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Thema - Erziehung
Das Geheimnis eines Erziehers, der sich ernsthaft mit dem Leben auseinandersetzt
Holly Peterson

Holly Peterson ist Dozentin an der Universität von San Francisco. Sie hat im November 2000 mit einer Doktorarbeit über den Beitrag der Pädagogik von Don Luigi Giussani zur amerikanischen Oberschule im 21. Jahrhundert promoviert. Darin erforscht sie das Verständnis von Erziehung und die kritische Methodologie Don Giussanis. In ihrer Analyse der Pädagogik untersuchte sie besonders den Aspekt der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler sowie die Grundlage dieser Beziehung. Schließlich ging sie der Frage nach, wie weit man die Pädagogik des italienischen Priesters im heutigen Bildungswesen der USA anwenden kann und welchen Beitrag seine Pädagogik zur Debatte um die Bildungsreform in den Vereinigten Staaten leistet. Zur Ergänzung der Arbeit veröffentlichte Peterson abschließend ein Interview mit Don Giussani, dem Gründer der Bewegung Comunione e Liberazione, das wir im Folgenden wiedergeben.

Im Wagnis der Erziehung schreiben Sie, dass Ihre Pädagogik für Lehrer in jedem Kulturkreis gilt. Welche Erfahrung hat Sie zu dieser Feststellung geführt?

Giussani: Ich habe meine Schüler am Gymnasium und an der Universität aber auch all jene, denen ich in diesen Jahren begegnet bin, stets aufgefordert, das, was sie hörten, die Urteile, die sie lasen, und auch die Ideen, die ich ihnen vermittelte, mit der eigenen ursprünglichen Erfahrung, mit den Forderungen und Evidenzen zu vergleichen, die für ihre eigene Menschlichkeit grundlegend sind. Ich habe nie von ihnen verlangt, meine Worte als wahr hinzunehmen, sondern nur die genannte Methode zu lernen. Nur so kommt die Intelligenz ihrem Wesen nach zum Tragen. Bei meinem erzieherischen Bemühen habe ich stets versucht, diese Methode zu achten. Ich meine, sie ist für jeden wesentlich, der bei der Erziehung sich selbst und anderen gegenüber, an die er sich richtet, wahr und aufrichtig sein will. Nur so wird die erzieherische Beziehung zur Quelle der Freiheit und zur Möglichkeit eines wahren und authentisch «kritischen Bewusstseins».
Der Inhalt einer Erziehung kann nur in der Mitteilung dessen bestehen, was den Grundforderungen des Lebens entspricht und ihnen angemessen ist. Hier liegt der Grund, weshalb der, der erzieht, gleichsam gezwungen ist, stets jung, das heißt stets offen gegenüber der Wirklichkeit zu sein und die Worte, die er möglicherweise seit Jahren sagt, immer wieder als neu zu empfinden.
Diese Methode und dieses Ziel der Erziehung haben mich gelehrt zu zeigen, wie der christliche Glaube auf die Forderungen des Lebens antwortet und wie er damit eine höchste Wertschätzung der Vernunft ist. Ich habe dies in den ersten Jahren meines Lebens als Erzieher als wahr und wesentlich empfunden, als ich zu den so genannten «Raggio» einlud. Es waren Treffen in der Schule, bei denen wir über die eigenen menschlichen Erfahrungen nachdachten. Es kamen die verschiedensten Leute, von den Atheisten über die Juden bis zu Protestanten. Es ging darum, die eigene Menschlichkeit ernst zu nehmen, der ursprünglichen Wirklichkeit auf den Grund zu gehen, die in einem jeden von uns ist, und zwar im Vergleich mit einem Vorschlag, der den gelebten Erfahrungen und den empfundenen Forderungen mehr vernünftigen Sinn zu geben vermochte.

Als Sie über die Erziehung zu schreiben begannen, war Ihnen da die Entwicklung in der amerikanischen Bewegung zur Schulreform bekannt?

