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CL - Equipe
Etwas, was in den Dingen verborgen ist
Don Julián Carrón

La Thuile, 27 - 31 August 2005

Samstagabend, 27. August 2005
EINFÜHRUNG


Jeder von uns ist mit einer Erwartung im Herzen, mit der Sehnsucht nach Erfüllung hierher gekommen. Je bewusster uns die Tragweite dieser Sehnsucht ist, desto mehr sind wir uns darüber im Klaren, dass wir selbst darauf nicht antworten können. Deshalb versteht man, dass dem Bewusstsein dieses Bedürfnisses am meisten die Bitte entspricht: Ein Anderer antwortet, und ein Anderer erfüllt. Wir selbst sind armselige Bettler um etwas, das wir uns nicht selbst geben können. Deshalb beginnen wir mit der Bitte an den Einzigen, der antworten kann, den Heiligen Geist.

Komm, Heiliger Geist

Ich möchte alle einzeln begrüßen und euch zu unserer Begegnung der Verantwortlichen in La Thuile herzlich willkommen heißen. Wir sind hier aus 70 Ländern angereist, wo die Bewegung präsent ist. Wir möchten besonders die Freunde aus Estland, Honduras, Südafrika und Indien begrüßen, die erstmals teilnehmen.
Unsere Begegnung kann nur von der empfangenen Gnade ausgehen, von der ihr bereits gestern in der Pressemitteilung lesen konntet: Von der Audienz, die ich gestern mit Don Pino und Cesana bei Papst Benedikts XVI. hatte. Ich habe ihn gefragt, ob ich euch seine Grüße übermitteln darf und er hat sofort geantwortet: "Sehr gerne!" Also einen herzlichen Gruß von Papst Benedikt XVI.!
Das Gespräch, das ich mit ihm hatte, betrifft auch das, was wir in diesen Tagen behandeln wollen. Er hat mich über alles gefragt. Und schon das allein beeindruckt. Eine so bedeutende Persönlichkeit, die unablässig fragt! Das ganze Gespräch war eine Frage nach der anderen. Ich habe versucht, so gut und zusammenfassend zu antworten, wie es geht. Die meiste Zeit haben wir mit der Frage nach der Erziehung verbracht.
Ich wollte daran erinnern, weil ich euch mitteilen wollte, welche Sorgen den Papst umtreiben und wo sein Interesse an unserer Erfahrung liegt. Damit will ich auch auf die Verantwortung hinweisen, die wir gegenüber dem Charisma haben, das uns gegeben wurde.
Vor allem aber, noch vor der Verantwortung gegenüber dem Charisma, haben wir Verantwortung gegenüber einem jeden von uns. Wir müssen uns als erstes darüber bewusst werden, dass wir uns nicht von den anderen unterscheiden. Auch wir sind dazu berufen, in denselben Umständen wie alle anderen zu leben. Und auch unser Kampf richtet sich gegen das Nichts. Wir sind nicht in Sicherheit. Uns wird nichts erspart. Wenn das Christentum sich also nicht immer neu unter uns ereignet, so wie für jeden, dem wir begegnen, dann wird die Zugehörigkeit zu Christus für uns früher oder später an Interesse verlieren und der Nihilismus wird siegen. Ich dachte in diesen Tagen daran, als ich den Applaus der Leute nach meiner Rede beim Meeting hörte. Denn der Applaus, so schien mir, galt eigentlich kaum mir selbst. Ich dachte: "Hinter jedem, der Beifalls klatscht, steht eine Geschichte, steht die Geschichte einer Begegnung und einer Bewährung dieser Begegnung. Denn es handelt sich nicht um sentimentale Menschen, die zufällig hierher gekommen sind." Jeder Einzelne von denen, die da waren, war von Christus fasziniert. Ohne dass dies immer neu geschieht, ohne dass jeder von uns von Christus fasziniert ist, ist es unmöglich, dass nicht auch in uns das Nichts siegt. Wir haben das Problem nicht gelöst. Das Drama lebt in einem jeden von uns weiter. Der Kampf findet jeden Tag aufs neue in unserem Herzen statt, im persönlichen, geheimnisvollen Gespräch des Ichs eines jeden von uns mit der Faszination Christi. Ohne den Sieg dieser Anziehungskraft wären wir besiegt; der Jüngste wie der Älteste, der, der zum ersten Mal hier ist, wie jener, der seit dem ersten Tag dabei war. Und wenn du morgen die Augen aufschlägst, dann beginnt das Drama von neuem.
Deshalb stehen wir auch nach dem Hinscheiden Don Giussanis wie zuvor, als er noch lebte, vor derselben Entscheidung: CL kann als Organisation vielleicht eine Weile fortdauern, wie eben bestimmte Dinge fortdauern. Oder es kann als Lebenserfahrung weitergehen, als Faszination, die das ganze Ich mitreißt. Und diese Herausforderung gilt jedem von uns.
Damit sind wir auch bei dem, was diese Tage prägen soll. Ich will das Drama der Beziehung eines jeden von uns zu Christus nicht um einen Zoll schmälern. Wir sind nicht hier, um uns das Drama zu ersparen, sondern um es unablässig wieder aufzunehmen. Dazu soll uns auch eine Veränderung der Art des Zusammenseins bei diesem Gestus helfen. Nach den Exerzitien der Fraternität, wo wir die Herausforderung unseres Verlangens nach Glück und Erfüllung durch eine "Hoffnung, die nicht enttäuscht," verspürt haben, möchten wir keine weitere Lektion anfügen, ohne zuvor über das Gehörte zu arbeiten. So haben wir uns gesagt: Wir schlagen allen unseren Freunden diese Arbeit vor. Denn die Bewegung ist keine Schule, wo man ab und zu eine Lektion macht, sondern eine gegenseitige Wegbegleitung zur Bestimmung. Die Bewegung wird uns interessieren, wenn sie uns zum Leben hilft zu voranschreiten, dazu, nicht dem Nichts zu unterliegen. Ansonsten hätten wir kein Interesse daran, eine Woche unseres Urlaubs zu verlieren, um hierher zu kommen.
