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Thema - Wunsch
Auf anderenfalls unzugänglichen Wegen - Die Abenteuer eines Statistikers
Paola Bergamini

Seine Laufbahn an der Universität begann mit Schwierigkeiten und Enttäuschungen. Doch durch die Begleitung einer Freundschaft überwand Giorgio Vittadini die Versuchung, alles aufzugeben

Wir treffen Giorgio Vittadini, oder Vitta, wie ihn seine Freunde nennen, in seinem Arbeitszimmer der «Stiftung Subsidiarität», der er vorsteht. Alle zwei Minuten klingelt sein Mobiltelefon; auf dem Tisch liegen Blätter, voll mit merkwürdigen Hieroglyphen. Es handelt sich um Aufzeichnungen zum Fach Statistik, das er an der Mailänder Universität «Bicocca» unterrichtet. Da er wenig Zeit hat, komme ich gleich zum Punkt:

Giorgio, du hast mir oft gesagt, dass du ein verhinderter Geisteswissenschaftler bist, und die Geschichte deine eigentliche Leidenschaft war. Nun beschäftigst du dich mit Zahlen, Diagrammen und Tabellen. Wie hat das alles angefangen?
Im Jahre 1980 schloss ich das Studium in Wirtschaftswissenschaften ab, zusammen mit einem Freund, der dann seine Laufbahn im Ausland fortsetzte. Ich hatte dieselbe Möglichkeit, aber einige Freunde, die mir wichtig waren – möglicherweise, weil sie in mir eine gewisse Unsicherheit bemerkten – schlugen mir vor, an der Universität zu bleiben. Ich sagte Ja. Das war nicht einfach grundloser Gehorsam. Ich war überzeugt, dass es das Entscheidende im Leben ist, den Leuten zu vertrauen, die dir dabei helfen zu verstehen, was für dich gut ist. Allerdings gab es keine Möglichkeit an der Katholischen Universität in Mailand, wo ich studiert hatte, eine Anstellung an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät zu bekommen. An der staatlichen Universität hingegen gab es bei einem Professor für Statistik diese Möglichkeit. Also habe ich fast zufällig entschieden, mich mit diesem Thema zu beschäftigen, obwohl es nicht «mein» Thema war. Ich sage nur: Im Abitur hatte ich Mathematik nur als viertes Prüfungsfach gewählt! Ich wollte Geschichte studieren, aber meine Eltern waren dagegen. So habe ich Wirtschaftswissenschaften studiert. Das hatte mir ein Professor aus der Bewegung empfohlen. Er sagte zu mir: «Heutzutage wird Geschichte auch und vor allem mit der Wirtschaft geschrieben.»

Warum bist du diesem Vorschlag gefolgt?
Die Erfahrung an der Universität hatte mir gezeigt, dass das, was meinen Wünschen, meinen Bedürfnissen am ehesten entsprach, nicht so sehr die Idee einer bestimmten Position oder einer bestimmten Arbeit war, sondern einen Weg einzuschlagen, der mich in enger Verbindung zu der Erfahrung hielt, die in mir das Interesse und die Leidenschaft für alles entstehen ließ, auch für das Studium. Aber es war fast absurd, denn Geld interessierte mich nicht. Ich wollte keine Karriere machen, aber ich wollte eine Arbeit, die der menschlichen Erfahrung der Bewegung und der Kirche nützlich sein kann. Und deswegen zögerte ich nicht, Ja zu sagen. Damals wie heute gilt für mich die Feststellung des heiligen Thomas von Aquin, wonach man viel mehr von dem überzeugt wird, was man hört als von dem, was man sieht.

Und dann ging alles glatt, ohne Probleme ...
Überhaupt nicht. Ich stand sofort vor zwei Problemen. Erstens hatte ich im Wesentlichen nicht Statistik, sondern Wirtschaftswissenschaften studiert. Zweitens reicht es nicht, etwas zu bejahen, um es sich zu Eigen zu machen. So saß ich an der Fakultät für Politische Wissenschaften der staatlichen Universität, im Zentrum von Mailand, in einem düsteren Institut, wo man den ganzen Nachmittag verbringen musste. Ich, der lieber in der Straßenbahn studierte, weil ich mich bei Ruhe nicht konzentrieren kann! Ich war gezwungen, in einem Büro zu bleiben, mit englischen Büchern voller mathematischer Formeln. Ich fühlte mich wie in einem Elfenbeinturm eingesperrt, dessen Schlüssel man weggeworfen hatte. Es war auch eine finanziell schwierige Zeit. Erst drei Jahre später erhielt ich das erste Mal eine feste Anstellung an der Universität. Mir war zwar nicht klar, was ich machen sollte, aber mir wurde jeden Tag klarer, wie wenig Ahnung ich hatte. Gleich zu welchem Treffen oder zu welcher Veranstaltung ich ging, ich verstand nichts. Mir war nicht klar, was arbeiten wirklich bedeutete. Zudem war ich sehr unordentlich. Das Ganze hat mich viel Tränen und Schweiß gekostet. Ich wollte dieser Tätigkeit also so schnell wie möglich entfliehen.

