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Thema - Wunsch
Die Diktatur der Wünsche und die Erfahrung der Wahrheit
Monsignore Lorenzo Albacete und Joseph Weiler

Ein Gespräch zwischen dem katholischen Intellektuellen Lorenzo Albacete und dem US-amerikanischen Verfassungsrechtler Joseph Weiler über Relativismus und Skeptizismus, Glaube und Toleranz in Amerika und Europa. Ein Weg aus der Sklaverei zur Befreiung des menschlichen Herzens

Lorenzo Albacete: Als ich für den US-Nachrichtensender CNN die Ereignisse um den Tod Johannes Pauls II. und die Wahl Benedikts XVI. kommentierte, war einer der Punkte, die das größte Interesse erregten, die Warnung Kardinal Ratzingers vor der «Diktatur des Relativismus» während seiner Predigt unmittelbar vor dem Konklave. Während die Aussage in Europa eine große Debatte auslöste, die noch anhält, scheint mir die Reaktion in den Vereinigten Staaten anders zu sein, und ich würde gern verstehen warum. Im Sinne der Postmoderne akzeptiert man in Europa, wenn die Kirche am gesellschaftlichen Leben als Förderer abstrakter Werte teilnimmt, als Quelle der individuellen Inspiration, aber nicht als Quelle der Wahrheit. Der Anspruch, die Wahrheit zu kennen, wird als undemokratisch und antipluralistisch angesehen.
Im Gegensatz dazu habe ich das Gefühl, dass die Debatte in den Vereinigten Staaten noch nicht so weit geht. Mir scheint, der Begriff «Relativismus» wird nur im Zusammenhang mit konkreten moralischen Urteilen verwendet sowie bei der Frage nach der menschlichen Fähigkeit an sich, die Wahrheit zu erkennen. Sehen Sie auch diesen Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und Europa und wenn ja, wo sehen Sie die Gründe hierfür?

Joseph Weiler: Ich glaube, einer der Gründe für diesen Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und Europa liegt in den sehr unterschiedlichen Anschauungen der amerikanischen Intellektuellen und der Medien-Eliten einerseits (die denen ihrer europäischen Kollegen sehr ähnlich sind) und eines großen Teils der Bevölkerung andererseits, bei dem sich deutlich weniger moralischer Relativismus und Skeptizismus gegenüber unserer Erkenntnisfähigkeit finden. Zudem ist die amerikanische Gesellschaft weit weniger verweltlicht. In gewisser Hinsicht entspricht dieser Unterschied dem Unterschied zwischen Religiosität und Weltlichkeit. Die Intellektuellen an den Schalthebeln der Medien neigen zur Weltlichkeit und das amerikanische Hinterland – das 15 Kilometer außerhalb von New York City beginnt! –, ist größtenteils sehr viel religiöser als die Mehrheit in Westeuropa.

Albacete: Warum hat sich, geschichtlich gesehen, in den Vereinigten Staaten die Religiosität länger gegen die Weltlichkeit behauptet als in Europa?