Was ist also seit den Exerzitien geschehen? Was für Fragen sind aus unserer Arbeit entstanden? Was haben wir nicht verstanden? Wir sind hier, um uns dabei zu helfen, um erneut diese Dramatik in der Beziehung eines jeden von uns zu Christus aufzurichten. Wir werden am Morgen und am Nachmittag eine freie Versammlung machen, wo jeder von sich berichten kann, von den Fragen, die ihn bewegen, von den Schwierigkeiten, die er mit dem Vorschlag der Exerzitien der Fraternität hatte. Das soll ohne Bewertungen oder andere Dinge geschehen: Jeder soll seine Verantwortung vor Christus wahrnehmen, angesichts dessen, was ihm im Leben geschehen ist. Wir sind uns nur wirkliche Weggefährten, wenn wir die Fragen, die wir haben, ernst nehmen und sie gemeinsam angehen. Um zusammen zu sein, dürfen wir keine Angst haben, den Fragen ins Auge zu blicken: Wir sind nicht gezwungen, unseren Blick abzuwenden, weil wir uns vor allzu großen Fragen, vor Schwierigkeiten oder den Nöten, die uns bedrücken, ängstigen müssten.
Wir sind zusammen, um uns zu helfen, wieder zu sehen. Niemand soll gezwungen sein, verängstigter nach Hause zurückzukehren. Jeder kann hier ganz er selbst sein, er kann sich hier von allen angenommen wissen. Wir versuchen auf die Fragen so zu antworten, dass für jeden von uns der Weg klarer wird. Beginnen wir also damit, Don Giussani darum zu bitten, dass er uns in diesen Tagen hilft und die Gottesmutter, die uns begleitet, damit jeder mit einer noch größeren Faszination für Christus nach Hause zurückkehrt.

Montagmorgen, 29. August 2005
LEKTION

In der gestrigen Versammlung wurde erneut deutlich, dass es uns als wahre Söhne unserer Zeit, das heißt der "Moderne", schwer fällt, jenes "Etwas, was in den Dingen verborgen ist" anzuerkennen. Das heißt, wir reduzieren die Wirklichkeit auf einen Schein, und deshalb leben wir eine Beziehung zur Wirklichkeit, die das Geheimnis "ausgelöscht" hat, jenes "Etwas, was in allen Dingen ist". Wir können das auch Dualismus nennen: Auf der einen Seite die Wirklichkeit, auf der anderen das Geheimnis. Wir alle können sehen, wie weit dies geht, indem wir uns einfach fragen, was am heutigen Morgen geschehen ist: Wer von uns hat heute beim Blick auf die Wirklichkeit zum Geheimnis "Du" gesagt, zu jenem Geheimnis, das diese Wirklichkeit, dieses Ich, das aufsteht, hervorbringt? Wer war heute früh von Dankbarkeit erfüllt, weil Er da ist, weil das Geheimnis da ist, weil mein Ich mit all meinen Grenzen bereits von seiner Gegenwart ergriffen wurde und deshalb froh und dankbar ist? Und wenn wir alle uns dessen bewusst werden, wird uns klar, wie wenig vertraut uns das Geheimnis in unserer unmittelbaren Beziehung zur Wirklichkeit ist. Es ist wie ein Geheimnis, das von der Wirklichkeit losgelöst ist. Auf der anderen Seite steht dann ein Ich, das bereits aus sich heraus Bestand hat, und dem ich dann nur noch etwas hinzufüge.
Dieser Dualismus, der schon einen Augenblick nach der ersten Begegnung mit der Wirklichkeit entstehen kann, ist bereits der Anfang vom Sieg des Nihilismus. Denn der Schein ist nicht in der Lage, das Ich zu fesseln und zu überzeugen. Deshalb wird es sich auch nicht lange dafür interessieren. Nach und nach interessiert uns dann überhaupt nichts mehr. Wenn es aber diese Beziehung zur Wirklichkeit nicht gibt, dann kann das Ich sich nicht mehr aufrichten. Es bleibt in sich selbst verschlossen. Deshalb sagte heute früh auch jemand von euch, wie mir berichtet wurde: "Und wenn es überhaupt keine Sehnsucht gibt?" Ein Ich, das kein Verlangen mehr verspürt. Von diesem Nihilismus berichtete bereits vor Jahren der italienische Philosoph Del Noce: "Am Gängigsten ist heute der frohe Nihilismus, in dem Sinn, dass er völlig sorglos ist. Vielleicht könnte man ihn sogar durch seine Unterdrückung des unruhigen Herzens charakterisieren, von dem Augustinus spricht" [1]. Es fehlt jene Unruhe des Ichs: Und so sind wir beim Zeichen für den Nihilismus, der uns betrifft.
Damit wird auch verständlich, was Don Giussani in einer seiner Tischreden sagte: Das wirkliche Problem zeigt sich darin, dass es keine Erziehung mehr gibt. Das Problem besteht in der Tatsache, dass es keine Methode mehr gibt. Er berichtet dort eine Episode über den Sohn des italienischen Künstlers Manzù. Dieser war als Gymnasiast zu seinem Gemeindepfarrer gegangen, um ihm zu berichten, was Don Giussani lehrte und ihm aus seinen Aufzeichnung vorzulesen. Doch der Pfarrer sagte: "Siehst du, das macht alles kompliziert, während die Religion eine einfache Sache ist." Anders gesagt: Die Vernunft, die Suche der Vernunft, macht die Dinge kompliziert. Und oft scheint auch uns das der Fall zu sein. Eine Arbeit zu machen, macht das Leben komplizierter, die Vernunftgründe zu suchen, macht die Dinge ebenfalls schwieriger. Doch Don Giussani sagte stets das Gegenteil: "Nein, es erleuchtet, es erleuchtet" [2].
Wegen dieser Haltung, die keine Methode mehr kennt, ist Christus auch keine Autorität mehr, sondern ein sentimentaler Gegenstand und Gott ist zu einem Gespenst geworden und kein Freund mehr. Weil die Methode fehlt, wird alles sentimental.
Wir haben Glück, weil Don Giussani uns eine Methode hinterlassen hat, um den Dualismus und damit den Nihilismus zu besiegen. Deshalb müssen wir uns heute, wo wir uns erstmals nach seinem Verscheiden zur internationalen Versammlung treffen, entscheiden: Entweder wir nehmen sein Vermächtnis, das heißt seine Methode, die den Nihilismus überwindet, ernst, oder wir erliegen der sentimentalen Verkürzung, die er stets beklagte. Sein Vermächtnis, also seine Methode ernst zu nehmen bedeutet aber, sich in Don Giussani hineinversetzten, in diese Methode. Es ist also alles andere als Sentimentalität. Nur so wird man zum wahren Freund. Ansonsten wird Christus für uns keine Autorität mehr darstellen, wie Giussani sagte. Wenn wir die Methode nicht ernst nehmen, wird auch Giussani selbst für uns keine Autorität mehr sein, sondern - ob wir wollen oder nicht - ein sentimentaler Gegenstand.
