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Das Leben hingeben
Das Leben zu geben, heißt meine Freiheit einzusetzen
Adolf Diefenhardt

Die Erfahrung als Arzt in Afrika. Die Erfahrung der Fraternität und die Rückkehr nach Deutschland. Die Treue zur Wirklichkeit wird zur Entdeckung des Geschenks der Freiheit

Als Kind wollte ich immer schon Medizin studieren. Meine Schwester war geistig und körperlich behindert und mein Wunsch war es, sie gesund zu machen. Die augenscheinliche Begrenzung für meine Schwester, so am Leben teilzunehmen, wie ich es für sie als Mensch richtig und gerecht empfand, ließ in mir den Wunsch entstehen, dieses Problem zu lösen, zumindest etwas zum Besseren zu bewegen.
Ich habe tatsächlich Medizin studiert. Während meines Studiums in Freiburg traf ich Studenten, deren Art zusammen zu leben und befreundet zu sein, faszinierend war. Einer von ihnen, Guido Bonoldi, schlug mir vor, seinen Freund, der Arzt in Afrika war, zu besuchen. Es war schon immer mein Wunsch gewesen, in einem Land der «Dritten Welt» zu arbeiten und dort mit anzupacken. Ich dachte dabei an Lateinamerika, weil mein Vater dort viele Jahre gelebt hatte. Durch diesen Freund kam ich statt dessen nach Kitgum in Nord-Uganda, wo einige Familien und Ärzte in der Mission lebten. Es beeindruckte mich tief zu erleben, wie sie untereinander alles im Leben teilten, wie ihre afrikanischen Freunde diese Freundschaft aufnahmen und erwiderten und wie dadurch deutlich wurde, dass eine solche Art des Zusammenlebens auch ihrem tiefsten Bedürfnis entsprach.
Nachdem ich mein Studium abgeschlossen und ein paar Jahre als Arzt gearbeitet hatte, ging ich zurück nach Kitgum, um diese Erfahrung zu vertiefen und benachteiligten Mitmenschen durch meine medizinische Arbeit zu helfen.
Wieder wurde der Abstand zwischen dem Wunsch nach Glück und Gesundheit dieser Menschen und der offensichtlich meist unverschuldeten Armut und Krankheit sehr deutlich. Die Erfüllung des Wunsches nach mehr Gerechtigkeit und weniger «Grenze» schien in weiter Ferne.
Auf diese Situation habe ich in zweierlei Weise reagiert:
Die erste Haltung beschränkt sich darauf, die Wirklichkeit einfach so hinzunehmen, wie sie ist, mit ihrer Unerklärlichkeit und ihren Launen, weil man sowieso nichts ändern kann. Am Ende ist jeder nur ein Opfer (der Umweltbedingungen), im besten Fall ein Zuschauer, der jede neue Schwierigkeit nur mit Fatalismus und Unterwerfung registriert.
Im zweiten Fall fokussiert sich alles auf die Lösung von Problemen. Alles Handeln wird von der technischen Frage bestimmt, wie ich möglichst intelligent mit der Lage umgehe. Das kann dann so weit gehen, dass ich die Wirklichkeit anders definiere, nur um eine «akzeptable» Lösung zu erreichen. Dann bleibt nur noch die Frage, wie ich meine Projekte und meine Arbeit finanziere. Während meiner Tätigkeit als Koordinator für Gesundheitsprojekte in verschiedenen Ländern Afrikas bin ich oft Zeuge dieser Haltung geworden.
Im ersten Fall führt die Akzeptanz der Wirklichkeit zur Passivität und zur Verzweiflung. Im zweiten Fall ist die eigene Freiheit versucht, ein (perfektes) System vorzuschlagen, das das Problem löst oder zu lösen scheint. Die Erfahrung aber zeigt, dass dieser Wunsch nach Erfolg nichts Perfektes schafft und dass wir unfähig sind, kohärent zu sein.
Der gemeinsame Nenner beider Haltungen ist, dass die Realität als «unheilbarer Patient» wahrgenommen wird. Entweder entscheide ich, dass es keine Antwort auf die Frage nach meinem Glück gibt, oder ich muss sie selbst schaffen und beides ist letztlich eine Unwahrheit, bestenfalls eine instinktive – menschlich verständliche – Notlösung.
Mir wurde bewusst, dass mir das nicht reichte, dass das nicht die Antwort war, die ich gesucht hatte. Was hatten mein Wunsch, die Realität und Christus miteinander zu tun?
Nach sechs Jahren als Missionsarzt in Kitgum kehrte ich mit meiner Familie nach Deutschland zurück, um meine Facharztausbildung zu absolvieren. Außerdem war die politische Situation in Kitgum so schwierig geworden, dass ein normales Leben mit der Familie nicht mehr möglich war. Im letzten Jahr wurde Veronica, unser viertes Kind geboren. Wir wären niemals von Kitgum fortgegangen und unser Abschiedschmerz war groß. Die Realität aber zeigte uns einen anderen Weg. Nach einem Jahr in Deutschland öffnete sich mir die Möglichkeit, nach Kampala in Uganda zurückzukehren, diesmal als Regionalkoordinator für medizinische Projekte der Malteser in Afrika. Es war sehr schön, durch medizinische Projekte in vielen schwierigen Ländern wie Kongo, Uganda, Sudan, Angola und so weiter einen Gestus der Menschlichkeit, der Hilfe und der Zuneigung zum Ausdruck bringen zu können. Nach weiteren zwei Jahren zogen wir nach Nairobi, da das Büro der Malteser nach Kenia verlagert wurde. Auch dieses Mal war der Abschiedsschmerz groß, aber Christus hat uns immer begleitet durch die konkrete Freundschaft in der Fraternität und durch die Verantwortlichen der Bewegung.
