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CL - GS Exerzitien
Die siegreiche Anziehungskraft
Julián Carrón

Aufzeichnungen eines Beitrags von Don Julián Carrón bei den Kartagen der Schülergemeinschaft von CL, Gioventù Studentesca. (Rimini, 26. März 2005)

Ich bin sehr froh und dankbar für eure Einladung, weil sie mir ermöglicht, diesen Moment mit euch zusammen zu verbringen. Am meisten liegt mir daran, mit euch zusammen zu sein. Ich möchte, dass wir Weggefährten werden, dass ich euch als Weggefährten empfinden kann, und dass ihr, dass jeder einzelne von euch, mich als Weggefährten ansieht. Ein Gefährte auf dem Weg zum Glück, zu dieser Intensität des Lebens, für die wir geboren sind, zu dieser intensiven Schwingung des Menschlichen, für die es sich lohnt, zu leben.
Ich bin froh, hier zu sein, weil ihr mir die Möglichkeit gebt, euch zu erzählen, wo der Ursprung dieser Intensität liegt, wie meine Leidenschaft für Christus in der Beziehung zu Don Giussani gewachsen ist.
Meine Beziehung zu Don Giussani hat nur dieses Ziel gehabt. Und mich hat die Beziehung zu ihm nur wegen dieses Ziels interessiert: Wegen einer unaufhörlich größeren Intensität der Beziehung zu Christus. Sie brachte in alles eine Intensität hinein, die mir vorher unbekannt war. Zu Anfang, bevor ich Don Giussani kennen lernte, stieß ich auf einen seiner ersten Texte. Es war das erste Buch, das auf Spanisch veröffentlicht wurde, Spuren christlicher Erfahrung. Etwas, was mich sofort berührte, war sein Verständnis von Einsamkeit. Sie wurde von allen - auch von mir - als etwas Sentimentales aufgefasst. Stattdessen sagte Don Giussani, die Einsamkeit sei ein Synonym für das Unvermögen, also für die Tatsache, dass man nicht weiß, was man im Leben tun soll, wie man leben soll. Deshalb fühlt man sich allein, weil einen niemand begleitet. Man kann von vielen Personen umgeben sein, die vielleicht sympathisch sind, mit denen man sich wohl fühlt, die aber so verwirrt sind wie man selbst. Deshalb hebt das Zusammensein die Einsamkeit nicht auf. Denn es handelt sich bei der Einsamkeit um etwas anderes: Es ist Unvermögen. Um auf dieses Unvermögen zu antworten, braucht es einen anderen; jemanden der anders ist, sehr anders. Es bedarf eines anderen, der meinem Unvermögen etwas zu sagen hat. Deshalb begann ich, Don Giussani zu lieben, noch bevor ich ihn kannte. Das geschah von dem Zeitpunkt an, als ich anfing, mit seinem Vorschlag vertraut zu werden. Denn sein Vorschlag war wirklich eine Antwort auf mein Unvermögen zu leben.
Als erstes berührte mich die Art und Weise, wie er über die Erfahrung sprach. Erfahrung bestand nicht nur darin, etwas zu spüren, sondern ein Urteil zu haben. Erfahrung hieß, zu einem Urteil zu gelangen über das, was ich lebe. Und deshalb brauchte man ein Kriterium für dieses Urteil: Das Herz, das einzige, was in der Lage ist, wahrzunehmen, wenn etwas der eigenen Menschlichkeit entspricht.
Das ist eine absolute Neuheit, weil uns alle sagen: "Ihr seid doch kleine Lichter, ihr versteht nichts, aber komm, ich erklär es euch." Der einzige, der in der Lage ist, sich ihnen entgegenzustellen und "nein!" zu sagen, ist Don Giussani, der sagt: "Du! Du hast etwas in Dir, das Dir erlaubt, zu verstehen und alles zu beurteilen, und dieses ‚etwas' ist dein Herz".
