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Kultur - Sartre
Der Mensch nach Sartre und die unnütze Leidenschaft


Jean-Paul Sartre vertrat einen aufklärerischen Kommunismus und engagierte sich gegen die französische Kolonialpolitik. Zugleich beschrieb er das Gefühl des Abstands zwischen sich und der Wirklichkeit als Ekel und negierte den Sinn der Wirklichkeit. Anmerku ngen zum hundertsten Geburtstag des französischen Philosophen und Schriftstellers

"Durchleuchtend" - dieses Wort wird oft mit den Vorlesungen in Verbindung gebracht, die der verstorbene Professor Bausola über Sartre gehalten hat. Bausola wurde später Rektor der Katholischen Universität Mailand und war gewiss ein Mann, der mehr gegeben als genommen hat.
Jean-Paul Sartre, 1905 in Paris geboren, erhielt hingegen Ehrungen, Geld und Preise und entwickelte sich schließlich zum Prototyp des modernen Intellektuellen. Wie Heidegger, Merleau-Ponty, Hannah Arendt und Edith Stein ging auch er durch die Schule des Begründers der Phänomenologie, Edmund Husserl. Er war ein erfolgreicher Schriftsteller, Dramatiker, Verfasser von Streitschriften. Im Laufe seines Lebens veränderte sich sein Denken hin zum Marxismus.
Als Gestalt ist er aber vor allem bedeutsam, weil er eben den Typus, das Modell des engagierten Intellektuellen darstellt, mehr noch als wegen der Bedeutung seines philosophischen Denkens und seiner literarischen Werke. Damit ist natürlich sein Engagement für die Linke gemeint, wobei er sich immer weiter nach Links orientierte. Dieses Modell entwickelte mit der Zeit eine Ausschließlichkeit. Er trat der Kommunistischen Partei bei und trat dann wieder aus. Er erhielt den Nobelpreis und lehnte ihn ab. Und er kämpfte für verschiedene gesellschaftliche Anliegen, darunter auch das Ende des französischen Kolonialismus in Algerien.
Am Ende der 50er Jahre und zu Beginn der 60er erhob sich die französische Kolonie Algerien gegen ihr Mutterland und Sartre erklärte sich solidarisch mit den Aufständischen ganz nach marxistischem Vorbild. Es kam zu unzähligen Toten. Die Propaganda im Sinne Satres brandmarkte auch die in Algerien wohnenden Franzosen als Invasoren. Es waren oft einfache Menschen, deren einziger Fehler es war, dass die Regierung sie eingeladen hatte, sich dort niederzulassen oder dass sie dort geboren waren.

Der Kommunismus nach Sartre
In diese Zeit fällt auch die endgültige Trennung zwischen Sartre und Camus. Letzterer stammte aus Mondovi in Algerien und seine Mutter lebte damals noch dort. Auch Camus wichtigste Romane Der Fremde und Die Pest spielen in Algerien. Camus erklärte damals, dass ihn keine Ideologie dieser Welt dazu bringen werde, sich gegen seine Mutter zu wenden. Diese Erklärung führte zur intellektuellen Ausgrenzung, er wurde aus dem Olymp der Kultur verstoßen.
Das Denkmodell von Sartre legte sich also über Frankreich und Europa. Dabei unterschied es sich aber vom Modell des italienischen Kommunisten Gramsci. Dieser spricht von der Kommunistischen Partei in einer Form, die heute nur schwer verständlich ist: Das Wort "Partei" hatte für Gramsci einen affektiven Wert im Sinne eines Zusammenschlusses des Volkes. Er war ein Sohn des bäuerlichen Italiens und verstand die Beziehung zwischen den Intellektuellen und der Partei als eine Beziehung lebendiger Zugehörigkeit.
Wir müssen uns aber bewusst sein, dass die volkstümlichen Werte des Kommunismus jener Jahr Werte sind, die ursprünglich aus einer anderen Erfahrung des Volkes stammten, allen voran aus dem Christentum. Und die Idee des Volkes gehörte ursprünglich nicht dem Kommunismus, der als eine Bewegung der Intellektuellen entstand und nicht des Volkes. Der wesentliche Begriff für ihn ist, wenn überhaupt, der des "Proletariats". Er entstammt aber nicht einer unverwechselbaren Erfahrung, sondern wird nur im Rahmen einer genau strukturierten Gesellschaftstheorie verständlich. In diesem Sinne ist Sartre eher ein Sohn der Aufklärung als ein Verwandter Gramscis. Er ist ein intellektueller Führer, ein Intellektueller, der die Richtung vorgibt. Da er aber aus keinem Volk hervorging, war er auch unfähig, ein eigenes hervorzubringen. Er vereinte bestenfalls Leute, die ebenso dachten wie er. Es waren kleine Kopien seiner selbst, die zufällig durch ein politisches Bindemittel zusammengehalten wurden, aber im Letzten alleine blieben.

