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Urteil
Wie das Urteil entsteht
Giorgio Vittadini

Die erste Form der Antwort ist das Urteil, was bedeutet, sich die Dinge bewusst zu machen.
Wie kann man sich unter dem Bombardement Hunderter Interpretationen ein Urteil bilden, ohne Gefangener von Klischees und Sklave der Macht zu werden? Jeden Tag erleben wir die Herausforderung der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, die eine Frage an uns richtet und zum «Problem» wird. Das Leben spielt sich dann in der Antwort ab, die ein jeder auf die Probleme der Wirklichkeit gibt.
Die im Folgenden gedruckte Mitschrift eines Gesprächs von Giorgio Vittadini mit Gymnasiasten ist ein Beispiel für die Verwirklichung eines kritischen und systematischen Bewusstseins der eigenen menschlichen Erfahrung. Ob ein Urteil ein eigenes und intelligentes ist, hängt davon ab, ob das Bewusstsein einer Zugehörigkeit dahinter steht.
Sechshundert Jugendliche und Erwachsene sitzen im Hotel Planibel und erwarten Vittadinis Zeugnis. Manche kennen ihn, andere wissen nur, dass er an der Uni unterrichtet und eine interessante Person sein soll. Er will über die Sehnsucht, das Glück und das Urteil reden. Über das, was einen Menschen ausmacht. Für die Jugendlichen ist es eine Gelegenheit, jemanden zu treffen, der das Interesse für die Wirklichkeit als ganzes wach hält: um auf die Frage nach dem Sinn seiner selbst und der ganzen Wirklichkeit eine Antwort zu geben. Also jemand, der ein Interesse für alles weckt, der dich alles beurteilen lässt. Darum geht es: zu erlernen, ein Urteil zu fällen.

Ich möchte euch vier Beispiele geben, wie man normalerweise ein Urteil erarbeitet.
Terrorismus. Vor einem Jahr gab es das Massaker unter den Kindern in der Schule von Beslan in Ossetien. Seitdem gab es etliche terroristische Akte verschiedenster Art. Was sagt die verbreitete Meinung? Es seien immer Reaktionen auf vorheriges Unrecht. Der israelisch-palästinensische Konflikt, der Irak-Krieg, das erlittene Unrecht. Man geht beliebig weit zurück und versucht herauszufinden, wer schuld ist. Und bleibt dabei stehen.
Die Naturkatastrophen. Der Tsunami zu Weihnachten und jetzt der Hurrikan Katrina. Tausende von Toten. Bei wem kann man sich beschweren? Wo das möglich ist, bei den Menschen. Bush ist schuld, der das Kyoto-Protokoll nicht unterzeichnet hat, und jetzt verursacht der Treibhauseffekt vernichtende Wirbelstürme. Wo das nicht möglich ist, beschwert man sich bei Gott. Mit der üblichen Frage: Wenn Gott gut ist, warum erlaubt er dann das Böse? Wobei man vergisst, dass vielleicht, wenn es mehr Kontrollen gegeben hätte ...
Der Kampf um die künstliche Befruchtung. Warum sollte man der Frau das Recht verweigern, das Kind zu bekommen, das sie will? Warum die Wissenschaft aufhalten, die Möglichkeit, mit Hilfe von Embryonen Heilmittel für tödliche Krankheiten zu finden? Es geht um den Fortschritt und das Recht (der Frau, nicht des Embryos).
Die Politik. Der Fall des Präsidenten der italienischen Zentralbank Fazio. Alles dreht sich um die eine Frage: Wer hat Recht? Oppositionsführer Prodi oder Regierungschef Berlusconi? Wer siegt? Eine Frage der Macht. Sicher geht es auch darum.
In all diesen Beispielen handelt es sich um die Alternative zwischen dem, der Recht hat, und dem, der schuld ist. Halten wir einen Moment inne.

Erste Vergessenheit
Es fehlt etwas. Wer gibt den Müttern von Beslan ihre verlorenen Kinder wieder? Wer antwortet auf die Sehnsucht der Opfer des Terrorismus nach Leben? Und dasselbe gilt für die Naturkatastrophen. Wer antwortet auf den Verzweiflungsschrei der Überlebenden? Und wenn wir festlegen würden, dass die Mörder das Recht hatten zu morden? Wenn der einzige Ausweg die Feststellung wäre, dass Gott böse ist? Was hat meine Sehnsucht mit all diesen Analysen zu tun? Don Giussani hat einmal gesagt: Wenn eines von den Opfern aufstehen könnte, einer, der jetzt nicht mehr da ist, würde er fragen: «Was ist mit meiner Sehnsucht nach Leben?» Egal ob nun die Natur oder der Mensch schuld ist, die Analyse der Schuldfrage schließt diese Sehnsucht aus. Das Erste, was man vergisst, ist die Sehnsucht nach Glück - und jeder hat ein Recht darauf. Eines der ersten Dinge, die Giussani uns gelehrt hat, ist genau das: Jeder ist einzigartig und unwiederholbar, jeder Mensch ist mehr wert als das ganze Universum. Normalerweise analysiert man die Masse, wenn man ein Urteil gibt, und geht nicht von der Tatsache aus, dass dieses Bedürfnis im Menschen steckt. Wer geht von diesem Schrei aus, von dieser Frage: Wer gibt mir die Zuneigung des toten Freundes wieder?