Einer derartigen Wertschätzung meines Ichs war ich zuvor nie begegnet. Eine Wertschätzung meiner Person, eine derartige Ermutigung meiner Person hatte ich nie zuvor gefunden. Vor allem gab mir das ein Instrument an die Hand, um alles zu leben, um mich in das Leben hineinzustürzen und zu sehen, wann etwas den Bedürfnissen des Herzens entsprach und wann nicht. Ich sagte immer zu Don Giussani: "Ich werde Dir immer dankbar sein, weil ich, seitdem ich Dir begegnet bin, begonnen habe, einen menschlichen Weg zu gehen. Ich habe damit begonnen, das Leben als Abenteuer zu leben, das mich voranbringt, das es mir erlaubt, Schritte zu machen, mehr zu verstehen, zu sagen: ‚Das ist wahr, und das ist nicht wahr'." Ich begann, zu urteilen, und alles zu nutzen, auch - und dies ist unglaublich - die Fehler. Denn wenn man einen Fehler macht, ist es so als würde man sagen: "Dies ist es nicht, aber es gibt ja noch das!" Kurz, es ist wie ein Schritt. Deshalb habt keine Angst vor Fehlern, denn alles ist nützlich, wenn man gegenüber der Erfahrung des Herzens und dem Urteil, das daraus entspringt, aufrichtig ist. Das Wichtigste ist, keine Angst vor dem Fehler zu haben und nicht formal zu sein. Formal sein heißt, die eigene Menschlichkeit und das eigene Herz nicht ins Spiel zu bringen. Denn das Herz versteht mehr als alles andere, wann ihm etwas entspricht.
Von diesem Augenblick an habe ich keine Angst mehr vor meiner Menschlichkeit gehabt, auch nicht vor meinen Sehnsüchten und Bedürfnissen, weil meine Menschlichkeit mein Verbündeter war. Sie war nicht der Feind, der alles durcheinander brachte, sie war nicht etwas, das man zum Schweigen oder beständig in Ordnung bringen musste, sondern etwas, das mich antrieb. Dafür werde ich immer dankbar sein, denn ohne diese Menschlichkeit, ohne dass sich diese Menschlichkeit gezeigt hätte, ohne das Aufwallen dieser Menschlichkeit in mir hätte ich niemals ernsthaft sagen können, wer Christus ist. Denn nicht die Steine verstehen Christus, sondern nur das Herz, weil er sich unserem Ich als Antwort auf unser Herz vorschlägt, auf die Bedürfnisse unseres Herzens, unserer Menschlichkeit. Du verstehst Deine Freundin mehr, als dies die Steine könnten, denn die Schwingung, die ihre Gegenwart in dir hervorruft, fühlst du und erfährst du. Du nimmst sie erstaunt in dir wahr und deshalb liebst du sie, und deshalb wird dir bewusst, dass sie anders ist. Weil sie sie ist, und sie fühlt sich ergriffen angesichts dieser Schwingung deines Ichs, und auch sie erbebt. Es ist einzigartig. Ansonsten ist alles formal. Und so ist auch oftmals alles flach: Man sagt etwas, aber das Menschliche fehlt, es fehlt die Schwingung, man versteht nichts; nichts interessiert einen wirklich. Keiner Sache gelingt es, das Interesse zu wecken und die ganze Menschlichkeit mit sich zu reißen. Wenn es stattdessen so ist, wie ich es euch beschrieben habe, handelt es sich um das Aufwallen des ganzen Ichs. Von da an trat Christus in mein Leben, Christus, dessen Namen ich schon von Kindesbeinen an aussprach. Aber ich sprach den Namen wie etwas Äußerliches aus, etwas, das außerhalb meiner Menschlichkeit lag, in einem gewissen Sinn außerhalb der Wirklichkeit, außerhalb der Dinge, die ich lebte - außerhalb, wie daneben gestellt, wie angeklebt. Dieser Christus begann nun aber, in mein Leben einzutreten bis in mein Innerstes, bis ins Mark meines Ichs, meiner Menschlichkeit und meines Lebens.