Was er uns hinterlassen hat, ist eine epochale Wende, um auf das Drama unserer Zeit zu antworten. Auf jenes Drama, in dem wir berufen sind, unseren christlichen Glauben zu leben. Wir sind in diesen Augenblick, in diese unvergleichliche historische Epoche hinein berufen, die von folgendem Problem gekennzeichnet wird: Die Feindschaft gegenüber dem Geheimnis beim Blick auf die Wirklichkeit. Don Giussani sagte, dass unserer Kultur die liebevolle Erkenntnis verhindert. Damit wird diese von der Macht bestimmte Kultur zum Todfeind unserer Bestimmung, unseres Ichs ist. Auf diese wirklich historische Schwierigkeit antwortet Don Giussani mit seinem Vorschlag und seiner Methode. Auch Maria Zambrano sagt über diese Epoche: "Was gefährdet ist, ist dieses geheimnisvolle Band, das unser Sein mit der Wirklichkeit verbindet. Es ist etwas so Tiefes und Wesentliches, dass es unser Innerstes nährt" [3].
Gefährdet ist unsere Bindung an die Wirklichkeit, die Art und Weise, wie wir uns gegenüber der Wirklichkeit verhalten, angefangen vom ersten Augenaufschlag am Morgen. Wenn dies aber gefährdet ist und diese Bindung zur Wirklichkeit unsere "innerste Nahrung" ist, dann ist das, was das Leben ernährt, was ihm Nahrung gibt, nicht mehr vorhanden. Woher nehmen wir dann aber die "Nahrung" zum Leben? Woher nehmt ihr sie morgens, um euch selbst ins Gesicht zu schauen, um euren Kindern ins Gesicht zu schauen, um mit einer anderen Haltung zur Arbeit zu gehen? Woher nehmen wir diese "Nahrung"? Wir können zwar den Tag über unheimlich viel tun, aber unsere "Nahrung" ist nicht mehr vorhanden.
Wenn wir nicht verstehen, dass diese Bindung an die Wirklichkeit beschädigt ist, dann verstehen wir nicht bis ins Letzte, worin die epochale Wende des Charismas von Don Giussani besteht. Wir verkürzen es auf etwas Sentimentales, als wären wir eine kleine Spiritualitätsgruppe. Wir verstehen nicht die kulturelle Tragweite, die Hoffnung - für das eigene Ich und für die Welt - die daraus hervorgehen. Ohne dies zu verstehen, können wir diese Begegnung mehr oder weniger bewegt oder erregt verlassen. Doch das hält bestenfalls eine Woche vor. Dann wird es so sein wie vorher. Man lebt nicht aus Erinnerungen wie dieser. Wenn wir hier nicht lernen, wenn uns nicht geholfen wird, jene Bindung zur Wirklichkeit zu leben, die zur täglichen Unterstützung wird, dann ist auch diese unsere Versammlung sinnlos.
Giussani ist die Antwort auf diese Krise, und zwar nicht nur, weil er aus einem intellektuellen Blickwinkel heraus die angemessene Antwort gibt (auch andere hätten das aus diesem Blickwinkel heraus tun können), sondern weil er uns eine Methode an die Hand gegeben hat. Deshalb hat auch nur er ein Volk wie das unsere geschaffen. Hier liegt der Grund für die Bewunderung, die Hans Urs von Balthasar für Don Giussani hegte: Er war ein intellektuelles Genie, das staunend vor einem derartigen Volk stand. Don Giussani gelang es, eine Methode hervorzubringen, er hat einen Weg ermöglicht, der auf diese Krise antwortet. Man sieht es am Volk, das er hervorgebracht hat und es ist ihm gelungen, diese Trennung nicht auf sentimentale, sondern auf wirklich bewusste Weise zu überwinden. Er hat uns eine siegreiche Anziehungskraft vor Augen gestellt, so dass wir mit Möhler sagen können: "Ich meine, leben möchte ich nicht mehr, wenn ich ihn nicht mehr reden hörte" [4].

I. Vom Treffen auf die Wirklichkeit bis zum Du
Der erste Punkt dieser Methode lautet folgendermaßen: "Vom Treffen auf die Wirklichkeit bis zum Du". Don Giussani hat ihn im zehnten Kapitel des Religiösen Sinns beschrieben. Dort lehrt er uns die Wirklichkeit bis zu jenem "Etwas in der Wirklichkeit" zu durchschauen; er lehrt uns, jenes "Etwas, was in den Dingen verborgen ist", zu sehen.
Angesichts der Wirklichkeit muss man sich als Erstes von ihr treffen lassen. In diesen Tagen hat mich eine Aussage von Don Giussani am meisten beeindruckt, die er bereits 1946 an seinen priesterlichen Freund, Angelo Majo geschrieben hatte; zu einem Zeitpunkt also, als es die Bewegung noch überhaupt nicht gab. In den beiden Sätzen sieht man bereits die Genialität. Es ist sozusagen das zehnte Kapitel in einer Zusammenfassung: "Vor einigen Abenden habe ich beim Nachdenken entdeckt, dass du mein einziger Freund bist. Aber nicht auf Grund einer sterilen Exklusivität. Sondern auf Grund jener unaussprechlichen und vollkommenen Schwingung angesichts der "Dinge" oder "Personen". Ich erfasse es nicht, wenn nicht in deiner Weise zu reagieren" . Jene unaussprechliche Schwingung: Hier liegt das Kriterium seiner Freundschaft. Man ist ein Freund von Giussani nach diesem Kriterium, und nicht, weil man die "Theorie" am Besten beherrscht, besser oder konsequenter ist - was ohnehin nur kurz anhält. Es geht um jene unaussprechliche und umfassende Schwingung des eigenen Seins angesichts der Dinge oder angesichts von Personen, wie der seinen. Don Giussani bezeichnet Angelo Majo als einen Freund, als "seinen" Freund, nicht auf Grund einer sterilen Exklusivität, sondern weil er von denen, die er getroffen hatte, der einzige war, der so reagierte. Es tut mir leid, aber dem ist so: Man entscheidet nicht selbst darüber, man findet diese umfassende Schwingung der Dinge und Personen, denen man begegnet, vor. Es sei nur in Klammern angemerkt, dass dies auch dasselbe Kriterium ist, das Jesus in den Evangelien nannte: "Mit wem soll ich diese Generation vergleichen? Sie gleicht Kindern, die auf dem Marktplatz sitzen und anderen Kindern zurufen: Wir haben für euch auf der Flöte (Hochzeitslieder) gespielt, und ihr habt nicht getanzt [ihr habt nicht diese Schwingung gespürt]; wir haben Klagelieder gesungen und ihr habt euch nicht an die Brust geschlagen" . Es ist dasselbe Kriterium.