Ein einsamer Mensch
Noch bevor Sartre dem Kommunismus beitrat, schlug er in der existenzialistischen Phase eine Vision des Menschen vor, wonach dieser vollkommen und unheilbar einsam ist. Er tat dies in einigen erzählerischen Werken wie Der Ekel oder die Erzählungssammlung Die Mauer, sowie in einigen Theaterstücken, unter denen das wohl bekannteste und auch schönste die Geschlossene Gesellschaft ist sowie in seinem bekannten philosophischen Werk Das Sein und das Nichts.
In Der Ekel wird dieses Menschenbild wohl am deutlichsten. Der Protagonist, ein Gelehrter namens Antoine Roquentin, versucht einen Geschichtsessay zu vollenden. Sein Charakter hat ihn bereits in die Isolation geführt. Aber während er Leib und Seele der Arbeit hingibt, tauchen die Symptome einer eigenartigen Krankheit auf: Eben der Ekel oder das Empfinden einer Trennung zwischen sich und allen übrigen Dingen, die unabhängig von uns existieren und die völlig ohne Sinn sind.

Das Bewusstsein der Wirklichkeit
Der Sinn liegt demnach ganz in unserem Bewusstsein. Aber unser Bewusstsein, so erläutert Sartre in Das Sein und das Nichts, entleert und vernichtet die Wirklichkeit. Das Bewusstsein behauptet sich selbst in der Negation der Wirklichkeit. Und in dieser Negation stellt sich die Wirklichkeit dem Bewusstsein vor. Wir kennen die Wirklichkeit der Dinge nicht, sondern nur ihre reine Kontingenz. Das Bewusstsein ist also das Überflüssigste, was es gibt. Was bleibt, ist das Misstrauen, seine ursprüngliche Haltung gegenüber allem, was anders ist. So werden die anderen "zur Hölle", wie es in Geschlossene Gesellschaft heißt. In einer der Erzählungen aus Die Mauer geht wiederum ein Mensch mit einer Pistole auf die Straße, um zufällig Menschen zu töten.
Der Mensch ist eine "unnütze Leidenschaft", heißt es in den Schlussworten von Das Sein und das Nichts.
Der Ekel stammt aus dem Jahr 1938. Unmittelbar darauf folgt Die Mauer, während Sartre Das Sein und das Nichts 1943 veröffentlicht. In einem Interview aus dem Jahr 1964, zu jener Zeit war er ganz Marxist, erklärte er dann, dass Der Ekel ein völlig sinnloses Buch sei, solange Kinder an Hunger stürben. Es seien nur zweideutige Worte, die nicht befriedigten. Doch in Wirklichkeit ist Sartre nie aus dem Ekel herausgekommen. Und wahrscheinlich wird es immer Kinder geben, die hungern, und damit wir Der Ekel stets sinnlos sein. Doch scheint diese Aussage nicht einmal mehr dem Mund Roquentins zu entstammen. Im Gegenteil es scheint eine Formel zu sein, um die Vergangenheit in das Nichts zurückzuweisen, auch wenn es sich um ein Werk handelt, das er vor 26 Jahren schrieb. Wir sollten Dichtern misstrauen, die ihre eigenen Werke verleugnen, denn das ist ein Zeichen der Depression.

Im Flugzeug mit Don Giussani
Man kann in der Tat mit den entferntesten Dingen solidarisch aber gleichzeitig unfähig sein, die Bruderschaft zu leben. Denn der Antrieb, der die Bruderschaft hervorbringt, ist keine intellektuelle Verdemütigung, sondern ein Leben, das bereits hier und jetzt einen Sinn hat, auch wenn weiterhin in der Welt Menschen an Hunger streben und Kinder ungerecht leiden.
Don Giussani hat einmal von einer persönlichen Begegnung mit Sartre berichtet. Er befand sich auf der Reise nach Brasilien, und gerade in jenen Tage war auch Jean-Paul Sartre dort zu Besuch. Die Zeitungen waren voll von seinen hymnischen Worten auf die Menschheit. Beim Rückflug nahm Don Giussani neben einem Herrn Platz, der sehr aufgewühlt schien. Er war ständig unruhig und erhob sich schließlich, um die Stewardess um einen anderen Sitzplatz zu bitten. Schließlich teilte jemand Giussani mit, was der Grund dieser inneren Unruhe des Fluggastes sei: Der Herr halte es nicht aus, neben einem Priester zu sitzen, so wurde ihm gesagt. Und jener Mensch war niemand anderes als Jean-Paul Sartre. Dennoch lobten ihn auch die Zeitungen an Bord für seine Worte über die Menschheit.
Es war eine abstrakte Leidenschaft für die Menschheit und zugleich ein konkreter Hass gegenüber dem größten Ausdruck dieser Wirklichkeit: dem Volk. Der Priester ist Zeichen eines Volkes, eines real, physisch anwesenden Volkes: Ein Volk, das der Intellektuelle zwangsläufig hassen muss, wenn er die Menschheit nach seiner eigenen Idee errichten will.