Und es war wirklich Don Giussani, der mich in all dieses eingeführt hat. Damit vollzog sich die Wertschätzung des Fleisches, von der zuvor Don Giorgio sprach. Ich sah in der Gegenwart diesen Sieg meines Ichs, meiner Menschlichkeit. Und deshalb nahmen sie auch die anderen wahr, wie ich euch gleich erzählen werde. Warum geschah das? Wenn ich mich Don Giussani näherte … Ich erinnere mich an eine Gelegenheit, als ich zu ihm ging, weil er mir gewisse Probleme erzählen wollte: Ich fühlte mich angeschaut auf eine Art und Weise, die ich nicht mehr vergessen werden! Manchmal in den letzten Monaten, wenn ich mit ihm aß, sagte er zu mir: "Aber Du erinnerst Dich nicht!" "Was?" - sagte ich zu ihm - "wie bitte, ich erinnere mich nicht?!" Mein Leben ist von diesem Tag damals gezeichnet, weil ich einen Blick ohne Maß zuvor nie gefunden hatte. Ich hatte großartige Menschen kennen gelernt, große Christen, aber so etwas, einen Blick ohne Maß hatte ich nie gefunden. Dann habe ich mich an eine Sache erinnert, die mir von Anfang an gefallen hat. Ich habe sie ihm bei einem der letzten Male am Tisch wieder vorgelesen. Don Giussani hatte gesagt, dass der Blick Christi ein menschlicher Blick bleibt, und es ist der Blick Christi, der einem menschlichen Blick Gestalt gibt (vgl. L. Giussani, Un caffè in compagnia, Rizzoli, Mailand 2004, S. 63 f.). Jahre später habe ich verstanden, dass dieser Moment, von dem ich euch erzählt habe, dass dieser Blick, mit dem ich angeschaut wurde - ohne Maß - der Blick Jesu war. Christus ist auferstanden, damit dieser Blick bleibt. Und damit steht man vor einer Person, einem Menschen, der einen so anschaut. Es bleibt nicht nur die Erzählung der Evangelien über eine Sache, die in der Vergangenheit geschehen ist. Ich hatte über den Blick, mit dem sich Zachäus angeschaut fühlte, oft gelesen. Aber erst dann, wenn dich ein Mensch so anschaut, verstehst du, dass Christus auferstanden ist und unter uns bleibt. Nicht als Erinnerung, denn viele, sehr viele sprechen über Zachäus, aber niemand schaut dich so an. Jemand der erzählt, der von der Vergangenheit spricht, genügt nicht. Es gibt viele, die dir von der Vergangenheit erzählen, aber niemand schaut dich hier und jetzt so an. Um jemanden in der Gegenwart so anzuschauen, braucht es etwas anderes, etwas anderes ist notwendig. Deshalb bleibt nicht nur, wie wir es im Seminar der Gemeinschaft erarbeitet haben, das Werk Christi, es bleibt nicht nur Seine Lehre, Seine Inspiration, es bleibt nicht allein die Gesamtheit der christlichen Regeln. Denn das würde niemandem von uns genügen. Es würde den Bedürfnissen des Herzens von keinem von uns genügen. Es braucht Ihn, Er ist es, der unter uns lebendig bleibt, und ich weiß das auf Grund dieses Blickes. Wenn jemand diesen Blick aufnimmt, wenn er ihn empfängt, dann wird alles, wirklich alles anders, denn eine Schwingung beginnt, in das Leben einzutreten.
Woraus besteht das Ich? Aus Vernunft. Es ist nichts Sentimentales, sondern Vernunft. Also wird man angeleitet, die Vernunft auf eine andere Art und Weise zu gebrauchen, mit einer vorher unvorstellbaren Tiefe, nämlich als Bewusstsein der Wirklichkeit gemäß allen ihren Faktoren. Denn es gibt jemanden, der dich etwas erfahren lässt, das deine Vernunft mitreißt. Jemand, der dich dazu bringt, gewisse Faktoren anzuerkennen, die du ohne diese Gegenwart nicht anerkennen könntest. Es wird der Vernunft in gewissem Sinne erleichtert, sie selbst zu werden. Sie hat die Fähigkeit, in die Wirklichkeit einzutreten, die Wirklichkeit gemäß all ihrer Faktoren anzuerkennen. Weil wir aber kleine Lichter sind, bleiben wir immer an den Äußerlichkeiten haften. Deshalb gibt es jemanden, der unsere ganze Zuneigung weckt und der uns hilft, auf eine Art und Weise in die Wirklichkeit einzutreten, von der wir nicht gedacht hätten, dass sie existieren könnte. Und dann ist die Vernunft in der Lage, die Wirklichkeit anzuerkennen.