Meine ersten Schriften über die Erziehung entstanden großenteils auf Grund besonderer Anlässe wie Begegnungen und Kongresse. Deshalb habe ich zu der jeweiligen Zuhörerschaft im Bewusstsein gesprochen, dass das, was mir gegeben worden war und mir am meisten am Herzen lag, auch eine Antwort auf die Fragen und Erwartungen der Jugendlichen sein konnte. Mir wurde aber oft deutlich, dass ihre Art zu denken und zu handeln, stark von der laizistischen und marxistischen Kultur beeinflusst war, in der sie lebten. Sie betonten, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, die Notwendigkeit des «Erfolgs» im Leben und die Kraft der menschlichen Energie, auf der für sie alle Hoffnung aufzubauen hatte. Eigenartigerweise hatte der amerikanische Pragmatismus auf beide Haltungen einen bedeutenden Einfluss, auch was das Verständnis der Erziehung betraf. Ich habe John Dewey (US-Pädagoge, 1859-1952) nicht nur als Vorreiter der «gesellschaftlichen Effizienz» angesehen, sondern auch als Schul-bildend. Sein Einfluss findet sich bis heute in den jüngsten Erziehungstheorien.
Während meines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten Anfang der 60er Jahre konnte ich an Studiengruppen teilnehmen, die sich mit dem Problem von Erziehung und Seelsorge befassten. Nach kurzer Zeit wurde ich mir bewusst, dass das ganze Problem sich allein auf die Anwendung von Techniken und den Gebrauch von Instrumenten konzentrierte. Das Subjekt und damit der Ausgangspunkt wurde dabei völlig vergessen. Wie aber die gesamte christliche Tradition lehrt, ist die Erziehung im Wesentlichen keine Frage der Mittel und Instrumente, die sich eine Gemeinschaft zulegt, sondern eine Frage der Wahrheit des Lebens dessen, der erzieht, sowie der Gemeinschaft selbst. Es ist deshalb ein schwerer Fehler der Perspektive, wenn man sich auf die Techniken und Methoden fixiert, denn dies höhlt die erzieherische Dynamik aus.

In "Porta la speranza" schreiben Sie, dass eine Krise der Jugend stets auch eine Krise der Erziehung ist. Können Sie dies erläutern?

Ich sprach von zwei Dingen, die man unterscheiden muss. Vor allem bezog ich mich auf die Jugend als jenem Moment in der Lebensgeschichte jedes Menschen, in dem man sich mehr als zu anderer Zeit mit der Tradition auseinandersetzt, der man angehört, mit dem Verständnis des Lebens, den Werten, Überzeugungen und Haltungen, die die Eltern und der Lebenszusammenhang einem mitgegeben haben. Die Metapher des Jugendlichen, der seinen Rucksack beim Erreichen eines bestimmten Punktes vom Rücken nimmt, vor sich hinstellt und durchschaut, um zu sehen, was er Gutes darin findet, verdeutlicht diesen Übergang gut: Es ist der Augenblick der Bewährung, in dem der, der erwachsen werden will, sich dessen bewusst wird, was für ihn gut und was für ihn schlecht, was wahr und recht ist, so dass er diesem bewusst und entschieden zustimmt und das aufgibt, was verdorben oder Ausdruck einer bestimmten Zeit und bestimmter Umstände ist. Diese «Krise» hat keinen negativen, sondern einen positiven Wert, weil sie erlaubt, das, was man erhalten hat, zu bewerten und das Wertvolle zu behalten. Es kann aber in bestimmten geschichtlichen Zeiten eine Krise der Jugend geben, (wie zu Beginn der 60er Jahre, die sich dann in der darauffolgenden Zeit auf noch dramatischere Weise wiederholen sollte), wo diese sich selbst überlassen zu sein scheint. In diesen Fällen werden die Jugendlichen ihrer Möglichkeit beraubt, sie selbst zu sein und gültige und gewisse Urteils- und Auswahlkriterien zu besitzen. Dann hat das Umfeld oder, wie wir heute sagen würden, die vorherrschende Meinung ein derartiges Übergewicht gewonnen, dass es das Gewissen durchdringt und alle gleichschaltet, entsprechend dem, was die Macht des jeweiligen Augenblicks vorgibt. Wenn diesem Einfluss der Umgebung nicht angemessen begegnet wird, dann ist es für einen Jugendlichen schwierig, auf wahre Art und Weise zu reifen. Es hilft aber ebenso wenig, ihn aus dem Umfeld herauszunehmen, so dass er sich in traditionalistische und schematische Formen versteift. Statt dessen muss man mit ihm eine Auseinandersetzung aufnehmen, damit er nichts als offensichtlich oder selbstverständlich versteht, sondern sich allem bewusst wird, um in allen Dingen die Gründe zu suchen, damit er das, was er empfindet und liest, beurteilt und bewertet. Dadurch findet er auch aus alten Schemata heraus und schafft etwas Neues. Damit dies geschehen kann, braucht es aber reife Personen, die gültige Überzeugungen besitzen und dem Jugendlichen erlauben, sich mit einer Erklärungshypothese der Wirklichkeit zu vergleichen, und zwar nicht so sehr von einem praktischen oder moralischen Standpunkt aus (dies ist eine Konsequenz), sondern von einem ideellen Standpunkt aus. Eine Generation von Erwachsenen ohne Überzeugungen kann nur die eigenen Ängste und enttäuschten Erwartungen mitteilen. Sie werfen die Jugendlichen damit in eine Krise, die von Verlust, Ungewissheit und Konformismus geprägt ist.

