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Irland - Brief
Die wohlwollende Wirklichkeit


Ein Gymnasiast schreibt Don Giorgio Pontiggia einen langen Brief über seinen Sommeraufenthalt in Irland, seinen Ferienjob, das Gebet und die Wiederentdeckung der Schönheit des Lebens

Diesen Sommer war ich zwei Monate in Irland für einen Ferienjob. Ich war dort allein in einem abgelegenen Ort. Trotzdem habe ich den schönsten Sommer meines Lebens verbracht. Es wäre nicht so gewesen, glaube ich, wenn ich nicht zwei Tage vor der Abfahrt zu der Freizeit mit Jungendlichen der Bewegung gegangen wäre. Dort lernte ich eine Methode, wie man auch in Irland, zumal unter Unbekannten, in Fülle leben kann. Meine Aufgabe bestand darin, in einem Hotel Zimmer aufzuräumen. In den ersten zwei Wochen musste ich fünfmal umziehen. Am Ende wurde ich in einem Haus mit den anderen Mitarbeitern untergebracht. Wir waren dort zu fünfzehnt. Ich teilte das Zimmer mit zwei muslimischen Jungen aus Bangladesch.

Mit Laudes und Komplet
Am ersten Tag fühlte ich mich völlig verloren und dachte, die schöne Erfahrung bei der Freizeit und überhaupt diejenige der vergangenen Monate seien bloß flüchtige Gefühle. Ich konnte nur beten, und so habe ich angefangen, jeden Tag Laudes und Komplet zu beten. Ich entdeckte, dass die Verse der Psalme und der Fürbitten gerade das zum Ausdruck brachten, was ich mir wünschte. Oft beschrieben diese Worte genau das, was ich im Augenblick lebte. So habe ich verstanden, dass mein Unmut nur aus meinem innerlichen Selbstbemitleiden herrührte. Wenn ich versucht hätte, auf die Wirklichkeit zu schauen, so wie Jesus uns immer gesagt hat, dann hätte sie sich als etwas Großartiges erwiesen. So entdeckte ich, dass der Herr unsere Bitten durch die Umstände erfüllt und diese machen uns glücklich, weil wir entdecken, dass sie vom Geheimnis geschaffen werden. Man kann die Fülle der Dinge und alle Aspekte der Wirklichkeit nur in dem Bewusstsein erleben und genießen, dass die Wirklichkeit Christus gehört. Demgegenüber sind die Menschen heutzutage oft unfähig, etwas zu genießen - in Irland noch mehr als in Italien. Sie können das beste Bier der Welt trinken, die schönste Freundin der Welt haben, ohne dass dies in ihnen etwas verändert. Ja, es passiert das, was Don Giussani einmal sagte: Sie gehen zu Bett und spüren dabei einen Stachel, ohne zu wissen, was es sei.
Schon einige Tagen später spürte ich eine Veränderung in mir. Ich wünschte nur, jeden einzelnen Augenblick auszukosten, indem ich ihn Gott hingab und Ihm für das dankte, was Er geschehen ließ. Dabei entdeckte ich, dass man auf diese Weise viel besser lebt. In mir wuchs dann der Wunsch, allen mitzuteilen, was ich entdeckt hatte. Ich konnte nicht umhin, dies zu tun. Es drängte mich unaufhaltsam. Am Anfang war ich davon so begeistert, dass ich glaubte, ich könnte innerhalb von zwei Wochen allen Personen im Hotel das Seminar der Gemeinschaft vorschlagen. Die Wirklichkeit erwies sich aber als ganz anders, und so habe ich entdeckt, dass das wahrste Zeugnis in einem andersartigen Blick auf all mein Tun besteht.
Am ersten Tag, als ich alleine die Hotelzimmer aufräumen musste, war ich sehr müde und hatte Angst, die Arbeit schlecht zu machen. Und so habe ich mir sofort gesagt: «Entweder gebe ich Gott diese Arbeit hin und Er wird mir auch hier helfen, oder das Ergebnis wird abscheulich und ich selber werde traurig sein.» So fing ich an, leise das Lied Ich gebe dir alles von mir hin zu singen, und wiederholte ständig das Stoßgebet Veni Sancte Spiritus. Veni per Mariam. Am Ende des Tages waren meine Chefs sehr zufrieden mit mir und ich noch mehr, weil ich wusste, dass alles zur Ehre Gottes war.