Und das Leben ist anders. Deshalb sagte uns Don Giussani: "Ich sehe all das, was ihr seht, aber ihr seht nicht alles, was ich sehe." Er brachte uns dahin, das zu sehen, was er sah. Weil es da war, es war da! Aber nur dann, wenn dich jemand in die Fülle der Wirklichkeit einführt, in das Geheimnis, wird alles zum Zeichen. Nur dann wird alles eine Gelegenheit, in das Geheimnis einzutreten. Ich erinnere mich, dass ich einmal in meinem Zimmer war und alles satt hatte, ich konnte nicht mehr. Weil ich aber schon mit der Arbeit begonnen hatte, meine Vernunft so wie gerade beschrieben zu benutzen, blieb ich nicht bei meinem Überdruss stehen, ich ertrug nicht einfach nur, dass ich alles satt hatte. Und indem ich meine Vernunft bis zum Ende gebrauchte, fand ich mich dann angesichts des Ursprungs der Wirklichkeit wieder, der dort war. Ich wusste, dass ich am Ende angekommen war, dahin, das gegenwärtige Geheimnis in meinem Zimmer anzuerkennen, auch wenn ich allein war. Ich wusste es wegen der Veränderung, die ich lebte, weil Seine Gegenwart, die Anerkennung Seiner Gegenwart mit Heiterkeit, mit Freude erfüllt.
Danach fing ich an, auch andere herauszufordern. Eines Tages rief mich eine Freundin an, die in die Psychiatrie eingeliefert worden war. Sie war besorgt und wir begannen, miteinander zu reden. Schließlich forderte ich sie heraus. Denn auch wenn Personen krank sind, bleiben sie Personen und damit leben sie die Beziehung zum Unendlichen. Auch wenn sie in der Psychiatrie sind, sind sie nicht allein von ihrer Krankheit bestimmt. Sie sind Personen, und so forderte ich sie heraus, indem ich zu ihr sagte: "Worin besteht der Unterschied zwischen Dir, die Du im Krankenzimmer bist und mir, der ich in meinem Zimmer bin? Wir haben beide die Möglichkeit, das Geheimnis hier und jetzt - jetzt - anzuerkennen, und ich habe aber auch die Möglichkeit, es nicht anerkennen, selbst wenn ich außerhalb des Krankenhauses bin, so wie Du es dort nicht anerkennen musst. Wir sind nicht unterschiedlich". Es war 20 Uhr, wir beendeten das Gespräch. Am nächsten Morgen um sieben, ruft sie mich an und sagt mir: "Weißt Du, was mir gestern geschehen ist? Nach unserem Gespräch habe ich das getan, was Du mir gesagt hast, und ich bin so in Frieden eingeschlafen, dass ich vier Stunden am Stück geschlafen habe, bis um Mitternacht. Und auch wenn es nur vier Stunden waren, war ich so entspannt, als ich aufwachte, dass es mir wie ein Traum vorkam. Danach haben mir die Ärzte eine Schlaftablette gegeben, weil sie nicht wollten, dass ich wach bleibe." Ich sagte ihr: "Siehst Du, selbst die psychiatrische Klinik kann ein Ort des Lebens sein, wenn man Christus anerkennt."
