Thema - Berufung
Heiliges Land - In Betanien unter den Kindern von Samar
Andrea Finessi
In ihrem "Haus" betreut die christliche Palästinenserin mehr als hundert
Waisenkinder. Zugleich lernen hier palästinensische Frauen ihr eigenes Leben
neu kennen. Das Geld versucht Samar mit einer Bäckerei zu verdienen. Kleine
Wunder im Heiligen Land.
"Ich bin nur einmal in dieser Welt. Wenn es etwas Gutes zu tun gibt, eine
Freundlichkeit, etwas Gütiges, lass es mich jetzt tun, o Gott, denn ich komme
hier nicht noch einmal vorbei." Samar wiederholt sich diese Worte immer wieder.
Sie sagt sie auf Italienisch, das sie von ihren vielen italienischen Freunden
gelernt hat. Samar Sahhar ist Palästinenserin und lebt in Betanien, seit ihre
Eltern 1971 von Jerusalem hierher zogen. Seit 33 Jahre leitet sie inzwischen
ein Waisenhaus. Das Werk hatte ihre Familie mit der Vergabe eines Zimmerchens
begonnen. Wo ehemals die Schafe unterkamen, wurde Raum für zehn Kinder
geschaffen. Doch obgleich der Vater betonte: "Zehn und mehr nicht!", fuhr die
israelische Sozialbehörde fort, ihnen Kinder anzuvertrauen. Nach dem Erwerb
eines Geländes, errichteten sie ein neues Gebäude und schufen damit die
Möglichkeit, auch palästinensische Kinder aufzunehmen. "Ein Traum wurde
Wirklichkeit", meint Samar rückblickend. Für sie gibt es keine Unterschiede in
der Abstammung: "In welcher Sprache weint ein Kind?", antwortete sie Eltern,
die sie fragten, warum sie als Christen so viele islamische Kinder aufnehmen.
Heute ist ihr "Haus" in Betanien voller Kinder, die den Besucher mit erstaunten
und neugierigen Augen empfangen. Sie nähern sich vertrauensvoll und wollen an
der Hand oder auf den Arm genommen werden. Sie haben ihre Eltern verloren und
so ist Samar für sie zur Mutter geworden.
Platz für alle
"Hier im Heiligen Land, in dem Jesus gelebt hat und all die Liebe gebracht hat,
ist dieser Krieg eine Sünde", beklagt sie. "Wir müssen unablässig Menschen
suchen, die ihre Hand ausstrecken, um dem Land eine Zukunft zu ermöglichen.
Denn es gibt genügend Platz für alle." Samar hat unter diesen Personen die
unschuldigsten erwählt: Kinder, die erwachsen werden und deren Bewusstsein
durch das geprägt ist, was Samar ihnen beigebracht hat. Einer von ihnen ist
ihr in besonderer Erinnerung geblieben: "Ein Junge, der bei uns aufgewachsen
ist, ging später in den Libanon. Dort verlangte man von ihm, Christen
umzubringen. Seine Antwort war: ‚Wie kann ich Christen ermorden, wenn die
Menschen, die mich am meisten geliebt haben, gerade Christen waren - meine
Familie in Betanien?!'". Samar hält kurz inne: "Sie folgen unserer Geschichte
mit dem Wunsch und der Neugier, die Dinge als das anzuschauen, was sie sind."
Samar ist sich bewusst, dass sie eine große Verantwortung trägt. Sie hat mehr
als hundert Kinder: 72 Jungen und 31 Mädchen, die in getrennten Gebäuden leben.
Nach dem Waisenhaus für Jungen entstand jenes für die Mädchen und Frauen aus
der Notwendigkeit heraus, ihnen eine Bleibe zu geben, da in ganz Palästina
keine Aufnahme zu finden ist. "Ich hatte begonnen, die Schwestern der Jungen,
die schon bei uns waren, zu beherbergen und als die Sozialbehörde mir eine
Familie schickte, spürte ich die Verantwortung, nicht nur die Jungen, sondern
auch die Mädchen aufzunehmen, die ein Zuhause brauchen. So baute ich ein neues
Haus auf, das ich Lazarus nannte, weil ich Gott immer darum bitte, diesen
Frauen in Palästina das Leben zurückzugeben, so wie Jesus es mit Lazarus tat."