Wunder, die sich ereignen
Durch solche Begebenheiten wird man sich der Wunder bewusster, die sich ereignen. Zum Beispiel: Wir hatten zwei freie Tage in der Woche, das heißt die Möglichkeit auszuflippen, auf Jagd nach einem Mädchen zu gehen, Bier literweise zu trinken, statt dessen ... spülte ich an einem freien Abend nach dem Abendessen die Teller, was für unseren Lebensstil ein außerordentliches Ereignis war. Gegen 21.00 Uhr, nachdem ich das Geschirr aller Mitbewohner gespült hatte, packte ich das schwierige Unternehmen an, unsere Küche und unser Wohnzimmer zu putzen. Gegen 23.00 Uhr war ich fast fertig. Gerade in dem Augenblick kam ein polnisches Mädchen, Ula, zurück nach Hause und schaute auf mich voller Staunen: «Oh Jesus, are you cleaning?!» Kurz darauf sagte sie mir, dass der Kühlschrank kaputt sei, und bat mich darum, ihn zusammen mit ihr zu reparieren. Ich sagte ihr zu. Ich wusste nämlich noch nicht, auf was ich mich eingelassen hatte. Sie öffnete den Kühlschrank: Die Lebensmittel waren mehr als verschimmelt! Wir fassten Mut, entfernten die verfaulten Sachen und machten alles sauber. Am Ende brachten zwei deutsche Jungs den Müll weg.
Am Tag danach machte ich mich an das Schwierigste: das Bad zu putzen. An dem Tag hätte ich in die Stadt gehen können, zum Bummeln und zum Shopping. Die Versuchung war groß. Aber dann kamen mir die Worte Don Giussanis in den Sinn, die ich in der Juni-Ausgabe von Spuren gelesen hatte: Es gilt, die eigenen Entscheidungen mit den Bedürfnissen der Gesellschaft und daher des christlichen Volkes zu vergleichen. An jenem Tag war mein Platz dort. So machte ich mich, mit den notwendigen Werkzeugen bewaffnet, an die Arbeit und putzte das Bad. Nach vier Stunden harter Arbeit war das Bad wieder brauchbar.

Man muss Wache halten
Das ist die Herausforderung: immer so zu leben, weil es viel schöner ist. Trotzdem war ich dort von vielen Dingen zerstreut, und hier zu Hause noch mehr. Die Zerstreuung wird fast zur Gewohnheit. Deswegen muss man immer Wache halten, wie wir im italienischen Volkslied Hymne der Wächter von Assisi singen. Man soll sich nicht entmutigen lassen, denn, wie im Hebräer-Brief zu lesen ist - so scheint mir - «Ihr habt im Kampf gegen die Sünde noch nicht bis aufs Blut Widerstand geleistet.» Und was ist die Sünde? Etwas, was dir den Blick auf die Dinge, so wie sie sind, verhindert. Etwas, das dich daran hindert, die Wirklichkeit um dich herum ganz und gar zu genießen. Christus ist gekommen, um uns zu befreien. Die Kirche ist dazu da. Und wir sind immer durch eine Begegnung gerettet. An einem Samstag war ich erst um 19.00 Uhr mit der Arbeit fertig und hatte nicht einmal geduscht. Ich ging geschwind zur Messe. Dann, ohne vorher zu Abend zu essen, spielte ich Fußball mit einem polnischen Freund und einem Deutschen. Um Mitternacht schaffte ich endlich, einen Teller Nudeln zu essen und dann ging ich die Komplet beten. Ich war todmüde. In dem Augeblick kam ein polnisches Mädchen, Sylwia, zurück nach Hause und fragte: «Was tust du da?» Ich zögerte ein bisschen, dann sagte ich ihr, dass ich gerade betete. Sie schaute mich ganz verwundert an und fragte, welcher Glaubensgemeinschaft ich angehöre. Ich hatte kaum die Zeit, ihr zu sagen, dass ich katholisch bin, da umarmte sie mich schon. Alle meine Probleme und meine Müdigkeit wurden von jener Umarmung umfasst. Sie war die Bestätigung der Größe Gottes und der Tatsache, dass « Die Gemeinde der Gläubigen ein Herz und eine Seele war.» Ich verstand dabei dann auch, dass ich mit diesem Mädchen und ihrer Kusine Ula etwas aufbauen sollte.