Zweite Vergessenheit
Es gibt aber eine weitere wichtige Vergessenheit: Man sieht nicht nur von der Sehnsucht des Menschen ab, sondern man will auch nicht wahrhaben, dass diese Sehnsucht zerstört worden ist. Man will also die Existenz des Bösen nicht wahrhaben. Indem man um jeden Preis nach dem Schuldigen sucht, vergisst man, dass der Mensch für das Leben geschaffen ist, aber etwas - in der Natur oder im Menschen - zum Tode führt. Man fragt nach Untersuchungsausschüssen, nach Programmen, die auf geeignete Weise den Schutz der Bevölkerung organisieren sollen, danach, dass die nächste Regierung die Probleme der Wirtschaft lösen soll ? und so weiter und so fort. Man sucht nach dem Schuldigen. So blendet man eine Teil der Wirklichkeit aus.

Die einzige Antwort: Christus
Aber gibt es etwas, gibt es jemanden (nicht eine abstrakte Behörde), der mich vom Bösen befreit? Der meine Sehnsucht wertschätzt? Das ist das wahre Urteil! Was konkret bedeutet: Wer kann den Müttern von Beslan Trost spenden? Wer kann denen neue Hoffnung geben, die Opfer des Terrorismus oder einer Naturkatastrophe geworden sind? Was kann den unzähligen Embryonen Recht verschaffen, die Tag für Tag zerstört werden? Wie ist es möglich, in der Politik von den Bedürfnissen des Menschen auszugehen?
Das Christentum ist diese Antwort. Unsere Zivilisation entsteht aus dieser Antwort. Denn es gab eben einen, der zu der weinenden Witwe sagte: «Frau, weine nicht. Ich bin bei dir.» (2) Oder zu Zachäus, dem Zöllner, dem Verbrecher: «Willst du neu anfangen? Fang mit mir an»; oder zu dem Blindgeborenen: «Schau!» Womit er die Pharisäer, die nach dem Schuldigen fragten, hinter sich ließ. In der Geschichte gab es einen, der sagte: «Ich kann euch von dem Bösen befreien. Nicht weil ich es erkläre, analysiere und entferne, sondern weil ich mit euch lebe und euch ein Beispiel gebe. Ich nehme das Böse auf meine Schultern und besiege es. Nur ein Christ kann zu einem Einwohner von New Orleans, der alles verloren hat, sagen: «Es gibt Hoffnung.» Was Don Orione zu den Einwohnern von Messina sagte, als er sie nach dem Erdbeben von 1908 besuchte: «Habt Hoffnung, Gott gibt niemanden auf. Weder die Toten noch die Lebenden.» In der Geschichte hat die Kirche zu den armen Leuten, den Unglücklichen gesagt: «Habt Vertrauen, Gott hat das Böse besiegt und ist bei uns.» Sie hat die Tränen getrocknet und sich an die Seite gestellt, um mitzugehen. Wie in Tarkovskijs Film Andrej Rublev (3), als der Mönch sagt: «Geh mit mir, hab Mut.» Das entspricht konkret der Sehnsucht nach Glück, die ein jeder hat. Es bedeutet, auf die Wirklichkeit zu schauen mit einer sicheren Hoffnung auf das Gute. Es ist das, was den Journalisten Walter Tobagi berührte, der von den Roten Brigaden ermordet wurde. (4) Wenige Wochen vor seinem Tod schrieb er im Corriere della Sera einen Artikel, in dem er ein Plakat zitierte, das wir in der Universität aufgehängt hatten: Er war berührt von der Tatsache, dass in einem so finsteren, von Gewalt und Terrorismus beherrschten Moment jemand von Hoffnung sprach.