Das Mädchen in der Geburtskirche
Eines Tages fanden drei Schwestern auf dem Weg nach Bethlehem in einer Grotte
ein gefesseltes Mädchen. Es hatte an einigen Körperstellen schwere
Verbrennungen, so dass es über ein Jahr im Krankenhaus bleiben musste. Die
Ärzte mussten mehrere plastische Eingriffe vornehmen. "Mittlerweile ist es 13
Jahre alt und geht zum ersten Mal in die Schule. Dieses Mädchen wollte erst
nicht hingehen, aber es hat eines der besten Zeugnisse. Mittlerweile ist auch
seine Schwester zu uns gekommen, auch ihr hatte die Mutter schwere
Verbrennungen zugefügt. Vor kurzem gingen wir nach Bethlehem in die
Geburtskirche. Da sagte ich ihr: ‚Geh zu Jesus und bitte ihn um etwas'. Als sie
zurückkam, sagte sie mir: ‚Ich habe ihn darum gebeten, meiner Mutter zu
vergeben'". Samar ist einen Augenblick still und fügt dann bewegt hinzu: "Ihr
wurde auf den Kopf geschlagen und sie hat alle Zähne verloren, sie hat Mühe zu
essen. Dass ein Kind für seine Mutter Jesus um Verzeihung bitten kann für all
das, ist ein Wunder!"
Brot in der Garage
Samars Lebensgeschichte ist wirklich reich an Wundern. Eines von ihnen ist die
Bäckerei. Sie ist die größte in Betanien. Die Idee war, Geld für das Waisenhaus
zu verdienen, den Kindern zu essen geben und einigen Palästinensern einen
Arbeitsplatz zu verschaffen. Samar unterschrieb einen Vertrag über 75.000
Dollar mit einem Israeli aus Tel Aviv, um die Maschinen zu kaufen. "Ich hatte
kein Geld und hatte Angst im Gefängnis zu landen, aber am Ende konnte alles
bezahlt werden und ich danke Gott dafür." Da die Miete für ein Geschäft entlang
der Hauptstraße zu hoch ist, beginnt sie zunächst in einer abgelegenen Garage.
"Ich habe sie gemietet und in eine Bäckerei umgewandelt. Alle haben mich für
verrückt erklärt und gesagt, dass es nie funktionieren würde. Nachdem ich die
Mauern hochgezogen hatte, wurde zu meiner großen Überraschung die anliegende
Straße zur Hauptstraße der Stadt. Es gab Leute, die in mein Büro kamen, um mich
zu fragen, ob ich mit Sharon zusammenarbeitete?!" Ich antwortete darauf: "Nein,
ich arbeite mit einem sehr viel Mächtigeren, ich arbeite mit Jesus zusammen."
Zunächst will allerdings der Israeli, von dem sie die Maschinen gekauft hat,
nicht kommen und diese auf palästinensischem Gebiet aufstellen. Nach langem
Hin- und Her lässt er sich aber überreden: "Nicht einmal für eine Millionen
Dollar käme ich, aber für dich Samar." Am Ende der Arbeiten gibt es dann ein
festliches Abendessen in einem Restaurant in Betanien. Und alle bringen ein
Opfer, um teilzunehmen. Am gleichen Tisch sitzen Muslime, Juden und Christen:
"Wir aßen zusammen, und das war auch ein schönes Zeugnis für meine Kinder",
berichtet Samar.
Zum Sinn des Lebens beitragen
Mutter so vieler Kinder zu sein, ist zugleich eine große Hilfe. Seit 1971 lebt
Samar das Versprechen der Jungfräulichkeit, "um die Mutterschaft gegenüber den
Kindern besser zu leben", wie sie sagt. Es ist die Erfahrung der Memores
Domini, die ihr Leben im Jahr 1994 gezeichnet hat, als sie sich unter Leitung
von Don Giussani für diese Lebensform entschied. Sie habe gelernt, dass das
Leben hervorbringen gleichbedeutend sei mit "den Sinn des Lebens
hervorbringen", wie dies die Eltern tun. Samar ist auch jetzt gerührt, wenn sie
von ihrer "Mutterschaft" erzählt: "Ich spürte, dass diese Kinder ohne Mutter,
ohne Eltern mich riefen, bei ihnen zu sein und die Arbeit fortzusetzen, die ich
mit meinen Eltern angefangen hatte. Ich tue es von ganzem Herzen und nenne sie
meine Kinder. Wir sind wie eine Familie, wir haben uns nie auf andere Art und
Weise angesehen. In Betanien, hier an diesem Ort, habe ich meine Berufung
vernommen, Mutter zu sein."
Samar ist eine palästinensische Christin, Mutter von hundert Kindern, die ihr
Leben ganz für diese hingibt. Und doch sind gerade dieses Zeugnis ihrer Liebe
und ihrer Präsenz im Heiligen Land Zeichen des Friedens und sie prägen auch
alle Kinder, die sie hervorgebracht hat.
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