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Herren über das Leben?
Vom Mut zur wirklichen Sorge um den anderen
Paola Ronconi

Das Zeugnis des Leiters einer Abteilung für Wachkoma-Patienten. Er sorgt sich um 25 Menschen im Zustand von Terry Schiavo und das im Bewusstsein des absoluten Wertes jeder Person, gleich in welchen Umständen sie sich befinden.

Sicher waren es nicht das Geld oder die Karriere, die Giovanni Battista Guizetti dazu brachten, sich um Wachkoma-Patienten zu sorgen. Aber wenn er von den letzten zehn Jahren seines Arbeitslebens erzählt, leuchten dem Leiter der Krankenhausstation am Zentrum "Don Orione" die Augen. "Vor zehn Jahren, als diese Station entstand", erzählt er, "brauchte man jemanden, der sie leitet, aber keiner meiner Kollegen erklärte sich dazu bereit. Die Arbeit schien wenig interessant zu sein. So bin ich dort gelandet, und nach zehn Jahren kann ich sagen, dass es ein herausragendes Abenteuer war und ist".

Dr. Guizetti, die Patienten, die Sie betreuen, haben schwere Traumata erlitten. Nach der Wiederbelebung kamen sie entweder wieder zu sich oder sie blieben in Bewusstlosigkeit.
Guizetti: Auf meiner Station befinden sich 25 "Terri Schiavos", Patienten im Wachkoma. Das rührt von einer gravierenden Störung des zentralen Nervensystems her, besonders des zerebralen Kortex und seiner Verbindungen, die meistens auf ein Trauma oder mangelnde Sauerstoffversorgung, wie im Fall eines Herzinfarktes, zurückzuführen ist. Diese Menschen stellen uns vor Probleme in der Betreuung, die wenig technisiert ist, aber einen hohen menschlichen und pflegerischen Einsatz erfordert. Sie hängen nicht an Maschinen, sie haben einfach eine Sonde im Magen, durch die sie ernährt werden. Atmung, Herzfunktion und Verdauung erfolgen von selbst. Sie schlafen und sind wach wie wir, aber sie sind nicht in der Lage zu schlucken und scheinen kein mit Inhalten gefülltes Bewusstsein zu haben. Zuerst lagen sie im Koma, dann haben sie irgendwann die Augen geöffnet, und von diesem Zeitpunkt an liegen sie in einem vegetativen Zustand.
Um einen dieser Kranken aus dem Bett zu holen, zu waschen, anzuziehen und in den Rollstuhl zu setzen, brauchen 2 Krankenpfleger fast eine Stunde. Was sie benötigen sind Menschen, die Einfühlungsvermögen für diese Patienten besitzen. In Abteilungen wie der meinen wird 90 Prozent der Arbeit von Krankenpflegern erledigt. Wenn man eine Person betreut, sie wäscht und anzieht, dann darf man sie nicht wie einen Stuhl behandeln, sondern muss sie streicheln, mit ihr sprechen. Du gibt ihr Signale, die von ihrem Nervensystem aufgenommen werden. Es ist allerdings notwendig, dass das Pflegepersonal die Schönheit dieser Arbeit entdeckt und eine emotionale Bindung zu den Personen aufbaut. Gott sei Dank arbeiten meine Mitarbeiter mit Begeisterung und einer bewegenden Hingabe. Die Wirklichkeit, die sie vor Augen haben, ist in den meisten Fällen sehr hart, so wie in dem Fall einer Frau, die sich seit der Geburt ihres Kindes im vegetativen Zustand befindet. Ihr Mann bringt ihr jede Woche ihr dreijähriges Kind. Von 69 Patienten, die wir in diesen Jahren begleitet haben, sind 12 wieder zu Bewusstsein gekommen. Das hat meiner Meinung nach auch mit der Betreuung und Pflege hier zu tun, die Teil der Therapie und Rehabilitation geworden ist.