1905 21. Juni: Jean-Paul Charles Aymard Sartre wird in Paris als Sohn eines Marineoffiziers geboren. Er wächst in La Rochelle auf, nachdem seine deutsch-elsässische Mutter, eine Nichte Albert Schweitzers, nach dem frühen Tod des Vaters erneut geheiratet hat.
1924-1928 Nach dem Besuch des Pariser Lyceum Henri IV studiert Sartre Psychologie, Philosophie und Soziologie an der École Normale Supérieure in Paris.
1929 Agrégation (Lehrerlaubnis für die Hochschule) in Philosophie.
Beginn der Freundschaft und Lebensgemeinschaft mit Simone de Beauvoir.
1931-1934 Gymnasiallehrer in Le Havre.
1934 Stipendiat am Institut Français in Berlin, wo er sich vor allem mit der Philosophie Nietzsches, Husserls und Heideggers beschäftigt.
1934-1944 Philosophielehrer in Le Havre und in Paris.
1938 Veröffentlichung des Romans Der Ekel, in dem er sich mit der Freiheit und der Einsamkeit des Individuums auseinandersetzt.
1939- 1941 Kriegsdienst in einer Sanitätsgruppe, Gefangennahme durch die Deutsche Wehrmacht.
1941 Veröffentlichung seines ersten philosophischen Hauptwerkes Das Sein und das Nichts.
1942-1944 Aktiv in der französischen Résistance gegen die deutsche Besatzung.
1942 Uraufführung des Bühnenstückes Die Fliegen im besetzten Paris. Der darin zum Ausdruck gebrachte Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht wird geschickt durch das antike Gewand verschleiert.
1943 Mitglied des Comité National des Ecrivains (C.N.E.), das der Résistance nahesteht.
1944 Mitarbeiter der von Albert Camus gegründeten Zeitschrift Combat.
Ab 1945 Niederlassung in Paris als freier Schriftsteller.
Herausgeber der politisch-literarischen Zeitschrift Les Temps Modernes.
1948 Sartres erfolgreichstes Theaterstück Die schmutzigen Hände erscheint. Darin thematisiert er das Problem von Politik und Moral.
1952 Sartre wird Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs und akzeptiert öffentlich die "führende Rolle der Sowjetunion" in der Weltpolitik.
1956 Obwohl überzeugter Marxist, bezeichnet Sartre die blutige Unterdrückung des Ungarn-Aufstands als Verbrechen. Er tritt aus der Kommunistischen Partei aus.
1959 Veröffentlichung seines zweiten philosophischen Hauptwerkes Kritik der dialektischen Vernunft.
1965 Deutsche Veröffentlichung des ersten Teils seiner Memoiren unter dem Titel Die Wörter.
Auszeichnung mit dem Nobelpreis für Literatur. Sartre lehnt den Preis aus "persönlichen und objektiven" Gründen ab, das Nobelkomitee hingegen bezeichnet die Entscheidung für Sartre als unwiderruflich.
1966-67 Ablehnung mehrerer Vortragseinladungen amerikanischer Universitäten aus Protest gegen das amerikanische Vorgehen in Vietnam.
Teilnahme an mehreren Konferenzen in Ägypten über den Nahostkonflikt.
1968 Während der französischen "Mairevolution" unterstützt er kurze Zeit einige linksradikale, außerparlamentarische Gruppierungen. Kritik am Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei.
1973-1974 Leitung der linken Tageszeitung Libération.
1974 Besuch bei Andreas Baader im Gefängnis Stuttgart-Stammheim, dem er zugesteht, dass er "aufrichtig versucht habe, Prinzipien in die Tat umzusetzen".
1976 Auszeichnung mit der Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität Jerusalem.
1980 15. April: Jean-Paul Sartre stirbt in Paris.

Der Ekel (1938), Roman. Die Mauer (1939), Erzählungen. Das Imaginäre (1940), philosophische Schrift. Die Fliegen (1943), Drama. Das Sein und das Nichts (1943), philosophische Schrift. Geschlossene Gesellschaft (1944), Drama. Tote ohne Begräbnis (1946), Drama. Ist der Existeztialismus ein Humanismus? (1946), philosophischer Vortrag. Baudelaire (1947), literaturkritische Schrift.
Das Spiel ist aus (1947), Drama. Was ist Literatur? (1948), literaturkritische Schrift. Die schmutzigen Hände (1948), Drama. Der Teufel und der liebe Gott (1951), Drama. Kritik der dialektischen Vernunft (1960), philosophische Schrift. Die Wörter (1963), Erinnerungen. Bariona oder Der Sohn des Donners (1970), Drama. Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821-1857 (1971-1972), philosophische Schrift. Entwürfe für eine Moralphilosophie (posthum, 1983), philosophische Schrift. Tagebücher (posthum, 1983). Königin Albemarle oder Der letzte Tourist (posthum, 1994), Reiseaufzeichnungen.