Deshalb müssen wir lernen, uns von der Wirklichkeit treffen zu lassen, diese unaussprechliche und vollkommene Schwingung zu erfahren. Die Voraussetzung hierfür ist aber, dass die Gabe der Wirklichkeit nicht ausgelöscht wird. So lautet ein genialer Gedanke von Hannah Arendt: "Die Ideologie ist nicht die naive Annahme des Sichtbaren [das heißt der Wirklichkeit], sondern dessen intelligente Absetzung" [7]. Wir können die Wirklichkeit in einem zweiten Augenblick auslöschen. Im Ersten ist uns dies nicht möglich. Deshalb müssen wir stets von jener ersten, einzigartigen Erfahrung mit der Wirklichkeit ausgehen. Wir sind bereits in der Wirklichkeit und müssen uns nicht in sie hineinversetzen. Wenn wir die Augen öffnen, sind wir in der Wirklichkeit, wie ein Kind, das die Augen öffnet und sich in seinem Zimmer vorfindet.
Wir alle erinnern uns an das zehnte Kapitel des Religiösen Sinnes: "Stellen wir uns vor, in unserem gegenwärtigen Alter, also mit unserem derzeitigen Entwicklungs und Bewusstseinsstand, geboren zu werden, aus dem Schoß unserer Mutter hervorzutreten. Was wäre die erste, die allererste Empfindung, das heißt der erste Faktor der Reaktion angesichts des Wirklichen?" Das Staunen. "Ich wäre ich von Staunen und Verwunderung über die Dinge ergriffen" Ergriffen! Wir müssen die Aussagen aufmerksam eine nach der anderen lesen: "ergriffen", nicht leicht berührt, nein. "Ich wäre über eine Gegenwart erstaunt und vom Abglanz dieser Gegenwart überwältigt [...] Es ist dies nichts anderes als die konkrete [...] Version des Wortes "Sein". Das Sein: nicht als abstrakte Größe, sondern als Gegenwart" [8]. Wenn man nicht so lebt, wenn man nicht davon beherrscht ist, dann ist man wie ein "erstarrter Erwachsener". Und dann hat man auch keinen Wunsch mehr, weil es nichts mehr gibt, was einen aufrichtet! Wer aber von der Gegenwart des Seins beherrscht ist, vom Anstoß des Seins, der ist sich unmittelbar bewusst, dass die Wirklichkeit nicht sein ist, und dass er deshalb abhängig ist.
Ich möchte mich nicht bei allen Abschnitten des Kapitels aufhalten. Ich bitte euch aber, sie so lange zu studieren, bis sie euch vertraut sind: Ein Blick auf die Wirklichkeit, der ausgehend vom Staunen über alle weiteren Schritte schließlich unweigerlich "Du" sagt. "Der Mensch wird also von der Gegenwart, der Anziehungskraft und dem Staunen in seinem Sein wachgerufen..." Diese Begegnung mit der Wirklichkeit, dieses "Aufeinandertreffen" mit der Wirklichkeit rüttelt uns erneut wach. Wenn der Bezug zur Wirklichkeit gefährdet ist, wird das Ich nicht mehr wachgerüttelt, und deshalb sagt man schließlich: "Und wenn es die Sehnsucht nicht mehr gibt? Wenn man dieses Verlangen nicht hat?" Beklagt nicht, dass es das Verlangen nicht gibt: Gefährdet ist die Beziehung zur Wirklichkeit. Und wenn jemand nicht den Weg findet, die Beziehung zur Wirklichkeit wiederherzustellen, dann wird es auch kein Verlangen geben. "Der Mensch wird also von der Gegenwart, der Anziehungskraft und dem Staunen in seinem Sein wachgerufen und ist dankbar und froh, weil diese Gegenwart auch für ihn wohltuend ist und eine Vorsehung bedeutet. An diesem Punkt wird er sich nun seiner selbst als einem Ich bewusst und erfährt das ursprüngliche Staunen von neuem und in einer Tiefe, die die Bedeutung und die Gestalt seiner Identität verfestigt" [9].
Die Gestalt meiner Identität, meines Selbstbewusstseins hängt vom Bewusstsein dieses Staunens über die Wirklichkeit ab. Dies ist der Beweis, dass ich die Wirklichkeit nicht ausgelöscht habe, dass die Ideologie nicht schon im folgenden Augenblick die Oberhand gewonnen hat. So ist mein Ich wach, dankbar und froh.
"Wenn ich aufmerksam, das heißt reif bin, dann kann ich nicht bestreiten, dass die stärkste und tiefste Einsicht für mich darin besteht, dass ich mich nicht aus mir schaffe, mich jetzt nicht selber mache. Ich gebe mir das Sein nicht, auch die Wirklichkeit nicht, die ich bin; ich bin mir "gegeben". Dies ist der Augenblick der Reife, in dem ich mich selbst als von etwas anderem abhängig entdecke" [10]. Also "Etwas, was in den Dingen verborgen ist".