In Kenia schlossen sich unserer Fraternität mit Elena, Stefano und Leo eine Gruppe von kenianischen Familien an, die für sich selbst einen Ort der Freundschaft und des Teilens des täglichen Lebens suchten. Normalerweise spricht man in Kenia nicht über die private Situation. Das Reden über die Erziehung der Kinder, die Rolle der Frau und die Beziehung zwischen Mann und Frau sind tabu.
Zusammen mit Romana, Joaquim, Peter, Judith, Henry, Jane und Consolata sprachen und beurteilten wir oft unsere Haltung zur Arbeit, die Art und Weise, unsere Kinder zu erziehen, die Würde unserer Rolle als Eltern und die Mühe, die in vielen Momenten des Alltags bleibt.
Diese Fraternität hat mir geholfen, mich mehr für alle Aspekte meines Lebens zu interessieren. Auch die kleinsten Entscheidungen und Dinge wurden wichtig, wenn sie so geteilt wurden. Ein Ausgangspunkt, etwas Großartiges im Alltag zu entdecken – das war es, was ich mir eigentlich immer schon gewünscht hatte. Wie ein Weg, der von mir ausgeht und der mich dann über meine Vorstellungen und Ideen hinausführt.
Jetzt in Deutschland zurückgekehrt, zwingt mich die Wirklichkeit, das komplexe Leben hier anzunehmen. In der Arbeit gibt es viele unerwartete Situationen, in denen ich es nicht allen recht machen kann. Ich arbeite weiterhin im medizinischen Bereich, vor allem in Lepra-, Tuberkulose- und AIDS-Projekten in mehr als 35 Ländern. Unsere Kinder reagieren nicht so wie erwartet, das Leben ist eine dauernde Herausforderung – es gibt immer etwas, das fehlt.
Zum Glück habe ich auch hier Freunde, die mir helfen, aufmerksam zu sein, oder besser, mich darauf einzulassen, was Er mir jetzt schon schenkt. Ich lerne durch diese Freundschaft eine menschliche Aufmerksamkeit: Diese Aufmerksamkeit ist mehr als der Vorschlag einer besseren oder schlaueren Technik, um die täglichen Probleme zu lösen oder ihnen aus dem Weg zu gehen. Der Unterschied liegt darin, dass diese Aufmerksamkeit sich auf mich und meine Bestimmung bezieht.
Die einzelnen Wünsche und das tägliche Handeln sind deshalb interessant, weil sie etwas mit meiner Bestimmung zu tun haben, die mich begleitet. Alles und alle Aspekte des Lebens mit der Bitte um diese Aufmerksamkeit zu verbinden, machen das Leben menschlicher. Es ist eine Frage der menschlichen Freiheit, der Arbeit an meinem Leben, ob ich mich darauf einlasse.
Das kann ich deshalb so sagen, weil ich festgestellt habe, dass mir dies mehr entspricht und dieser Einsatz der Freiheit alles interessanter macht. Ich habe dieses Interesse nicht immer und erwarte keine Perfektion von mir. Aber wenn ich mich dem Urteil meiner Freunde in der Fraternität öffne, mich auf diesen Blick einlasse, dann werde ich freier und froher.
Die Wirklichkeit ist nicht mehr ein Problem, das ich vergessen, hinnehmen oder überwinden muss.
Mein Leben für einen Anderen zu geben, heißt für mich konkret dies: Christus in seiner konkreten Begleitung in der Welt, der Fraternität, das Teuerste zu geben, was ich habe: mich zu öffnen und meine Freiheit einzusetzen. Das heißt, darum zu bitten und zu flehen, um zu verstehen, was Er von mir in diesem Moment will.
Die eigene Freiheit für Seinen Plan zur Verfügung zu stellen, Ihm zu erlauben, in alle Bereiche des Lebens einzudringen, bedeutet meine Ideen bezüglich der Arbeit, der Kindererziehung, der Freizeit von dieser Begleitung beurteilen zu lassen.
Auf diese Weise wird mein Vertrauen, der Wunsch meiner Freundschaft und mein Glaube an Den konkret, der allein die Welt ändern kann. Nur so beginne ich wirklich, etwas zu verändern, bewege ich wirklich etwas zum Besseren, weil Er mich innerhalb dieser Begleitung verändert. - Das Ergebnis, mehr Gerechtigkeit zu schaffen, bleibt weiterhin mein Wunsch, aber er bestimmt mich nicht. Was mich wirklich interessiert, ist, immer fähiger zu werden, meine Freiheit einzusetzen, um eine größere Freiheit und Schönheit zu finden.
Die Begleitung der Fraternität bedeutet für mich, einen Ort zu haben, an dem meine Zuneigung zu Christus wachsen kann. Nicht nur als Hinweis auf Ihn, sondern als Erfahrung, dass Er dort greifbar wird, da ist. Dies ist weder ein Traum noch eine Utopie, sondern ein Geheimnis, das in diesem Leben bereits seinen Anfang nimmt.