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Das größte Opfer ist die Hingabe des eigenen Lebens für das Werk eines Anderen
Luigi Giussani
(aus Litterae 2/1992)
In einem Hymnus der Laudes heißt es: "Möge sich ein neuer Gast zu unserer
einträchtigen Versammlung gesellen." 'Einträchtig'!
Nur die Einheit eines Volkes kann wahres Subjekt sein, das heißt eine
Wirklichkeit, die wirklich Protagonist in der Geschichte ist. Das Wort
'Eintracht' (concordia) hat eine metaphysische, ontologische Bedeutung und eine
ethisch-moralische. Bei der täglichen Erneuerung unseres Einsatzes und unseres
Gedächtnisses müssen wir diese beiden Aspekte berücksichtigen und vertiefen.
Bedenkt, dass das Wort Gedächtnis auf etwas Gegenwärtiges verweist, auf das
Bewusstsein von etwas Gegenwärtigem, das in der Vergangenheit angefangen hat.
Das Gedächtnis umspannt die ganze Geschichte. Und das Benedictus spannt den
Bogen dieser Geschichte.
"Möge sich ein neuer Gast dazugesellen." Der metaphysische und ontologische
Wert unserer Eintracht gründet darin, wie tief unsere Einheit von der großen
Gegenwart Christi durchdrungen ist, die das Einzige ist, was wir kennen. Wir
sind so begnadet, dass es uns in unserer Einfältigkeit gelingt, den Widerspruch
unserer Zerstreutheit und unserer Sünde zu überwinden und Tag für Tag die große
Gegenwart Christi wahrzunehmen. Wir sind so sehr begnadet, dass wer auch immer
wir sind und wie auch immer wir sind, wir aufrichtig und einfältig wiederholen
können, dass wir nichts anderes kennen als Christus. In der Tat kennt unsere
Eintracht nichts anderes als Christus. Diesem ontologischen Wert der
Weggemeinschaft entspringt der moralische Wert: Er ist Frucht der Freiheit.
Unsere Eintracht ist Frucht der Freiheit: Frucht Seiner Gegenwart, die der
Ursprung ist, aber auch Frucht unserer Freiheit, die anerkennt und zustimmt.
Aus dieser kurzen Überlegung folgt eine Formulierung, die am eindringlichsten
und deutlichsten zusammenfasst, was Moral in der Praxis unseres Lebens
bedeutet: "Das größte Opfer ist die Hingabe des eigenen Lebens für das Werk
eines Anderen." Dieser Satz ist analog zu der Aussage Christi: "Es gibt keine
größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt." (Joh
15,13). Aber dieser Satz (wie auch das ganze Johannes-Evangelium) weist auf
noch tiefere Weise auf die ureigene Erfahrung Christi hin, der sein Leben für
das Werk des Vaters hingibt.
1. Sein Leben für das Werk eines Anderen hingeben, bedeutet für uns, um nicht
abstrakt zu bleiben, dass alles, was wir tun, unser ganzes Leben, für die
Bewegung da ist. Wenn wir davon sprechen, dass alles, was wir tun, dem Wachstum
des Charismas zu dienen hat, an dem wir teilhaben dürfen, dann sprechen wir von
etwas, das einen präzisen geschichtlichen Bezugspunkt hat, wir sprechen von
etwas, das eine eigene Chronologie besitzt, eine eigene Gestalt, die man genau
beschreiben, die man sogar photographieren kann; wir sprechen von etwas, das
auf bestimmte Vor- und Nachnamen verweist, ja am Anfang sogar auf einen
bestimmten Vor- und Nachnamen. Wenn die Hingabe des eigenen Lebens für das Werk
eines Anderen nicht auf Namen und Nachnamen verweist, würde dieses Werk seine
Geschichtlichkeit verlieren, würde es in seiner Konkretheit gemindert, so dass
man schließlich sein Leben nicht mehr für das Werk eines Anderen hingeben
würde, sondern für die eigenen Interpretationen, die eigenen Vorlieben, die
eigenen Pläne oder Meinungen.