"Wenn ich in mich hinabblicke, bis auf den Grund, woher entspringe ich? Nicht aus mir selbst, aus anderem. [...] Es handelt sich hier um eine Einsicht, die der menschliche Geist in seinen scharfsinnigsten Ausprägungen im Laufe der Geschichte immer wieder gemacht hat, nämlich die Intuition jener geheimnisvollen Wirklichkeit, die den Bestand seines flüchtigen Daseins, seines Ichs allererst ermöglicht. Ich bin "der Du mich machst". [...] ich verwende dieses Wort "Du", weil es [...] das am wenigsten unangemessene ist [...] Wenn ich auf mich selbst schaue und erkenne, dass ich mich jetzt, in diesem Augenblick nicht selbst schaffe, dann kann ich - mit aller Bewusstheit und Zuneigung, die in diesem Wort mitschwingt..." Wem aber widerfährt dies allmorgendlich, wenn er "Ich" sagt? Und alles Treiben den Tag über gibt uns nicht einen bewussten Augenblick dieser Schwingung, die voll Zuneigung ist. "Wenn ich auf mich selbst schaue und erkenne, dass ich mich jetzt, in diesem Augenblick nicht selbst schaffe, dann kann ich - mit aller Bewusstheit und Zuneigung, die in diesem Wort mitschwingt - mich jenem Ding, das mich schafft, jener Quelle, aus der ich in jedem Augenblick hervorkomme, nicht anders zuwenden, als mit dem Wort "Du"" [11].
"Das Selbstbewusstsein nimmt am Grund seiner selbst einen Anderen ["Etwas, was in den Dingen verborgen ist"] wahr. Darin - passt jetzt gut auf - besteht das Gebet" [12] . Ich tue dies aber nicht, wenn ich es nicht verstehe: Dieses Bewusstsein, dieses "Selbstbewusstsein, das am Grund seiner selbst einen Anderen wahrnimmt", nennt sich Gebet. Dieses Du anzuerkennen, das mich schafft, bewegt mich zutiefst.
Jeremias schreibt: "Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, deswegen habe ich dir meine Huld bewahrt" [13]. Wenn wir es nicht schaffen, auf diese Weise "Du" zu sagen, und uns von Anfang an geliebt zu wissen, dann fehlt dem Leben jede Hoffnung. Die Hoffnung erwächst nicht aus dem, was ich tue, sondern aus dem Bewusstsein, dass es jemanden gibt, der mich mit dieser ewigen Liebe liebt, und der mich jeden Augenblick ins Sein ruft, weil er Erbarmen mit meiner Nichtigkeit hat. Ich muss dieses Du aber anerkennen. So sagt Don Giussani in "Du" (oder von der Freundschaft): "Am schwierigsten zu verstehen sind jene Begriffe, die die Beziehung zwischen dem Ereignis - die Begegnung, das Geschehen - und dem Sein erklären, das dahinter beziehungsweise darin liegt: Die Beziehung zum Sein" [14]. Wir verharren beim Schein: Deshalb sind jene Worte am schwierigsten zu verstehen, die die Beziehung zwischen dem Ereignis und dem Sein erläutern, dem "Du", das dahinter beziehungsweise darin liegt.
Für jemanden, der die Wirklichkeit lebt, müsste es einfach sein, dies anzuerkennen. "Eigentlich müsste es der Vernunft vertraut sein, anzuerkennen, dass die Wirklichkeit aus einem Geheimnis hervorgeht. Denn gerade in der Anerkennung der Wirklichkeit, wie sie ist, wie Gott sie gewollt hat und nicht verkürzt, verflacht, ohne Tiefgang [...] verwirklicht sich die Fähigkeit von Vernunft und Zuneigung, die uns kennzeichnen, bis ins Letzte. [Es müsste also eigentlich einfach sein] Die Vernunft kann sich auf Grund ihrer ursprünglichen Dynamik nur verwirklichen, wenn sie anerkennt, dass die Wirklichkeit im Geheimnis gründet" [15]. Wenn also jemand im Gebrauch seiner Vernunft gut erzogen wäre, müsste es ihm leicht fallen und seiner Vernunft vertraut sein, Ihn anzuerkennen.
"Es gibt aber eine Verwundung im Herzen, die im Menschen etwas verkrümmt, so dass er nicht mehr in der Lage ist, aus eigener Kraft in der Wahrheit zu bleiben. Statt dessen konzentriert er seine Aufmerksamkeit und sein Verlangen auf einzelne und begrenzte Dinge. Der ursprüngliche Plan, für den der Mensch geschaffen wurde, wurde durch den willkürlichen Gebrauch der Vernunft verändert […]. Die alltägliche Erfahrung zeigt, dass der Mensch dazu neigt, die Gesamtheit des Lebens mit etwas Einseitigem, Begrenztem zu identifizieren. Es liegt aber nicht in unserer Hand, aus dieser Einseitigkeit herauszufinden [deshalb sollte man auch nicht darüber hadern]: Niemandem von uns gelingt es, aus sich alleine heraus einen wahren Blick auf die Wirklichkeit zu erlangen" [16] .

II. Das Geheimnis in der Geschichte
Um dies zu ermöglichen, ist das Geheimnis in die Geschichte eingetreten. Um uns wieder mit dem Geheimnis vertraut zu machen, ist das Geheimnis in die Geschichte eingetreten: Ohne dies, ohne diese historische Hilfe, könnten wir niemals einen wahren Blick auf die Wirklichkeit gewinnen.
"Das Christentum ist die Verkündigung, dass Gott an einem ganz bestimmten Ort und zu einer ganz bestimmten Zeit ein Mensch […] geworden ist. Das Geheimnis, das am Ursprung aller Dinge ist, wollte sich dem Menschen mitteilen" [17], und zwar durch ein geschichtliches Faktum. Das heißt, es hat die Methode nicht geändert: Es ist ein Teil der Wirklichkeit geworden, indem es dem Menschen etwas Anziehendes vor Augen stellte, so dass das Ich, also jeder von uns, diesen wahren Blick auf die Wirklichkeit wiedererlangen kann.
Dies berichtet Don Giussani auch von der ersten Begegnung zwischen Johannes, Andreas und Jesus. Sie kehrten vom ersten Augenblick an mit der Gewissheit nach Hause: "Wir haben den Messias gefunden" [18]. Das heißt, sie haben die erste Begegnung nicht verkürzt. Vom ersten Augenblick an haben sie jenes "Etwas" in den Dingen gesehen.