Und was meinten die besagten Freunde dazu?
Ich erinnere mich, dass ich alles versuchte, um sie davon zu überzeugen, dass ich mich falsch entschieden hatte. Auch wenn ich Ja gesagt hatte, nach gerade mal zehn Tagen dachte ich schon, dass mein Ratgeber keine Ahnung hatte, oder besser gesagt, dass er abstrakt dachte. Ich war dort gegen meinen Willen, aber, weil die Menschen, mit denen ich es zu tun hatte, ziemlich beeindruckend waren, war es für mich schwierig auszusteigen. So blieb ich dort und bekam ständig einen drüber. Alle drei Monate ging ich zu meinen Freunden und versuchte, sie von ihrem Irrtum zu überzeugen. Nach drei Jahren, in denen ich ein paar absolut unbedeutende Artikelchen verfasst hatte, ergab sich die Möglichkeit einer Promotionsstelle. Die Zulassungsprüfung verlief gut, aber nicht sehr gut, was für mich schon ungewöhnlich war. Die folgenden Monate waren sehr hart, manche Versuche liefen überhaupt nicht. Während dessen reifte in mir immer mehr das Bewusstsein zu versagen und die Idee wegzugehen. Aber eines Tages, während eines entscheidenden Gesprächs mit der Person, die mir geraten hatte, an der Uni zu bleiben, wurde mir gesagt: «Du hast noch nicht wirklich akzeptiert, an der Universität zu sein. Du wirst dich den Schwierigkeiten nur dann stellen können, wenn du das aus Liebe für jemanden machst, für den sich das lohnt. Sag ja zu Maria, biete es der Gottesmutter an. Ich weiß nicht, ob du es schaffst. Aber wenn du es für sie tust, wird alles, was du tust, nicht verloren sein. Jeder Augenblick wird gerettet sein – für dich und die Welt.» In jenem Moment sagte ich das erste Mal wirklich Ja und hörte auf, der Wirklichkeit meine Methode entgegenzusetzen. Für lange Zeit änderten sich die Umstände nicht, aber ich begann mich zu verändern. In den schwierigen Momenten, in denen mir der Atem weg blieb, begann ich, die Mühen aufzuopfern, zu bitten, auch ohne zu fragen, wofür das gut sein sollte. Don Giussani hatte in den 70er Jahren wiederholt das Beispiel aus dem Mittelalter angeführt, als die Menschen umherzogen, um den barbarischen Gewalttaten zu entkommen. Alles begann sich zu ändern, als Mönche anfingen zu sagen: Wir gehen nicht weg, weil es Jesus gibt, wir vertrauen auf ihn. Heutzutage, fügte Don Giussani hinzu, ist es genauso: Christus wurde aus der Arbeitswelt ausgeschlossen, alle ziehen umher und suchen etwas, ohne Ziel und ohne Halt. Es tut Not, dass jemand beginnt, da zu bleiben, im Vertrauen auf Jesus. So fing ich an – im Kleinen – bei meiner Arbeit zu bleiben.

Was änderte sich konkret?
Die erste Veränderung war ein tiefes Gefühl der Nützlichkeit. Wie oft war ich bis dahin ungeduldig und unruhig bei einer Arbeit, die ganz von der Konkurrenz bestimmt war und wo ich bei Prüfungen ständig von Versagensangst überwältigt wurde. Von diesem Zeitpunkt an begann ich aber als Gegenbewegung in jedem wichtigen und dramatischen Moment zu wiederholen: Veni Sancte Spiritus, veni per Mariam. Dieser Test, diese Prüfung, dieser Artikel soll zu Deiner Ehre sein, für Dein Reich in der Welt. Herr, hilf mir, wenn Du kannst, lass es gut gehen, aber mach es so, wie Du willst, Hauptsache es nützt Deinem Reich, es nützt der Bewegung. Wer nun glaubt, dass diese Bitte abstrakt und pietistisch ist, ist selber abstrakt. Von wie vielen Wundern aus meinem Leben an der Universität kann ich erzählen. Wie viele Gott gewollte Begegnungen genau zum richtigen Zeitpunkt. Davon abgesehen blieb die Lage schwierig. Denn wenn man die Arbeit an der Universität ernst nimmt, gibt es keine andere, die einen so herausfordert. Die Prüfungen hören nie auf (ich habe acht Bewerbungsverfahren durchlaufen) und gleichzeitig unterrichtet man, schreibt Artikel, nimmt an Konferenzen teil, wird dauernd begutachtet. Darüber hinaus ist die Konkurrenz enorm, wenn man sich dafür entscheidet, nicht von den Zinsen zu leben und der Entwicklung der Forschung zu folgen. Auf jeden Fall habe ich weiter gemacht und das war das Erste, das mir erlaubt hat, diese Fachrichtung, die mir so fern zu liegen schien, als etwas Interessantes zu sehen. Jetzt mag ich Statistik. Ich sehe mich nicht als Nationalökonom, sondern als Methodologen. Ich beschäftige mich hauptsächlich mit multivariaten Variablen, und das Kernelement meiner Tätigkeit besteht darin, Beweise zu finden. Das gefällt mir sehr, aber das ist eine Entsprechung, die es am Anfang nicht gab. Das Erste, das eine interessante Begegnung in dir hervorruft, ist die Wahrnehmung dessen, was dir entspricht. Nicht weil es dir gefällt oder nicht gefällt, sondern weil es dir zeigt, dass du nichts verlierst. Aber ich wiederhole: Um zu entdecken, was deinem Innern wirklich entspricht, ist jemand nötig, der dir hilft, das zu verstehen. Das, was losgehen muss, ist die Freiheit, das heißt Ja zu einem Umstand zu sagen, indem ich mich selbst einbringe. Das ist das Abenteuer. Irgendwann habe ich gesagt: «Ich bin dabei». Und hier möchte ich hervorheben, was vielleicht eine Konstante in meinem Leben ist: die Wichtigkeit der Begegnung mit guten Lehrern. Noch wichtiger ist aber die Notwendigkeit, offen und konkret zu sein, denn das ist es, was wichtige Begegnungen ermöglicht. So kann man lernen, auch wenn man keine guten Lehrer hat.