Viele Menschen sprechen diesen Geschöpfen ihre Würde ab, wie im Fall von Terry Schiavo.
Ich stamme, Gott sei Dank, aus einem christlichen Umfeld, wo niemand jemals den absoluten Wert eines menschlichen Lebens in Frage gestellt hat, gleich in welchen Umständen er sich auch befindet. Ich habe mich allerdings mit Gründen für dieses Verständnis wappnen müssen. Die Begegnung mit diesen Kranken war für mich eine wirkliche Revolution. In der Universität wird einem beigebracht, dass die wesentliche Aufgabe des Arztes im Heilen besteht. Hier habe ich das Selbstverständnis meiner Arbeit radikal ändern müssen. Von Heilung kann keine Rede sein. Das einzige, was du tun kannst, ist, dich um die Menschen zu kümmern. Sie brauchen diese Hilfe dringend, können es aber nicht ausdrücken. So macht man sich an die Arbeit. Man findet heraus, wer helfen kann, organisiert Konferenzen und bemüht sich um finanzielle Unterstützung von politischer Seite. Heute herrscht eine Kultur vor, die sagt, dass jede Person durch ihre Eigenschaften definiert ist . Und dazu zählt nicht zuletzt das Bewusstsein. Demnach wird dann der, der kein Bewusstsein hat, nicht als Person wahrgenommen. Und dabei denke ich nicht nur an meine Kranken, sondern auch an senile Alte, psychisch Kranke oder an die Embryonen und Föten. Das Bewusstsein ist zweifelsohne eine äußerst wichtige Funktion, aber es bleibt immer nur eine Funktion und kann das menschliche Sein nicht definieren. Übrigens wird mittlerweile die Vorstellung, dass diese Patienten kein Bewusstsein haben, neu überdacht. Denn niemand kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass sie zu jeder Zeit keines besitzen, und ebenso kann niemand ohne Zweifel sagen, dass sie keinen Schmerz empfinden. Zu sterben, wie Terry Schiavo gestorben ist, also verdursten, ist etwas absolut Grausames.

Was bedeutet es, mit diesen Menschen zu arbeiten?
Diese Patienten rufen dir immer wieder die Grenzen ins Bewusstsein. Die technisierte Medizin will diese Grenzen nicht anerkennen und versucht immer wieder, sie zu überwinden. Aber sie schafft es nicht. Bestenfalls können die Grenzen etwas verschoben werden, aber irgendwann ist Schluss. Die Medizin darf diese Kranken nicht ignorieren, sie darf nicht das Verdursten als Lösung für dieses Problem vorschlagen. Das wäre absolut inhuman und könnte im nächsten Schritt dazu führen, allen schwer chronisch Kranken die Behandlung zu versagen. Ich denke, dass eine zivile Gesellschaft, die sich als solche begreift, in der Lage sein muss, Mittel zu finden, um ihnen zu helfen. Vergessen wir dabei nicht, dass diese Kranken das "Ergebnis" des medizinischen Fortschritts sind. Vor 40 Jahren gab es sie nicht, sie starben vorher. Die Plätze für diese Patienten müssen geschaffen werden. Vor 50 Jahren gab es keine Betten für Aids-Patienten. Jetzt schon. Es gab Betten für Tuberkulose-Patienten, die es jetzt nicht mehr gibt.

Sie haben auch mit den Angehörigen zu tun …
Die Beziehung zu ihnen ist nicht immer einfach, da sie immer eine enorm hohe Heilungserwartung hegen. Klar, wenn man ein zwanzigjähriges Kind hat ... Aber sie sind unverzichtbar. Es kommt häufig vor, dass eine Mutter, der Ehemann oder die Ehefrau einem sagen: "Wenn sie meine Stimme hört, lächelt sie, wenn ich in den Raum trete, dreht sie die Augen zu mir" und der Arzt oder die Krankenschwester können das nicht begreifen. Wer zwanzig oder dreißig Jahre mit ihnen gelebt hat, hat eine ganz andere Fähigkeit, mit ihnen in Kontakt zu treten. Ein Lächeln, eine Lippenbewegung wahrzunehmen, die sie kennen, ist ganz wichtig.
Jetzt organisieren wir in unserer Abteilung jeden Monat ein Treffen mit allen Angehörigen. Das hilft ihnen zu reifen, die Umstände des eigenen Familienmitglieds einzuschätzen und die Situation mit größerer Gelassenheit zu leben. Sie erzählen ihre Geschichte und die Mühe, die es sie kostet. Das letzte Mal gab es drei Beiträge. Zum einen schilderte eine Mutter ihre Schuldgefühle, nicht genug für den Sohn getan zu haben, dann erzählte jemand, wie unzufrieden er mit der Welt, mit dem Schicksal und den Ärzten war. Schließlich ergriff eine Frau das Wort, die anfangs sehr auf weiteren Untersuchungen und rehabilitativen Therapien bestanden hatte (die irgendwann unnütz werden). Dann formulierte sie folgende Einsicht: "Nach vielen Jahren mit euch habe ich verstanden, dass ich meine Tochter so nehmen muss, wie sie ist, sie gern zu haben, sie spazieren zu führen, mit ihr zu plaudern. Das ist kein Fatalismus, sondern Annahme".