Schauen wir uns nochmals den ganzen Satz aus Il cammino al vero è una esperienza [Der Weg zur Wahrheit ist eine Erfahrung] an: "Manchmal erscheint es uns wie ein "Licht im Nebel" [für jene zwei, die am morgen wie jeden Tag aufstanden, erschien es wie ein Licht im Nebel]. Und dennoch gibt uns diese flüchtige Erscheinung die Gewissheit, "etwas gefunden zu haben, in dem sich etwas verbirgt", um es mit einem Wortspiel zu sagen" [19]. Und Don Giussani kommentiert dies wie folgt: "Weshalb waren die ersten beiden Jünger […] unmittelbar so ergriffen und erkannten ihn [dass sie sogar sagten] "wir haben den Messias gefunden"? Es gibt hier eine offensichtliche Unverhältnismäßigkeit zwischen der einfachen Art und Weise des Geschehens und der Gewissheit dieser beiden" [20]. Eine scheinbare Unverhältnismäßigkeit: Eine menschliche Begegnung und die Gewissheit.
"Wenn dieses Faktum geschehen ist, musste es einfach sein, diesen Menschen anzuerkennen - wenn auch nicht bis ins letzte Detail, aber doch in seinem einzigartigen und unvergleichlichen Wert". Sie haben es im ersten Augenblick begriffen. "Weshalb war es einfach für sie, ihn anzuerkennen? Wegen seiner beispiellosen Außergewöhnlichkeit. Sie hatten etwas Außergewöhnliches vor sich, das keinen Vergleich kannte: Sie waren mit einem außergewöhnlichen Menschen in Beziehung getreten, der alles bekannte überstieg und durch keine Analyse eingeschränkt werden konnte." Und dadurch haben sie begriffen, dass es "Etwas in diesem etwas gab": "Er ist der Messias!" "Was aber heißt "außergewöhnlich"? Wann kann man etwas als "außergewöhnlich" bezeichnen? Wenn es in angemessener Weise den Erwartungen des Herzens entspricht, gleich wie verwirrt oder undeutlich dies bewusst ist" [21].
Diese Außergewöhnlichkeit macht es einfach, Ihn anzuerkennen. "Jener Mensch entsprach auf unvorstellbare Weise dem unwiderstehlichen und nicht zu leugnenden Verlangen des Herzens. Niemand glich diesem Menschen" [22]. Deshalb können wir ihn nicht schmälern. Niemand war wie dieser Menschen. "Wer ist dieser?"
"Es war nicht nur einfach, Ihn anzuerkennen: es was äußerst einfach, mit Ihm zu leben. Man musste sich nur der Sympathie öffnen, die Er hervorrief, einer tiefen Zuneigung, die jener fleischlichen und leidenschaftlichen Zugneigung des Kindes gegenüber der eigenen Mutter entsprach, eine Sympathie im stärksten Sinne des Wortes. Ein Kind kann tausendmal am Tag gegenüber seiner Mutter schuldig werden, aber wehe man bringt es von ihr weg!" [23]. Hier liegt der Sieg über den Dualismus: Eine Bindung wie jene des Kindes an die Mutter, eine so mächtige Anziehung, dass sie mein ganzes Ich fesselt, und zwar durch eine einzigartige sinnliche Sympathie. Es geht also nachdrücklich um eine sinnliche und nicht "spirituelle" oder "asketische" Sympathie! Sie ist so sinnlich wie die Zuneigung des Kindes gegenüber der Mutter. Ist dies nicht der Fall, dann kann der Dualismus nie überwunden werden.
Das Geheimnis ist also in die Geschichte eingetreten, um uns etwas vor Augen zu stellen, das so anziehend ist, dass es unser ganzes Ich mitreißt. Ansonsten sind wir wie eine Treibmine. Und jeder tut das, was ihm gefällt, nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil wir uns aus eigener Kraft nicht "binden" können. Dies ist allein durch jene Anziehungskraft möglich, die in mir eine tiefe Zuneigung zu Jesus hervorruft. Hat man dies eingesehen, dann drängt es einen unweigerlich danach, in allem Lebendigen Seine Gegenwart zu spüren ("Ich bin es, der dir fehlt"). Es ist so wie jemand, der eine Entsprechung einer geliebten Person verspürt. Schaut er den Sonnenuntergang an, dann fehlt ihm unweigerlich die geliebte Person! Nicht, weil er den guten Ehemann oder die gute Ehefrau spielen muss, sondern weil sie ihm fehlt: In jeder Beziehung fehlt ihm etwas.
Nur wenn dieses Ereignis in der Gegenwart als Wegbegleitung verbleibt, gibt es eine Hoffnung, gibt es die Möglichkeit, den Dualismus und damit den Nihilismus zu überwinden: Eine Wegbegleitung, in der Christus, das Geheimnis, so wie es Andreas und Johannes erfahren haben, gegenwärtig bleibt. Die Möglichkeit der Hoffnung besteht darin, dass ein solches Ereignis unter uns bestehen bleibt. Dazu genügt aber keine Organisation. Nur ein Ereignis, das ständige Geschehen eines Ereignisses, dass diese machtvolle Anziehungskraft besitzt, ermöglicht dies. Dass dieses Ereignis tatsächlich bleibt, verstehen wir aber nicht, indem wir einen theologischen Gedankengang entwickeln. Wir entdecken es vor allem, wenn es dieselbe Sache hervorbringt, die wir bei Johannes und Andreas beobachten konnten. Wenn es sich also von neuem ereignet und somit das Ich in seiner Ganzheit aufrichtet und uns so stark anzieht, dass es jene Sympathie hervorruft, die uns bindet, ja festklebt- und uns somit immer neu offen macht.

III. Die Fortdauer des Ereignisses
Christus hilft meinem und deinem Ich unablässig auf dem Weg zur Bestimmung, also zu dem, wonach sich dein Herz sehnt, indem er zu einer Wegbegleitung wird.