Bücher und Zeitschriften
Über Giampi, ein Memores aus Dublin, besorgte ich mir zwei Exemplare von Der Religiöse Sinn auf Englisch. Ich schenkte Ula eins davon und ein Traces-Heft. Zwei Tage später traf ich Sylwia. Sie sagte mir, sie habe soeben mit der Lektüre des Buches angefangen. Es gefiel ihr sehr. Ich sagte ihr, ich würde ihr auch das Buch schenken und dann könnten wir uns darüber unterhalten. Wer hätte sich so was vorgestellt? An einem Samstagvormittag sagte sie mir, dass sie gerade dieses Buch brauchte, weil es auf eine neue Art und Weise vom Christentum spricht. Ich erzählte ihr von der Bewegung und von allem, was Don Giussani für mich getan hat. Ich gab ihr ein Erinnerungsbildchen von ihm und übersetzte den Satz unter dem Bild. Am Abend ging ich mit einem Freund in ein Pub. Dort traf ich auch Sylwia. Als mein Freund weg ging, blieben Sylwia und ich noch eine Weile dort. Sie fragte mich: «Was hältst du vom sechsten Gebot?» Ich fing mit einer «Predigt» im CL-Jargon an. Aber sie unterbrach mich und fragte mich schroff: «Aber du glaubst an diese Sachen?» Ich war erneut verblüfft: «Ja», sagte ich und sie bedankte sich bei mir. Sie hatte soeben ihren Freund verlassen, weil sie mit ihm nicht ins Bett gehen wollte, und sie fühlte sich alleine mit einer solchen Entscheidung. Ich sagte ihr, dass man um einer größeren Schönheit willen kein Sex mit der Freundin nach Belieben hat. Nur um einer größeren Schönheit willen - sonst ist es Moralismus, das heißt etwas noch Schlimmeres.
Am Ende sprachen wir über unseren Glauben, wie man ihn lebt und über die Lage in Polen und in Italien. Eines Abends, während wir zusammen Spaghetti aßen, fragte sie mich sogar, ob sie für unsere Bewegung geeignet sei.

Die Veränderung kommt aus der Ungeschuldetheit
Das Schönste an diesem Auslandsaufenthalt bestand darin, dass ich, ohne etwas Besonderes zu tun, und indem ich bloß einen andersartigen Blick auf die Wirklichkeit hatte, geschafft habe, sehr schöne freundschaftliche Beziehungen zu beginnen. Als ich wegfuhr, waren alle, auch meine Chefs und meine Mitbewohner aus Bangladesh darüber traurig. Wenn man Christus zugehört, ist die Ungeschuldetheit das erste Zeichen der Veränderung. Daraus verstehen die anderen, dass hinter dieser Haltung etwas steckt.
Eines Abends, als ich noch die Wohnung mit einem irischen Jungen teilte, entschloss sich dieser, seine Freundin mit ins Zimmer zu nehmen (hoffentlich war sie seine Freundin), um, sagen wir mal so, die Beziehung mit ihr zu vertiefen. Eine Weile bin ich ausgegangen, aber die beiden machten ungerührt weiter, und in jener ziemlich unangenehmen Situation sagte ich mir: «Diese beiden haben nichts verstanden, sie wissen nicht, was das Schöne im Leben ist; ich bin mir sicher, dass es so, wie ich jetzt lebe, viel schöner ist!» Und später kam mir folgendes Beispiel in den Sinn: Die Jungfräulichkeit ist wie, wenn man in die Tiefe des Meeres eintaucht, ganz eintaucht. Wenn du in den Tiefen des Meeres bist, fühlst du dich mit dem Meer eins, merkst du seine Geheimnisse, verstehst du das Leben des Meeres. Wenn du hingegen an der Oberfläche bleibst, magst du mal Spaß dabei haben, aber du bist gespalten, du bist gleichzeitig drinnen und draußen und nach einer gewissen Zeit wirst du die Kälte spüren und so musst du herausgehen und dich warm anziehen. Wenn du ganz eintauchst, fühlst du dich gut. So ist man froher und so ist es schöner. Nur dank einer Begegnung in der Gegenwart kann man diese Erfahrung machen. Ich habe die Gnade gehabt, diese Begegnung in Irland fortdauernd zu erleben und ich bete darum, dass dies auch zu Hause immer wieder passiert. Es ist ein ständiger Kampf gegen die Sünde, gegen die oberflächliche Gewöhnung an die Dinge.

Mattia, Como