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Herren über das Leben?
Das Leben begleiten - bis zum Ende
Paolo Perego

Dem Krankenhausgeistlichen Nagle geht es vor allem um eines: Dass die Kranken das Wunder wiederentdecken, Mensch zu sein. Der Weg dorthin ist für ihn die Freundschaft.

Vincent Nagle ist Kaplan in einem Krankenhaus in den USA. Jeden Tag steht er mit Kranken im Kontakt, die sich in einem verzweifelten Zustand befinden. Seine Erfahrungen hat er vergangenes Jahr in dem Buch Über die Grenzen des Menschlichen. Ein Priester bei den Kranken veröffentlicht. Er tat dies, indem er sein Leben als Priester und als "Mensch unter Menschen" erzählt, wie es in der Einführung von Massimo Camisasca heißt. Hierzu haben wir Nagle, der der Priesterbruderschaft San Carlo Borromeo angehört, einige Fragen gestellt.

Das Verständnis des Menschen und seiner Würde wird zusehends verkürzt, wie die derzeit in Italien behandelten Fragen zur künstlichen Befruchtung oder der Fall Terry Schiavo zeigen. Gibt es eine andere Antwort?
Die einzig mögliche Antwort, die ich sehe, ist genau die Antwort, die Christus uns gegeben hat, damit wir von der Angst erlöst werden. Die Angst lässt uns Dinge tun, die wir niemals gedacht hätten. Sie trennt uns von der Wirklichkeit und lässt uns alles als Werkzeug der Macht handhaben, nicht als Möglichkeit der Liebe. Deswegen sind wir auch gegenüber dem menschlichen Leben voller Angst und behandeln es wie ein Machtinstrument und nicht wie eine Gelegenheit zur Liebe. Ich würde sagen, dass die wirkliche Möglichkeit in sichtbaren Personen besteht, die vor der Nächstenliebe keine Angst haben. Die keine Angst haben, das Leben bis zum Ende zu begleiten, auch in den dramatischsten Situationen, die keine Angst haben, das Abenteuer der Wirklichkeit bis auf den Grund zu leben. Das ist die einzige wirkliche Antwort. Ich glaube die Antwort liegt in unserer Freundschaft, eine zutiefst menschliche Freundschaft, die uns von der Angst befreit.

Was bedeutet es für dich, tagtäglich mit 10, 20, 100 Fällen wie Terry Schiavo zu tun zu haben?
Vor allem kann ich immer dem wesentlichen Grund meines Lebens nahe sein, dem Grund für mein Dasein in der Welt und dem Grund, der es mir in meinem Leben ermöglicht, mich allem zu öffnen, nämlich Gott. Das ist eine Gnade. Denn es macht mir in jedem Moment bewusst, dass ich nicht die Antwort bin, sondern dass in der Zeit selbst, in meinem Leben, eine Antwort gegeben wurde. Und ich kann diese Antwort mit den anderen teilen. Für mich heißt das auch, dass ich nie aufhören darf zu beten. Ich weiß, dass dieses eine Besonderheit zu sein scheint, die nur für mich gilt und kein Urteil ist, das mitgeteilt werden kann. Ich glaube jedoch, dass man nur von dieser Besonderheit aus, die schon gerettet ist, eine Antwort für alle finden kann.

Die Personen, von denen du sprichst, sind trotz aller Umstände zuallererst Menschen, noch bevor sie "Kranke" sind. Ist diese Einheit der Person aber möglich?
Ja, die Einheit der Person ist möglich. Ich sehe jeden Tag Menschen, die mit einer anderen Person wie mir gehen. Und wenn sie sehen, dass diese Person dankbar ist, ihre Erfahrung mit ihnen zu teilen und sie wertschätzt, dann entdecken sie wieder einen Sinn. Sie fangen an, das Wunder des Menschseins, also sich selbst, dankbar wahrzunehmen, so wie sie sind. Deshalb glaube ich, dass die Wiedererlangung des Ichs, das Leben des Ichs, nur unter den Augen von jemandem erfolgen kann, der sich freut, dass der andere da ist, ganz gleichgültig, wie auch die Umstände sind.

Was heißt es, "Priester unter den Kranken" zu sein?
Der Umstand allein, dass ich Priester bin, dass ich wie ein Priester angezogen bin, eröffnet von dem Augenblick an, wo ich in die Zimmer komme, einen aufs Ganze gerichteten Horizont, den niemand leugnen kann. Das alles erlaubt es, weder ihnen noch mir die Dramatik auszublenden oder den Wunsch zu negieren, dass alles erlöst werde.