"Er begleitet dich physisch in der Weggemeinschaft, in der Er dich hineingestellt hat. Er wird dir [...] [und mir] in dieser Weggemeinschaft gegenwärtig. Durch die Weggemeinschaft derer, die Er wie dich berufen hat, zieht Christus dich an sich: Diese Weggemeinschaft ist der gegenwärtige Christus. Die Gegenwart Christi ist die Gemeinschaft derer, die Er wie dich berufen hat. Diese Weggemeinschaft ist Christus in seiner menschlichen Wirklichkeit, es ist der Leib Christi, der sich dir vergegenwärtigt, so dass du Ihn berühren, Ihn sehen, Ihn spüren kannst. Sein Wert ist tiefer als das, was du siehst [es ist jenes "Etwas, was in den Dingen verborgen ist"] ; [...] was du aber siehst, ist das Geheimnis Christi, das sich dir offenbart. "Leib" [Leib Christi] sagt nicht alles über das aus, was jemand ist. Es sagt das aus, was erscheint und sich von dem sehen lässt, was der Mensch ist. Aber diese Erscheinung ist real [...]. Der Leib ist real und erfahrbar. Und wir sind Teil dieses seines Leibes, der eine wesentlich größere Tiefe hat, als das, was man sieht. Er hat einen Wert, der die menschliche Wirklichkeit seiner Teile übersteigt und er besitzt eine Wurzel, die in einem uns unbekannten Boden wurzelt: Der Boden des Seins, des Geheimnisses. Der Leib lässt nicht die ganze Persönlichkeit aufscheinen, aber er ist der Anfang des geheimnisvollen Weges im inneren der Persönlichkeit. Das Geheimnis Christi ist wie das Geheimnis unseres Ichs, das sich im Leib aufweist. Was man sieht, was man berührt [...], offenbart mir etwas über das, was du bist, über das Geheimnis deines Du [...], es offenbart mir etwas über das, was du bist, des Geheimnisses, deines Ichs [...]. Auf dieselbe Weise offenbart dir diese Weggemeinschaft, in der Christus dich hinein gerufen hat und mit der Er dich zu sich zieht, das, was Er für dich ist: Durch den Blick, den Er in denen hervorruft, die Er dir zur Seite gestellt hat - in dem Maße, wie sie Ihn anerkennen, Ihm gehorchen und das Gedächtnis an Ihn leben, - erkennst du mehr, wer Christus ist". Deshalb "gibt es Personen in der Weggemeinschaft, die dich das Gedächtnis an Christus zehnmal einfacher spüren lassen, als alle anderen" [24]. Dies sind die wirklichen Autoritäten, die dir in deiner Beziehung zu Christus erleichtern, dass du Ihn spürst und empfindest. Denn sie kennen Ihn besser, weil sie Ihn mehr anerkennen, weil sie Ihm gehorchen und Gedächtnis an Ihn leben, nicht, weil sie besser als andere reden, sondern weil sie Ihn anerkennen, Ihm gehorchen und das Gedächtnis an Ihn leben.
"Durch diesen Leib verstehst du das Geheimnis, das darin wohnt, das Ich, das darin ist [jenes "Etwas, was in den Dingen verborgen ist"], und das der Ursprung und die Bestimmung von allem ist. [...] Die Gegenwart einer Gemeinschaft so wahrzunehmen, dass man in ihr das Geheimnis des gegenwärtigen Christus erkennt, ist ein Gipfel, der über die Vernunft hinausragt: Es heißt Glaube, weil er die Vernunft übersteigt" [25]. Wir kennen die Weggemeinschaft nicht bis ins Letzte, wenn wir nicht bis zu diesem Punkt vordringen und Seinen Namen aussprechen. Als ich heute früh aufgewacht bin, habe ich den Herrn gebeten, mir die Fähigkeit zu geben, euch zu helfen, diesen Namen auszusprechen. Denn wenn es euch nicht gelingt, das Wort Christus zu sagen, dann verliert ihr das Beste. Denn das Beste, jene unaussprechliche und umfassende Schwingung, empfindet man angesichts dieses Du. Man kann es mit einem Vergleich verstehen: Ein schöner Sonnenuntergang ohne die geliebte Person hat keinen Geschmack. Deshalb interessiert uns Christus: Nicht um gute CL-Mitglieder zu sein, sondern für unser Ich, für das Ich eines jeden von uns, um diese unaussprechliche und vollkommene Schwingung angesichts der Dinge und Personen zu leben, wie Don Giussani. Und dies hat mit der Vernunft zu tun, es ist der Höhepunkt, der die Vernunft übersteigt: Er nennt sich Glauben.
"Die Vernunft gründet im Erdreich der Erfahrung [...], aber sie endet, indem sie der ihr eigenen Dynamik folgt, an der Schwelle eines "darüber", eines "anderen", das in der Erfahrung beinhaltet ist, aber "über sie hinaus" geht, "größer" ist als die Vorstellungskraft und von der Vernunft nicht erfasst werden kann: des Unendlichen, des Geheimnisses. Die Vernunft ist die Kenntnis der Wirklichkeit in der Gesamtheit ihrer Faktoren. Die Gesamtheit der Faktoren einer Realität schließt ihre Beziehung zum Unendlichen mit ein, zu dem Geheimnis, von dem ihre Existenz letztlich abhängt. [...] Und wenn ich das nicht nachvollziehe, bin ich nicht vernünftig, weil ich nicht alle Faktoren in Betracht ziehe" [26].
Das Geheimnis, Christus, hat dir und deiner Bestimmung seine Zuneigung geschenkt, wie auch mir, indem er uns einen derartigen Ort finden ließ. Denn schon allein durch die Tatsache, dass wir hier sind, lernen wir, mit dem Geheimnis vertraut zu werden. Das ist die Erziehung, von der Don Giussani stets zu uns gesprochen hat: Eine Einführung in die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit, das heißt unter Berücksichtigung aller Faktoren. Wenn unsere Erziehung, wenn die Erziehung, die wir unseren Gemeinschaften geben, nicht bis zu diesem Punkt vordringt, dann ist sie keine Erziehung im Sinne der Bewegung, dann entspricht sie nicht dem, was er uns gelehrt hat. Denn sie schließt keinen angemessenen Gebrauch der Vernunft ein, weil sie nicht alle Faktoren der Wirklichkeit berücksichtigt. Das Geheimnis, das uns geschaffen hat, erweist uns diese Zuneigung, indem es uns einem Ort begegnen lässt, wo es uns immer vertrauter wird. Ohne dieses Geheimnis, das uns vertraut wird, ohne diesen Fluchtpunkt, erstickt man in der Wirklichkeit, in den Umständen, im Leben.