Weiler: Wenn wir in den Vereinigten Staaten und in Europa von Religiosität sprechen meinen wir das Christentum. Ich bin kein Christ und werde deshalb versuchen, mich sehr vorsichtig auszudrücken. Meiner Meinung nach liegt die Erklärung in einer Kombination von zwei Faktoren. Der erste besteht darin, dass Europa und Amerika den Zweiten Weltkrieg auf sehr verschiedene Weise erlebt haben. Die Vereinigten Staaten haben nicht die Verwüstungen, den Holocaust, die Zerstörung erlebt. Europa war deshalb im Gegensatz zu Amerika vor eine theologische Herausforderung gestellt, nämlich vor die Frage «Wo war Gott?». Jetzt kommen wir an einen heiklen Punkt, bei dem ich sehr vorsichtig sein muss. In meinem Buch Ein christliches Europa habe ich diskret auf die Tatsache angespielt, dass die Kirche, insbesondere die katholische Kirche, den Herausforderungen der 50er und 60er Jahre absolut nicht gewachsen war. Auf die Fragen der Welt, auf die geistige Krise Europas hat sie keine geistige Antwort gegeben. Vielmehr war sie, so scheint mir, vor allem von der politischen Botschaft besessen «wählt nicht kommunistisch». Die Kirche gibt ihr Bestes als warnende Prophetin, wenn sie sich der Gesellschaft, dem Establishment widersetzt, wie Zion, wie der Prophet Amos. Deshalb hat die Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg in den Ländern Osteuropas, wie etwa in Polen, großen Erfolg gehabt: Dort war sie warnende Prophetin. Die Kirche Westeuropas hat auf die geistigen Bedürfnisse der Menschen keine Antwort gegeben. Als Ergebnis sind ihr praktisch zwei Generationen verloren gegangen. Die Menschen, die auf eine geistige Botschaft warteten, haben sich der einzigen geistigen Strömung zugewandt, die sie vorgefunden haben, der Gegenkultur der politischen Linken. Die Kirche schien die «für den Sonntag zuständige Sektion» der christdemokratischen Parteien zu sein. In den Vereinigten Staaten ist Vergleichbares nicht geschehen.

Albacete: In den Vereinigten Staaten hatten die Protestanten einen größeren Einfluss und eine größere Verbreitung als die katholische Kirche. Diejenigen, die sich nicht der Welt der Intellektuellen, von der Sie eben sprachen, angepasst haben, scheinen auf die Menschen einen größeren Einfluss zu haben. Spielt das eine wichtige Rolle für die Erklärung der Unterschiede zwischen den Vereinigten Staaten und Europa?

Weiler: Wir sprechen von der religiösen Wirklichkeit in Amerika. Sie bietet kein homogenes Bild und der «Erfolg» einer Kirche wird nicht an der Zahl ihrer Angehörigen gemessen. Was vielmehr den Unterschied macht, ist die religiöse Praxis. Die wichtigsten der alten, traditionellen protestantischen Kirchen sind vom Niedergang bedroht, während die evangelikalen christlichen Kirchen blühen und Erfolg haben. Man sollte hinzufügen, dass laut Statistik in den Vereinigten Staaten die katholische Kirche am schnellsten wächst. Aber das ist eine Folge des Einwandererstroms aus den hispanischen Ländern. Was ist das Erfolgsgeheimnis der Evangelikalen und des hispanischen Teils der katholischen Kirche, also nicht des traditionellen irischen oder italienischen Katholizismus? Sie verstehen, was die traditionellen Kirchen anscheinend vergessen haben: Sie reduzieren Religiosität und Christentum nicht auf Moral. Für viele hieß Christ sein schlicht, ein guter Mensch sein, das Christentum beschränkte sich darauf, gute Werke zu unterstützen, den Bedürftigen zu helfen, Wohltätigkeit zu üben. Aber wir religiösen Menschen haben nicht das Monopol für Moral. Man kann sehr wohl Atheist und zugleich ein absolut ethischer und moralischer Mensch sein. Welches Merkmal der Religiosität hat aber kein weltliches Äquivalent? Es ist das Streben nach Heiligkeit. Erfolgreich sind jene Kirchen, die sagen: «Wir Menschen sind von Natur aus auf der Suche nach Heiligkeit». Es sind Kirchen, die nicht in Verlegenheit geraten, wenn es um die Mittel zur Heiligkeit geht, wie etwa um die Sakramente in der katholischen Kirche. Jedenfalls nicht die Kirchen, die deren Bedeutung herunterspielen und die Religion auf Moral reduzieren. Nicht dass die Religion ohne Moral auskäme, aber das ist nicht ihr einziger Aspekt. Schauen Sie die Evangelikalen an. Wenn die in die Kirche gehen, dann hören sie nicht nur eine Predigt über das, was sie tun und lassen sollen, sondern sie machen eine lebendige Erfahrung, in der sie sich Gott und dem Heiligen nahe fühlen können. In der katholischen Kirche haben die Erfolg, für die die Eucharistie Realität ist. Mit anderen Worten, es geht nicht nur darum, in die Kirche zu gehen und einen Priester anzuhören, der sagt: «Jesus verlangt von uns, menschlicher zu sein», sondern darum, die Eucharistie als eine wesentliche religiöse Erfahrung zu leben.