Wer hindert dich jetzt daran, die Laudes zu beten? Niemand. Wer kann dich dazu zwingen, die Laudes zu beten? Niemand. Also gib dir einen Ruck! Alles ist deiner und meiner Freiheit anvertraut. Und es ist dieser Gebrauch der Vernunft, der die Freiheit wertschätzt, weil dann jeder Umstand, bis hin zur psychiatrischen Klinik, ein Ort des Lebens wird. Denn wenn ich Christus anerkenne, kann auch dieser Ort zum Ort meiner Freiheit werden, an dem ich die vollkommene Erfüllung erfahre, in der die Freiheit besteht. Und deshalb, wisst ihr was geschah, jedes Mal mehr wenn ich diesen Weg der Vernunft ging? Ich war darüber erstaunt, dass ich in den Umständen frei war, frei, ganz frei. Was bedeutet das? Dass man nicht von den Umständen abhängt, seien sie schlecht oder weniger schlecht, weil das, was das Leben erfüllt, immer da ist, in schlechten und guten Umständen! Selbst ein Urlaub auf den Kanarischen Inseln ist ohne Christus eine öde Sache, man langweilt sich immer mehr. Denn was kann unser Herz, das Sehnsucht nach dem Unendlichen ist, machen, wenn Er fehlt? Hingegen bin ich mit Christus frei in den Umständen, frei in den Dingen, die mir besser oder schlechter gelingen, frei.
Die Freiheit ist ein heutzutage rares Gut: Alle sprechen von Freiheit, aber nicht von dieser vollkommenen Erfüllung. Deshalb sind heute so viele Leute heute derart unfrei, dass sie in jedem Umstand anders sein müssen: in der Schule ein Gesicht, das zur Schule passt, mit den Freunden ein anderes, wieder ein anderes zu Hause: Wo aber ist man wirklich man selbst? Dort, wo man sich so zum Ausdruck bringt, wie man ist.
Seht, es ist tatsächlich so. Viele, auch die, die große Reden über das Wort "Freiheit" schwingen, beugen sich einer nach dem anderen den Umständen. Liegt die Freiheit deshalb in den Umständen, oder wo sonst? Wenn wir in der Schule nicht frei sind, wenn wir mit den Freunden nicht wir selbst sein können oder wenn uns etwas misslingt, wenn wir immer das Gesicht ändern müssen, um uns dem anzupassen, was alle sagen, dann haben wir keine wirkliche Freiheit mehr. Wenn es hingegen so ist, wie ich es beschrieben habe, wird alles zum Hundertfachen. Denn als ich frei war, so frei, wie ich mich fühlte, als ich unterrichtete, begann ich, über das, was geschah, gerührt zu sein. Diese wahre Befreiung ermöglichte es mir, ich selbst zu sein, und daher zum Unterricht zu gehen und das zu genießen. Ich machte mir keine Gedanken darüber, welch ein Gesicht ich aufsetzen musste, oder darüber, wie die Jugendlichen antworteten. Nein, ich ging, um ich selbst zu sein, um ich selbst zu werden. Oft hätte ich etwa dafür gezahlt, den Unterricht nicht halten zu müssen, weil ich müde oder niedergeschlagen war. Aber ich muss anerkennen, wenn ich zur Schule auf die beschriebene Art und Weise den Unterricht abhielt, über den Korridor zu meinem Zimmer zurückkehrte und bewegt war von dem, was der Herr durch mich tat. Für Ihn war es nicht wichtig, ob ich niedergeschlagen oder besorgt war: Er ließ unglaubliche Dinge geschehen und deshalb war ich jedes Mal ergebener und ging froher zum Unterricht. Während die anderen Priester nach irgendeiner Entschuldigung suchten, um wegzugehen und die Unterrichtsstunde in Religion nicht zu halten, war ich der einzige Priester, der zehn Jahre durchgehalten hat, jedes Mal froher.