Was ist die größte Herausforderung für den Erzieher zu Beginn des 21. Jahrhunderts?

Dieselbe wie in den vorangegangenen Jahrhunderten: Sie müssen aufrichtig sein, Menschen, die ihr Leben so bis ins Letzte leben, dass sie nicht umhin können, dies anderen mitzuteilen. Die Frage, die sich ein Erzieher stellen muss, ist nicht so sehr: «Was muss ich tun?» oder «Wie muss ich handeln?», sondern: «Wer bin ich?» Und was jemand ist, hängt nicht von ihm ab, sondern von einer Wahrheit, einer Fülle, einer Kraft, der er begegnet ist und die ihm gegeben wurde. Von diesem «Was bin ich?» aus kann eine neue Gegenwart entstehen auch in den Einzelheiten, eine immer neue Wiederaufnahme des Lebens und ein ständig neuer Vorschlag eines großen Horizontes für das Leben. Nur so kann man beim Jugendlichen die Kraft und Zuneigung für eine Zustimmung zu den großen Idealen wecken, für die das Herz des Menschen geschaffen ist und nach der es sich sehnt. Man muss dabei deutlich machen, dass sie mit dem eigenen Leben zu tun haben und konkret sind. Wenn heute eine Verwirrung über die einzelnen Konsequenzen herrscht, dann klärt man dies nicht, indem man auf ihnen beharrt. Statt dessen muss man zu dem zurückkehren, was am Ursprung steht, also zu dem, was ein Jugendlicher auf Grund seiner natürlichen Einfachheit, die er noch besitzt, als wahr und schätzenswert erachtet. Alles Übrige folgt dann fast automatisch und wird dann bewusst und mit reifem Ernst angenommen. Dies ist es, was «den Alltag heroisch und den Heroismus alltäglich» machen kann.

Welchen Rat würden Sie nach ihrer 50-jährigen Erfahrung als Erzieher einem jungen Lehrer zu Beginn des 21. Jahrhunderts geben?

Er sollte sich ernsthaft auf das eigene Leben einlassen. Wer die Antwort auf das eigene menschliche Verlangen aufrichtig und leidenschaftlich lebt und in dieser ständigen Arbeit den Wert seines Verständnisses vom Leben immer neu bewährt, wird fast natürlich zu einer Autorität für die Jugendlichen. Dieses Engagement übersetzt sich auch in einer Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition, also mit jenem Reichtum, der einen jeden von uns in einen Vergleich mit der Wirklichkeit wirft und der neu gelebt und mitgeteilt werden muss. Das Vergangene kann kein neues Interesse wecken, wenn es nicht in bestimmter Weise von jemandem in der Gegenwart gelebt wird - die Gegenwart ist die wesentliche Kategorie der Erziehung.
Dann muss er stets bereit sein zu lernen. Alles, was ich gesagt und geschrieben habe, ist umfassend aus der Erfahrung und dem Dialog mit anderen hervorgegangen.
Schließlich muss er eine Gewissheit besitzen. Denn diese zwingt ihn, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und aufrichtig gegenüber anderen zu sein. Man kann nur auf einer Gewissheit aufbauen. Man kann nur erziehen, wenn man jenes Maß an Wahrheit mitteilt, das bereits zur Erfahrung im eigenen Leben geworden ist.