Sein Leben für das Werk eines Anderen hingeben: Dieses 'andere' ist
geschichtlich, als Phänomen, als Gestalt, als eine bestimmte Person. Was zum
Beispiel die Bewegung betrifft, bin ich es. Aber noch während ich das sage,
verschwindet mein ganzes Ich (weil der 'Andere', Christus in Seiner Kirche
ist). Was bleibt, ist ein geschichtlicher Bezugspunkt, ein Strom von Worten und
ein Meer von Werken, das aus dem ersten Augenblick am Gymnasium Berchet
hervorgegangen ist. Wer dies aus den Augen verliert, verliert das zeitliche
Fundament der Eintracht, der Nützlichkeit unseres Tuns. Es ist, als ob einer
Risse ins Fundament ziehen würde.
2. Kaum ausgesprochen löst sich das Wort 'Ich' schon wieder auf, verliert sich
in der Ferne. Denn der geschichtlich-beschreibbare, photographierbare, genau
mit Vor- und Nachnamen bezeichenbare Faktor ist dazu bestimmt, von der Szene zu
verschwinden, auf der eine Geschichte beginnt. Jeder hat die Verantwortung des
Charismas; jeder ist Ursache für ein Verfallen oder für ein Wachstum des
Charismas in seiner Wirksamkeit. Jeder ist entweder ein Erdreich, auf dem das
Charisma vergeudet wird, oder ein Erdreich, auf dem es Frucht bringt.
Daher ist dies ein Augenblick, in dem das Bewusstwerden der eigenen
Verantwortung eine Frage von größtem Gewicht ist, als Dringlichkeit, als
Aufrichtigkeit und als Treue. Es ist die Zeit der Verantwortung für das
Charisma, die jeder zu übernehmen hat.
Wer diese Bemerkungen verdunkelt oder abschwächt, verdunkelt und schwächt einen
tiefen Einfluss, den die Geschichte unseres Charismas auf die Kirche Gottes und
die Gesellschaft ausübt. Dieser Einfluss ist sehr groß und ist dazu bestimmt,
noch größer zu werden.
Das Wesen unseres Charismas lässt sich an zwei Dingen festmachen:
- Vor allem an der Verkündigung, dass Gott Mensch geworden ist (das heißt das
Staunen und die Begeisterung darüber).
- Dass dieser Mensch gegenwärtig ist in einem 'Zeichen' der Eintracht, der
Communio, der Einheit einer Weggemeinschaft, in der Einheit eines Volkes.
Wir könnten noch einen dritten grundlegenden Faktor hinzufügen, um unser
Charisma endgültig zu beschreiben: Nur im Mensch gewordenen Gott, also nur in
Seiner Gegenwart und folglich nur - in gewisser Weise - durch die Gestalt, die
Seine Gegenwart annimmt, kann der Mensch Mensch sein und die Menschheit
menschlich - daher also: Moralität und Mission.
3. Jeder von euch versetzt sich auf seine ganz persönliche Art in das Charisma,
für jeden von euch gibt es eine persönliche Version des Charismas, zu dem er
berufen ist und dem er angehört. Je mehr jemand Verantwortung für das Charisma
übernimmt, umso mehr bedient es sich unausweichlich seines Temperaments, durch
jene absolut einzigartige Berufung, die seine Person ist. Die Person eines
jeden besitzt ihre Konkretheit, die Konkretheit ihrer Mentalität, ihres
Temperaments, der Umstände, in denen sie lebt und insbesondere ihrer Freiheit,
von der sie sich bewegen lässt.