Es geht um eine Intensität des Lebens, die man vorher nie erlebt hat. Ich weiß, was der Sieg Christi im Fleisch heißt. Diese Dinge wusste ich vorher nicht. Ich musste mich der Evidenz fügen, die vor meinen Augen geschah, wie bei den Jüngern. Deshalb sage ich, wenn jemand zu mir sagt, dass die Evangelien nicht wahr sind: "Du spinnst!", denn das, was die Jünger geschrieben haben, konnten sie sich nicht einmal vorstellen. Und um sich etwas auszudenken, muss man es sich zumindest vorstellen können. Ich schwöre euch, dass ich mir die Dinge, die ich euch gesagt habe, vorher nicht hätte ausdenken können; von vielen Einzelheiten kann ich nur deshalb sprechen, weil sie geschehen sind. Dies ist es, was mich "verrückt" nach Christus werden ließ: Nicht nur die Meditation über Christus, sondern die Erkenntnis, was Christus in das Leben hineinbrachte, nämlich eine Leidenschaft. Es ist so wie Thomas von Aquin sagt: "Das Leben des Menschen besteht in der Zuneigung, die ihn hauptsächlich stützt, und in der er seine größte Erfüllung findet". Meine Zuneigung zu Christus ist gewachsen, weil ich in Ihm meine größte Erfüllung fand, und deshalb ist sie mir das absolut Teuerste geworden. Deshalb wundere ich mich über die Tatsache, dass mich alles, was geschieht, auf Ihn verweist, mir Ihn vergegenwärtigt. Vorgestern bin ich mit einer Studentengruppe der Universität Mailand essen gegangen. Sie sangen ein Lied, Lela, und dann unterhielten sie sich und stellten Fragen. Ich unterbrach sie mit der Frage: "Ist etwas mit euch geschehen, als ihr Lela gehört habt? Mir fehlte etwas." Derjenige, der neben mir saß, antwortete: "Ich habe an meine Freundin gedacht." Mir fehlte Christus; alles erinnert mich an Ihn, alles wird Gelegenheit zum Gedächtnis, nicht zur Erinnerung, wie wir oftmals denken, nein! Alles wird Gelegenheit zum Gedächtnis. Weil mir alles Ihn vergegenwärtigt, mich Ihm näher bringt, ich erfinde Ihn nicht, um mich zu trösten! Alle anderen jungen Leute, die dort waren, haben an nichts gedacht, nur der, der verliebt war, hat an seine Freundin gedacht. Die anderen haben an nichts gedacht, ihnen ist nichts in den Sinn gekommen. Sie haben Christus nicht erfunden, denn Christus ist etwas, das da ist und das in unser Leben eingetreten ist, und alles erinnert dich an Ihn, alles vergegenwärtigt Ihn dir. Hinter diesen Punkt gibt es kein Zurück: Einmal in das Leben eingetreten, kann man nicht einmal mehr einen Sonnenuntergang ohne Ihn sehen, ohne dass dieser Ihn dir vergegenwärtigt. Wie kann man ein schönes Lied hören, über eines schönen Tages staunen, im chaotischen Verkehr stehen, müde sein, ohne dass alles Ihn vergegenwärtigt? Es ist also so, ob das Geheimnis Dir aus dem Inneren deiner Erfahrung ins Ohr spräche - ein Satz von Don Gius, der mir unendlich gefällt -, aus dem Innersten Deiner Erfahrung sagt es dir: "Ich bin das Geheimnis, das jeder Sache fehlt, die du genießt."
Jetzt versteht ihr auch Folgendes: Als mich Don Giussani nach Italien rief, was konnte ich da sagen? Mir ging es in Spanien sehr gut, ich war Ordinarius an der Theologischen Fakultät in Madrid, ich hatte eine Super-Wohnung in der schönsten Wohngegend Madrids und einen Haufen Freunde. Das Land wechseln mit 54 Jahren, versteht ihr? Aber vom ersten Tag an habe ich zu Don Giussani gesagt: "Schau, ich kann dir einfach nichts abschlagen, und zwar nicht etwa deshalb, weil ich den guten Priester oder den guten Ciellino abgeben muss, sondern weil ich nach dieser Lebensintensität, in die du mich eingeführt hast, nicht Nein zu dir sagen kann." Fünf Jahre lang habe ich geglaubt, dass er es nicht schaffen würde, weil er mit allen einig werden musste, auch mit meinem Kardinal, der mich nicht gehen lassen wollte. Aber dann hat er einen etwas kühnen Schritt getan. Er schrieb dem Papst. Da war ich etwas entsetzt, weil es ihm nun vielleicht gelingen konnte. Und am Ende hat er es geschafft! Angesichts all dieser Ereignisse war mir offensichtlich, dass das Geheimnis im Spiel war. Es ging nicht nur um einen Gefallen, den es Don Giussani zu erweisen galt, denn um mit allen einig zu werden … Nicht, dass der Heilige Geist gefehlt hätte, im Gegenteil, er war da! Und ich verstand gut, dass es nicht um eine Geschmacksfrage ging, weil ich vom Geheimnis gerufen war, zu antworten. Ohne das Geheimnis hätte ich keinen angemessenen Grund für eine derartige Veränderung gehabt. Deshalb habe ich auch ab dem Moment, in dem ich erfasste, dass das Geheimnis im Spiel war, gesagt: "Ich bin dabei"!
