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Editorial
Die Dringlichkeit der Vernunft


Seit einigen Monaten wird in Italien über den Glauben und seinen Wert für die Öffentlichkeit debattiert. Anders gesagt geht es um seine Beziehung zur Vernunft und um die Frage nach seinem Einfluss auf das gesellschaftliche Zusammenleben und seine Probleme. Eine solche Debatte hat uns stets betroffen. Comunione e Liberazione war gerade in dieser Frage oft Gegenstand der Neugierde aber auch der Polemik. Dabei wurde die Bewegung einerseits mit Sympathie, andererseits mit Misstrauen betrachtet, weil sie in einem säkularisierten Land bekräftig hat, dass Gott lebt, dass er gegenwärtig ist und mit allem zu tun hat. Mit Sympathie blickten vor allem die unabhängigen Geister des Katholizismus auf sie, also diejenigen, die sich nicht damit zufrieden geben, Gott und das Christentum als altes Werkzeug zu betrachten, das gerade mal für Beerdigungen und Predigten taugt. Mit Misstrauen blicken hingegen jene auf CL, die sich als Erben einer Tradition verstehen, die sich selbst als aufgeklärt definiert, und die meinen, die Frage nach Gott ins Geschichtsregal ablegen oder unter individuellen Pathologien abheften zu können.
Die Debatte ist also nicht neu. Aber einige Ereignisse haben sie erneut angeheizt. Zunächst ist unter den Laien eine Art «Dissens» gegenüber jenen laizistischen und entschieden antireligiösen Haltungen entstanden, die sich üblicherweise in heiklen Fragen zu Wort melden. So haben einige dieser Laien beim Referendum über die künstliche Befruchtung der katholischen Position einen größeren Respekt gegenüber der Vernunft und eine größere Hellsichtigkeit über die kulturelle Situation der Gegenwart zuerkannt.
Ferner werfen Phänomene wie der islamistische Terrorismus oder die Migration mit ihren religiösen Implikationen Fragen auf, die man nicht einfach auf die angebliche Identität der anderen zurückführen kann. Zumal sie auch einen deutlichen Unterschied zwischen dem Christentum und anderen Antworten auf das religiöse Problem aufzeigen. Zu diesen Phänomenen kommen andere, nicht weniger bedeutende hinzu, die auf eine Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts hinweisen. Dabei zeigt sich eine Auflösung der Gründe des Zusammenlebens und der Spannung auf das Ideal des Gemeinwohls.
Drittens kommt ein weiterer entscheidender Faktor ins Spiel: Die kraftvolle menschliche Faszination, die Person und Lehramt von Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. ausüben. Für jene, die Verantwortung angesichts der großen Probleme unserer Zeit übernehmen wollen, gehören sie zu den wenigen wirklichen Bezugspunkten.
Wir wissen wohl, dass sich das Christentum durch ein Leben und nicht durch Debatten mitteilt. Deshalb erwarten wir von den Diskussionen auch kein großartiges Wachstum des Glaubens. Im Gegenteil, manchmal überfällt einen Ernüchterung und Mutlosigkeit angesichts der Kleinkariertheit bestimmter Argumente, wie sie etwa in den beiden Kommentartiteln von La Repubblica zum Ausdruck kommen: «Wenn der Papst Gesetze machen will» oder «Weshalb wird Ruini nicht Senator».
Dennoch übt das Christentum ganz offensichtlich eine große Anziehungskraft auf Menschen aus, die sich nicht hinter Vorurteilen oder Berechnungen verschanzen. Und hier stellt sich die Frage nach den Gründen. Benedikt XVI. hat diese in jüngster Zeit bei zwei Gelegenheiten deutlich gemacht: Bei einer seiner Mittwochskatechesen und bei einer Botschaft an einen Kongress in Norcia. In seinem Kommentar zum Psalm 134 erinnerte der Papst an Gottes Mahnung an Israel, es habe den Götzendienst gewählt. In der Tat besteht die wirkliche Alternative nämlich nicht zwischen dem Glauben an Gott und dem Nichtglauben. Denn der Glaube ist eine Gabe, eine Gnade. Die wahre Alternative besteht zwischen dem, der möglicherweise auf dramatische Weise die Hypothese akzeptiert, dass es Gott gibt, und dem, der dies ausschließt und damit zum Sklaven der Götzen wird - «ein Werk von Menschenhänden, ein Produkt menschlicher Sehnsüchte». Dies wird in unserer Gesellschaft offensichtlich. Wir sind von Idolen umgeben, die nicht dem Herzen des Menschen entsprechen und ihn in einer Verzweiflung zurücklassen, die allen und allem gegenüber gleichgültig ist. Viele Laien haben die Trockenheit und Falschheit der vielen Idole mit den Händen berührt. Und das Idol, das die Menschen im vergangenen Jahrhundert am meisten verherrlichten, war der Staat.
So ist es kein Wunder, dass die neuen laikalen Prediger gleich von einer Invasion sprechen und Barrikaden errichten, um den Vorgarten ihrer Gewissheiten zu verteidigen, wenn der Papst auf etwas verweist, das dem Staat vorausgeht - nämlich auf einen Vater, der größer ist als der Staat, sich aber nicht ebenso als Übervater gebärdet, einen Vater, der in die Natur seiner Söhne etwas Unverletzliches eingeschrieben hat. Die freien Menschen, die Glauben oder eben keinen Glauben haben, ohne aber ihre Tore vor der Möglichkeit einer Neuheit zu verschließen, erkennen etwas Vernünftiges, Wahres und Dringliches in dieser Botschaft.