für euch. Denn normalerweise ist der Gruß, den ihr eurer Mutter zum Abschied zuruft, absolut leer, kalt und mechanisch. Aber ist das menschlich?
Es ist genau das, was uns der Religiöse Sinn lehrt. Und ich fordere euch heraus, eine andere menschliche Wirklichkeit zu finden, andere Freunde und andere Leute, die euch diese Dinge außerhalb des Christentums sagen! Dieser Blick und die Lebensweise, die daraus erwächst, werfen unmittelbar zwei Fragen auf: Vor allem müssen wir uns gegenseitig helfen, um dies nicht zu vergessen, wir müssen uns aber auch in den gewöhnlichen Dingen helfen. Denn der andere ist einfach zu wichtig, und mit der beschriebenen Haltung kann euch der Freund, dem es schlecht geht, nicht egal sein. Nicht etwa, weil ihr Sympathie beweisen wollt, sondern weil es wirklich ist, so wie es euch nicht gut gehen könnte, wenn ihr bemerken würdet, dass eine gewisse Menschlichkeit, ein Maß an Menschlichkeit sich etwa in einem Krieg verliert. Dabei kann es einem nicht gut gehen.

Gemeinsame Spannung
Die andere Frage ist, ein gemeinsames Urteil anzustreben. Das bedeutet eine Spannung zu leben, nicht sich alle Dinge zu erzählen. Darum geht es wirklich nicht. Vielmehr besteht das Problem darin, mich auf den Ort auszurichten, der mich lehrt, ich selbst und damit wahr zu sein, damit diese Erfahrung als Hilfe und Ausweitung meines Horizontes in alle meine Belange eintreten kann. Das bedeutet, eine Spannung zu leben. Dann spricht man auch über sich, man erbittet Hilfe in bestimmten Fragen und bezieht auch die eigene Zukunft ein.
Einmal habe ich ein 14-jähriges Mädchen nach Bologna mitgenommen, die zum Zahnarzt musste. Da ich zu einer Versammlung fuhr, wusste ich nicht, wo ich das Mädchen absetzen sollte. Schließlich brachte ich sie zu den Studenten der Bewegung. Während der Versammlung fragte ich mich dann aber immer wieder: Was hast du gemacht?! Die Studenten sind viel älter, sie schreiben und sind beschäftigt. Wer weiß, was das Mädchen jetzt dort macht? Sie wird mich hassen. Als die Versammlung zu Ende war, fragte ich sie: «Und, wie ist es denn gelaufen?» Sie antwortete: «Enzo, eine Sache hat mich besonders beeindruckt, weil ich sie noch nie gesehen habe.» Ich fragte sie: «Was denn?» Und sie antwortete: «Wie sie einander Freunde sind. Sie haben sich die unterschiedlichsten Sachen erzählten.» Das Mädchen besuchte ein humanistisches Gymnasium und war in ihrer Klasse diese Art von Beziehungen nicht gewohnt. Sie fuhr fort: «Dann halfen sie sich untereinander, wenn jemand Geld brauchte. Sie erzählten sich verrückte Dinge und waren auch zu mir sehr nett.» Sie war beeindruckt von dieser Art von Freundschaft und hat nicht einmal den Altersunterschied bemerkt. Denn wir alle haben ein wirkliches Bedürfnis, und das sind wahre Beziehungen.
Sagt mir, wenn ich falsch liege, aber wir haben alle eines nötig: Beziehungen, auf die man schauen kann, denen man vertrauen kann. Nicht so sehr, weil du weißt, dass sie immer perfekt sein werden, sondern weil du weißt, dass es dazwischen ein so mächtiges Ideal gibt, dass auch unsere Fehler uns nicht aufhalten können. Vielmehr können wir immer wieder neu beginnen und keiner erpresst den anderen.