Alles, was seitdem geschehen ist, hat eine einzigartige Bedeutung erlangt. Aber alles war schon so von Anfang an: Ich habe Ja sagen wollen, und ich bin sehr froh, dass niemand mir das Drama des Ja-Sagens ersparen will, so wie ich jetzt hier mit euch nicht auf formale Art und Weise zusammen sein möchte. Ich möchte ganz ich selbst sein mit euch, wie ich jedes Mal Du zum Geheimnis sagen möchte, jeden Morgen zu Christus, mit meinem ganzen Ich, mit der ganzen Schwingung meines Ichs. Und so habe ich zu Don Giussani Ja sagen wollen: in meiner ganzen Geringfügigkeit, in meinem Übel, aber Ja sagen.
Wenn mich die Leute nach meiner Verantwortung fragen, antworte ich, dass die einzige Verantwortung die gleiche wie zuvor ist: Ja zu Christus zu sagen, weil die Bewegung keine Organisation ist. Sie ist nicht ein Stück Organisation, das es zu erfüllen gilt, sondern entscheidend ist das Ja. Und dieses Ja ist das einzige, was ein Volk hervorbringt, wie wir gesehen haben, und es ist das einzige, das die Einheit hervorbringt. Es geht nicht um eine Organisation, eine Rolle, sondern um eine siegreiche Anziehungskraft. Deshalb ist dieses Stück, diese Einzelheit, dieser geschichtliche Punkt, der jetzt durch mich hindurch geht, unerlässlich - allein schon wenn ich daran denke wird mir schwindelig! Deshalb sprecht zumindest ein Gebet für mich, damit das Ja, das ich gesagt habe und jetzt wieder sage, mit allem Bewusstsein, zu dem ich fähig bin, die Art und Weise sei, auf die ich euer Weggefährte werde. Ich bin dabei, weil dies die Methode ist, die Don Giussani uns immer beigebracht hat: die Vorliebe, ein menschlicher Anknüpfungspunkt, eine menschliche Anziehungskraft ist das einzige, das in der Lage ist, unser ganzes Ich mit sich zu reißen. Wenn das nicht so ist, dann sind wir armselig, und zwar bis ins Innerste. Wenn es nichts gibt, was uns fasziniert und unser ganzes Ich mit sich reißt, dann ist auch nichts zu machen.
Darin besteht die Herausforderung für die Freiheit aller. Ich bin nicht gekommen, um euch euer Ja zu ersparen, sondern um euer Ja herauszufordern. Jeder muss antworten. Ich sage dies nicht, um euch einen Vorwurf zu machen, sondern damit ihr nicht das Schönste verliert, das darin besteht, Ja zu sagen und die Schwingung dieses Ja zu spüren! Denn wenn es nicht euer Ja wird, wenn ihr nicht die Gefühlsregung spürt, dieses Ja zu sagen, verliert ihr das Beste. Denn ich will es sein, der das Gute spürt, ich will es sein, der dir sagt: "Ich mag Dich!". Und in diesem Sinne wollen wir nicht, dass irgendjemand uns das erspart. Es ist leicht, sehr leicht, man nennt es die Einfachheit des Herzens.