Albacete: Es geht also um eine Frage der Erfahrung? Ist in den Vereinigten Staaten Christ sein für viele doch mehr eine Erfahrung als ein Diskurs?

Weiler: Ja, und wenn die Kirchen sie nicht vermitteln, dann werden es die Menschen tun. Die Politiker verstehen das besser als die Elite der Intellektuellen und Medien. Sicher kann man an der Aufrichtigkeit vieler zweifeln, die anfangen in die Kirche zu gehen, wenn sie bei einer Wahl kandidieren wollen. Wenn Sie aber andererseits etwa den Kongress anschauen, dann scheint es mir da authentisch religiöse Persönlichkeiten zu geben und nicht nur solche, die Religion manipulieren. In Europa wird Religion als persönliche und private Angelegenheit angesehen und man findet deshalb nur sehr schwer führende Politiker, die ihre Religiosität offen leben. Ich bin verschiedenen europäischen Ministerpräsidenten begegnet und denke besonders an einen, der mir gesagt hat: «Ich habe Ihr Buch gelesen; ich bin froh, dass Sie es geschrieben haben und bin ganz Ihrer Meinung.» Ich habe ihm geantwortet: «Gut, wenn das so ist, Herr Ministerpräsident, warum haben Sie das nicht öffentlich gesagt?» Seine Antwort: «Das wäre für meine Partei inakzeptabel.» Zwar müssen wir ehrlicherweise sagen, dass es in den Vereinigten Staaten bei den politischen Eliten ein erhebliches Maß an Heuchelei gibt. Aber keiner muss auf Grund des politischen Klimas fürchten, sich offen zu seiner Religiosität zu bekennen.

Albacete: Ich glaube, die Heiligkeit und die Erfahrung, von denen Sie gesprochen haben, sind das Geheimnis hinter dem Problem der «Diktatur des Relativismus». Darüber würde ich gern anhand der Begriffe Sehnsucht und Verlangen sprechen, über die Erfahrung der Sehnsucht und die «Diktatur des Verlangens». «Sehnsucht» ist ein Wort, das die Amerikaner verstehen, ganz besonders die «Sehnsucht nach Glück», die unsere Unabhängigkeitserklärung erwähnt. Wie Sie schon sagten, strebt der Mensch von Natur aus nach Heiligkeit, mit anderen Worten, die wahre Erfüllung der Sehnsucht des menschlichen Herzens nach Glück findet man nur in einer Beziehung zu Gott. Für diese Erfüllung sind wir geschaffen, und all unser Sehnen strebt nur nach einem: nach dem Geheimnis, in dem wir das finden, wonach unser Herz sucht. Was aber geschieht, wenn diese Wahrheit verdunkelt wird? Der Versuch, das Verlangen zu befriedigen, wird etwas, das mir obliegt, wird ein ethisches Projekt und schließlich ein politisches Projekt. Die religiöse Suche nach Heiligkeit wird zu einem politischen Versuch, viele oft widersprüchliche Wünsche zu befriedigen. Da nicht alle Wünsche befriedigt werden können (außerhalb des Zustands der Heiligkeit ist das unmöglich), lässt die Sehnsucht nach und verstärken sich die verbleibenden Wünsche. Wir erleben dann das, was Heschel als «Tyrannei der Bedürfnisse» definiert hat, immer auf der Suche nach politischer Genugtuung: Einige besondere Wünsche verlangen den Status politischer Rechte. Was denken Sie darüber, besonders angesichts Ihrer Herkunft aus der jüdischen Tradition?