Don Giussani
Ein Ort, wo man wahrhaftig 'ich' sagen kann
Luigi Giussani
L.Giussani, Die Zeit und der Tempel, Edition Nuovo Mondo, Milano 1996, S. 33-39)
Ich möchte euch einige von den faszinierendsten und überzeugendsten
Aspekten meines Lebensweges mitteilen. Erlaubt mir vor allem, an den
Augenblick zu erinnern, in dem ich zum ersten Mal verstanden habe,
was es mit der Existenz Gottes auf sich hat.
Ich war im Seminar in der ersten
Klasse des Gymnasiums und wir hatten Gesangsunterricht. In der Regel
erklärte der Lehrer während der ersten Viertelstunde
Musikgeschichte und ließ uns dazu auch Schallplatten
hören. Auch an jenem Tag wurde es wieder still, die Scheibe
begann sich mit 78 Umdrehungen zu drehen und plötzlich
hörten wir den Gesang des damals sehr berühmten Tenors
Tito Schipa. Mit einer kräftigen, schwingungsvollen Stimme
begann er eine Arie aus dem vierten Akt der Oper La Favorita
von Donizetti zu singen: „Du freundlicher Geist meiner Träume,
an einem Tage leuchtetest Du, dann aber verlorst du dich. Es floh vom
Herzen die weite Hoffnung, ihr Larven der Liebe fliehet dahin.“
Von der ersten Note an überfiel mich ein Schauer.
Was dieser Schauer bedeutete,
verstand ich erst im Laufe der Jahre. Denn in der Tat lässt
allein die Zeit verstehen, was ein Same ist und
in sich trägt (wie ja das schöne gleichnamige Lied Il
seme zum Ausdruck bringt). Man kann verstehen, was ein Same ist,
wenn man seine Entwicklung schon gesehen hat. Wenn man aber den
Samen zum ersten Mal sieht, kann man nicht verstehen, was er
enthält. So war für mich jener erste Augenblick des
Schauers, in dem ich jene letzte Sehnsucht wahrnahm, die das
Herz des Menschen definiert, wenn es nicht zerstreut wird durch
Eitelkeiten, die sich doch in wenigen Augenblicken wieder auflösen.
Es ist die Sehnsucht des
Herzens, die dauert, während man tanzt und wenn man danach nach
Hause geht. Diese Einsicht verdanke ich einer anderen Erfahrung,
die ich lange Zeit danach machte. Während der ersten Jahre
meiner Lehrtätigkeit an der Universität bin ich der
Einladung einer Gruppe von Studenten zu einem Sylvester-Essen
gefolgt. Nach dem Essen fingen die Studenten an, zu tanzen. Ich
schaute ihnen von meinem Platz aus zu. Plötzlich stand
ich auf und sagte: „Bleibt mal stehn!“ Etwas verwundert
blieben sie stehen und ich sagte zu ihnen: „Es gibt einen
Unterschied zwischen euch und mir: Ihr tragt in diesem schönen
Spiel, in dieser gefälligen Bewegung, in dieser affektiven
Beziehung eine letzte, schreckliche Zerstreuung in euch, und ihr
bemerkt den Samen nicht, der darin steckt, einen Samen der
Traurigkeit. Wenn das Fest zu Ende ist und ihr nach Hause geht, sagt
ihr: ,Ciao! Bis morgen!' Ihr geht auf euer Zimmer und legt euch ins
Bett. Und dann wird dieser Same diejenigen unter euch bedrängen,
die ein Minimum an menschlicher Empfindsamkeit bewahrt haben. Er
wird sie stechen, wie wenn man beim Hinlegen einen Stein unter der
Schulter spürt. Dieser Samen, den ihr nicht bemerkt, der am
Ursprung eurer Freude am Tanze und am Ursprung der Traurigkeit
steht, die in euch aufkommen wird - kaum spürbar und dann vom
Schlafe verbrannt - dieser Samen ist ein Samen der Melancholie: die
charakteristische Melancholie für etwas, das noch nicht
erfüllt ist, für etwas, das noch fehlt.“ In jener
ersten Klasse des Gymnasiums hatte ich im Lied von Tito Schipa genau
jenen Schauder von etwas Fehlendem verspürt. Aber nicht
etwas, das dem wunderschönen Lied der Romanze von Donizetti
fehlte, sondern was meinem eigenen Leben fehlte. Etwas, das fehlte
und das nirgendwo Befriedigung, Unterstützung, Erfüllung
und Antwort fand.
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