Deswegen kann jeder von euch mit dem Charisma und seiner Geschichte letztlich
machen, was er will: Er kann es reduzieren, er kann es eines Teiles berauben,
er kann gewisse Aspekte zu Ungunsten anderer besonders betonen (und sie damit
monströs werden lassen), er kann es dem eigenen Vergnügen oder dem eigenen
Vorteil unterordnen, es aus Nachlässigkeit, Eigensinn oder Oberflächlichkeit
aufgeben, er kann es preisgeben um eines einzelnen Aspektes willen, bei dem er
sich wohler fühlt und weniger Mühe hat. Da das Charisma sich mit der
Verantwortung eines jeden identifiziert, nimmt es eine verschiedenartige und
mehr oder weniger getreue Ausprägung an entsprechend dem Maße der
Großherzigkeit eines jeden. Die Nähe bemisst sich nach der Großherzigkeit, in
der die Fähigkeiten, das Temperament, die Neigungen usw. gründen. Das Charisma
wird entsprechend der Großherzigkeit eines jeden geformt. Und dies ist das
Gesetz der Großherzigkeit:
Dass einer sein ganzes Leben für das Werk eines Anderen hingibt.
Mit diesem dritten Punkt drängt sich die entscheidende Frage auf: Jeder muss
sich in jeder seiner Handlungen, an jedem seiner Tage, in jeder seiner
Vorstellungen, in jeder seiner Absichten, in all seinem Tun darum sorgen, die
Kriterien seines Handelns mit dem Bild des Charismas zu vergleichen, wie es
sich zu Beginn der gemeinsamen Geschichte gezeigt hat. Der Vergleich mit dem
Charisma, so wie es uns gegeben wurde, wird dazu führen, die Besonderheiten der
einzelnen Versionen und der Arten der Weitergabe zu korrigieren. Der Vergleich
ist eine beständige Korrektur und eine beständige Ermutigung.
Der Vergleich mit dem Charisma ist deswegen die größte Sorge, die jeden
methodologisch, praktisch, moralisch und pädagogisch bewegen muss. Sonst wird
das Charisma Vorwand und Ausgangspunkt für jede Beliebigkeit und dient dazu,
das zu verdecken, was unser eigenes Wollen ist. Aber so werden wir zu
Betrügern, denn wir sagen zwar, dass wir Comunione e Liberazione leben, aber in
Wirklichkeit machen wir aus Comunione e Liberazione das, was wir wollen. Im
Sprachgebrauch des heiligen Johannes ist Lüge ein Synonym für Sünde, sie ist
also Verrat.
Um diese Versuchung, die jeden von uns betrifft, einzudämmen, muss der
Vergleich mit dem Charisma als Korrektur und als ständig neues Aufbrechen des
Ideals zu einem normalen Verhalten werden. Dieser Vergleich muss zur Gewohnheit
werden, zum Habitus, zur Tugend. Dies ist unsere Tugend: der Vergleich mit dem
Charisma in seiner Ursprünglichkeit.
4. An dieser Stelle kehrt das Vergängliche wieder, denn Gott bedient sich des
Vergänglichen. Hier kommt die Wichtigkeit des Vergänglichen wieder zum
Vorschein: bis jetzt der Vergleich mit der bestimmten Person, mit der alles
begonnen hat. Ich kann mich auflösen, aber die hinterlassenen Texte und die -
so Gott will - ununterbrochene Folge von Personen, die als Bezugspunkt bestimmt
sind, als wahre Interpretation dessen, was in mir geschehen ist, werden zum
Instrument für die Korrektur und die immer neue Erweckung, sie werden zum
Instrument dieser Moral. Die Linie der benannten Bezugspunkte ist das
Lebendigste der Gegenwart, denn auch ein Bezugspunkt kann interpretiert werden.
Es ist schwer, ihn schlecht zu interpretieren, aber er kann interpretiert
werden.
Das eigene Leben für das Werk eines Anderen hingeben, bedeutet immer einen
Zusammenhang zwischen dem Wort 'Anderen' und etwas Geschichtlichem, Konkretem,
Greifbarem, Sinnenhaftem, Beschreibbarem, Photographierbarem, mit einem Vor-
und einem Nachnamen. Ohne dies setzt sich unser Stolz durch, der nun wirklich
vergänglich ist, aber vergänglich im schlimmsten Sinne des Wortes. Wer vom
Charisma ohne Geschichtlichkeit spricht, spricht nicht von einem katholischen
Charisma.
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