Was würdest du einem jungen Menschen raten, der in die Arbeitswelt eintritt und sich wie du seinerzeit damit auseinander setzen muss?
Ich treffe ständig Leute, vor allem junge Leute, die von unmöglichen Arbeitsbedingungen erzählen. Sie beschweren sich und glauben, dass es unmöglich ist voranzukommen, sich zu verbessern, und sie schieben alles Schlechte den äußeren Umständen zu. Deswegen scheint die Bitte, die Erfahrung des Glaubens auf die Arbeit keinen Einfluss zu haben, vor allem nicht auf die Veränderung der Bedingungen. Demgegenüber muss ich bezeugen, dass die Bitte an Gott am Anfang auch meines beruflichen Vorankommens stand. In mir ist im Verlauf der Jahre ein tiefer Sinn für die Positivität der Wirklichkeit gewachsen. Statt über die ganzen Fehlschläge zu klagen oder an ihnen zu verzweifeln, habe ich gelernt, mich zu fragen, was ich lernen muss, um voranzukommen. Die Offenheit gegenüber der Wirklichkeit, die mir geschenkt wurde, hat mir Professoren näher kommen lassen, die mir am Anfang skeptisch gegenüberstanden. Ich bat sie, mit mir zusammenzuarbeiten, ihr Schüler zu werden, und das in einem Umfeld, wo oft die reine Überheblichkeit herrschst. Ich bemerke, dass die Frage nach dem Wozu der Dinge, die in der Bewegung entsteht, mich meinen Beobachtungen gegenüber aufmerksamer werden lässt. Ich werde fähiger, Zusammenhänge, Auswirkungen und Gesamtbilder zu sehen. Kollegen von mir, die viel mehr von der Materie wissen, sehen das oft nicht. Deswegen begeistere ich mich so sehr dafür, statistische Modelle zu entwickeln, die dazu dienen, die Wirklichkeit zu interpretieren. Gott bittet sogar darum, in den Passagen eines Satzes, den ich zu beweisen versuche, erkannt zu werden.

Nun ist ja alles gut gegangen. Ich frage aber mal als Advocatus Diaboli: Was wäre, wenn du verstanden hättest, dass dies nicht dein Weg ist?
Ich weiß nicht, wie ich spontan darauf reagiert hätte. Wahrscheinlich wäre ich nicht reif genug gewesen zu erkennen, dass es sich nicht um mein persönliches Versagen handelte, sondern um eine Aufforderung, neue Wege zu gehen. Ich bin sicher, dass jene menschliche Wirklichkeit – jene Freunde – mich wieder dazu gebracht hätten, mir meiner selbst bewusst zu werden. Das hätte mir gezeigt, dass mein Versagen ein Vorschlag war: Ich sollte einen anderen Weg gehen. Denn jene Wirklichkeit hat immer die Funktion gehabt, mir zu zeigen, was Gott von mir will – durch Zeichen, gute oder schlechte. Im Übrigen war jedoch meine ganze universitäre Laufbahn dadurch gekennzeichnet, dass es immer jemanden gab, der mich auf das Leben hin geöffnet hat. Der meine Intuition förderte, meine Bereitschaft, sich dem zuzuwenden, was an der Arbeit nutzlos, langweilig, eine reine Wiederholung zu sein schien. Der mich für Beziehungen aufmerksamer machte und mich fähiger werden ließ, Beziehungen einzugehen, die mir Wege erschlossen haben, die anderenfalls unzugänglich wären. Diese Hinweise waren für mich die Gestalt des Geheimnisses, das mir antwortete, indem es sich selbst mitteilte.