Erste Art und Weise
Man kann nicht beim Bösen stehen bleiben. Auch wenn du hundertmal hinfällst, gibt es immer jemanden, der dir den Weg weist, der dir hilft, den Blick wieder aufzurichten. Wie bei der Gelegenheit, als ein Mann in der Beichte zu Don Giussani sagte: «Ich habe gemordet», und er antwortete: «Wie oft?» Ein anderes Beispiel ist Mutter Teresa von Kalkutta. (5) Was veranlasste sie, dort inmitten der Leprakranken zu leben? Es gibt etwas in der Welt, was dir sagt: «Geh, hab Vertrauen.» So wie Jesus zur Ehebrecherin oder zu Zachäus. In der Tragödie des Tsunami ist es wichtig, dass da jemand mit dem Kreuz in den Händen steht und die Messe feiert, denn das bedeutet zu bejahen, dass es eine Hoffnung gibt. Es ist eine ganz andere Art und Weise, die Wirklichkeit zu beurteilen und zu umarmen. Aus welchem anderen Grund hätte es sonst nach Carróns Beitrag auf dem Meeting in Rimini minutenlang Beifall geben sollen? Es war offensichtlich, dass jene Worte der Sehnsucht eines jeden entsprachen.
Der Ausgangspunkt ist die Entsprechung, die jeder erfahren kann. Wie auf dem Meeting dieses Jahres in der Begegnung mit einigen Persönlichkeiten wie dem Direktor der Tageszeitung Il Foglio, Giuliano Ferrara, dem Vizedirektor des Corriere della Sera, Magdi Allam, dem Vizepräsidenten der Juden in Italien, Claudio Morpurgo oder dem Präsidenten des Senats, Marcello Pera. Alle vier sind Nichtchristen, aber sie nehmen wahr, dass nur die Gegenwart der Fremden (6) - wie Eliot die Kirche nannte - die Hoffnung ermöglicht, denn in ihr wird die Sehnsucht des Menschen bewahrt.

Zweite Art und Weise
Inmitten einer Tragödie wie der des Tsunami oder des Terrorismus oder des wirtschaftlichen Niedergangs gibt es jemanden, der nicht aufhört zu hoffen, der die Hoffnung nachlebt, die die Kirche in die Welt bringt, und deshalb nicht aufgibt. Er tritt in Kontakt mit Leuten, bei denen die Sehnsucht wach gehalten wird. Man denke nur an die Beziehung zwischen Don Giussani und den buddhistischen Mönchen von Koyasan in Japan. Oder daran, wie er in den Zeitungen von den Juden spricht, von der Erfahrung der gemeinsamen Kindschaft. Das ist die Entstehung einer neuen, allumfassenden Freundschaft, die aus einem Urteil hervorgeht. Was wir zuerst suchen müssen, ist nicht eine Idee, sondern all jene, die diese Sehnsucht bewahrt haben, ihr in die Augen sehen, sie respektieren. Nur daraus kann der Dialog entstehen. Deshalb haben wir einige Moslems zum Meeting eingeladen.

Dritte Art und Weise
Irgendwann kommt der Punkt, an dem der Mensch will, dass die Sehnsucht eine andere Art und Weise wird, die Dinge anzuschauen. Um die Kirchengeschichte rankt sich ein Kranz von Werken der Nächstenliebe, die auf der materiellen Ebene auf die Sehnsucht des Menschen nach dem Guten gegen das Böse geantwortet haben. Denn das ist der konkrete Versuch, auf die Sehnsucht nach dem Guten, nach dem Glück zu antworten, gegen das Böse. Denkt an den heiligen Vinzenz von Paul, den heiligen Camillus von Lellis, an Don Bosco, Mutter Teresa, an die Krankenhäuser, an die Schulen, an die Werke der Nächstenliebe, die sie ins Leben gerufen haben. Auch heute. Das Ehepaar Zerbini in Brasilien, die Arbeit der Handwerker in Bethlehem. Das Video mit den Werken der Nächstenliebe, das auf dem Meeting lief, war ein leuchtendes Beispiel. Die Werke sind Versuche des Menschen, die Sehnsucht, den Glauben, zu einer Art und Weise werden zu lassen, das Leben und die Wirklichkeit menschlicher zu gestalten. Das Werk ist die Art und Weise, wie man sich in der Wirklichkeit bewegt.

Vierte Art und Weise
Aus so einer Position entsteht eine Offenheit um 360 Grad. Alles interessiert mich - nicht zufällig war auf dem Meeting von allem die Rede, von der Wissenschaft bis zur Wirtschaft und zur Kunst -, denn alles gehört mit zur Befriedigung der Sehnsucht nach Glück, die jeder Mensch in sich trägt.
Deshalb schauen wir auf jeden, der diese Hoffnung in der Welt sucht; der aus der Sehnsucht lebt; der sich dem Bösen nicht ergibt; der den sucht, der ihn befreit; der sich in jemandem wiedererkennt, der Werke aufbaut. Nicht auf jene, die etwas ausblenden, bei unfruchtbaren Analysen stehen bleiben, nur nach dem Schuldigen suchen und fragen, wer die Macht hat. Denn so wird der Atem kurz und das Glück ein purer Traum.
Wir müssen auf die schauen, die uns dieses Urteil lehren und es uns bezeugen, so wie es der Papst tut. Für mich war die Bewegung in all diesen Jahren genau das, seit der Zeit, als Giussani zuallererst schaute, ob wir die Plakate ausgestellt hatten, wenn er um Viertel vor acht in der katholischen Universität eintraf. Denn das bedeutete, dass wir unser Urteil im Detail angewandt hatten. Seitdem ist für mich die Bewegung dieser Faktor eines anderen Urteils geworden, einer Hoffnung für alle.