Es entspricht uns, und uns tut es gut, ihm zu folgen. Wenn jemand einsieht, dass ihm dies entspricht, sagt er: "Ich gehe mit ihnen", dass heißt, er folgt weiterhin einer Person, einer Weggemeinschaft, in der er den Anflug von etwas Neuem entdeckt hat, "den Anflug einer neuen Verheißung für das Leben", schreibt Don Giussani. "Das heißt, du hsat eine Gegenwart wahrgenommen, die den ursprünglichen Bedürfnissen des Herzens entspricht [...]. Das Geheimnis Gottes, das ansonsten als weit entfernt und abstrakt wahrgenommen würde, wird so zu einer Notwendigkeit im alltäglichen Leben: Es gibt uns einen neuen Blick auf Himmel und Erde, auf die Gefühle und das Mitempfinden, indem es das Herz auf eine Vorliebe hin öffnet" [27].
Die Nachfolge ist stets ein Anfang, es ist das erneute Geschehen dieses Anfangs. Deshalb brauchen wir eine Autorität, die unablässig unser Herz öffnet. Eine Autorität ist derjenige, der uns das Geheimnis stärker vergegenwärtigt und uns erleichtert, es anzuerkennen. Sie ist eine Hilfe für die Freiheit, um vor dem Geheimnis zu stehen. Sie ist nötig, damit wir nicht wieder den eigenen Maßstäben verfallen und uns somit verschließen. Deshalb ist unsere Weggemeinschaft keine Zensur der Dramatik des Lebens, sondern die Möglichkeit es aufzurichten, um dieses Drama unserer Beziehung mit dem Geheimnis aufzurichten. Ansonsten verspüren wir nicht einmal mehr ein Verlangen, wie wir feststellten.
Unsere Hoffnung, die Hoffnung, dass unser Leben nicht verflacht - wie ein Stein, für den selbst ein Sonnenuntergang nichts bedeutet -, ist die Hoffnung auf etwas Gegenwärtiges, das uns erzieht und unablässig auf die Wirklichkeit bis hin zum Geheimnis öffnet. Auf diese Weise können wir mit einer immer größeren Intensität leben. Die Erlösung ist nicht etwas im Jenseits, sondern diese Intensität des Lebens, die wir bereits zu leben begonnen haben und von der wir wissen, dass sie nicht erst im Jenseits, sondern schon im Diesseits beginnt. Das erfahren wir anfänglich bereits jetzt. Deshalb wollen wir auch mehr und verlangen nach mehr. Wir wollen diese Intensität immer, in jedem Augenblick und jedem Umstand. Deshalb brauchen wir immer mehr einen Ort, der uns diese Intensität erfahren lässt.

Mittwochmorgen, 31. August 2005
ZUSAMMENFASSUNG

"Der Herr ist König. Die Erde frohlocke. Freuen sollen sich die vielen Inseln.. [...] Seine Blitze erhellen den Erdkreis, die Erde sieht es und erbebt" [28]. Wir alle stehen jeden Tag vor dieser Gegenwart, die die Erde erbeben lässt. Und wir müssen ständig seine Blitzstrahlen sehen, die die Erde erhellen, denn nur so können wir jauchzen, nur so kann unser Ich jauchzen.
Oder wie ein anderer Psalm sagt: "Gott, richte uns wieder auf! Lass dein Angesicht leuchten, dann ist uns geholfen" [29]. Für uns alle ist es entscheidend, dass Er uns immer von Neuem aufrichtet. Habt keine Angst vor eurer Schwäche: Sie ist unvermeidlich. Wir sollten uns nicht zu sehr darum sorgen, dass wir nachgeben und fallen. Wir sind armselig. Wir alle müssen immer wieder aufgerichtet werden, dass der Herr sein Antlitz leuchten lässt, so dass wir gerettet werden! Darum müssen wir unablässig bitten. Nicht darum, dass wir keine Schwächen haben, denn wir werden stets schwach sein. (Ein Kind fürchtet sich nicht davor, da es stets um die Gegenwart der Mutter weiß). Wir müssen um das bitten, worum auch der Psalm bittet: "Lass Dein Angesicht leuchten, Christus, Deine Schönheit, Deine Anziehungskraft vor uns, so dass wir jetzt erneut Deine Gegenwart erfahren können, die mich rettet." Der Herr kommt deinen Nöten, meinen Nöten entgegen, von Anfang an, wenn man gewissen Gesten folgt. Weshalb beten wir zu Beginn des Tages die Psalmen? Um gute CL-Mitglieder zu sein? Nein, weil wir sein Antlitz sehen müssen, sein Aufleuchten, seine Anziehungskraft.
"Zion hört es und freut sich". Unsere Freude, unser Frohlocken hängt von diesem Hören ab, vom Wahrnehmen dessen, was vor unseren Augen geschieht: "Zion hört es und freut sich, Judas Töchter jubeln, Herr, über deine Gerichte. Denn du, Herr, bist der Höchste über der ganzen Erde, hoch erhaben über alle Götter" [30].
Liebe Freunde, jeden Tag eröffnet sich von Neuem dieses Drama. Der Herr kommt uns entgegen und eröffnet erneut dieses Drama. Was aber ist die Gefahr, auf die wir zu Beginn hingewiesen haben? Dass es eine Haltung des Dualismus gibt und damit des Nihilismus; all dies wird von uns als abstrakt, als nichtig empfunden. Die Zeiten sind wirklich dramatisch auf Grund dieses Zusammenbruchs des Ich, auf Grund dieses "fröhlichen Nihilismus": Ohne immer neu durch die Wirklichkeit berührt zu werden, durch das Aufleuchten seines Antlitzes, das uns wieder aufrichtet und uns durch die Wirklichkeit unablässig entgegen kommt, sind wir nicht gerettet, sind keine "Ichs". Und dies lässt uns unablässig verfallen.
Das Schöne beim Aufstehen am Morgen besteht darin, dass wir nicht alleine sind mit unserem Nichts, mit unserem Empfinden, mit unserem Gemütszustand, mit unserer Wahrnehmung. Heute sind wir hier und der Herr ist uns auf vielerlei Weise entgegen gekommen, nachdem wir heute Morgen unsere Augen aufgeschlagen haben. Die Schönheit der Wirklichkeit umgibt uns durch das Gesicht der Freunde, den Gesang des Angelus, die Psalmen...
Der Herr beginnt erneut den Kampf gegen den Dualismus, gegen den Nihilismus, jeden Morgen kommt er uns entgegen. Er lässt uns nicht allein. Und all diese Tage haben wir gesehen, wie dies vor unseren Augen auf verschiedene Art und Weise geschieht - wie ihr auf unterschiedliche Weise bezeugt habt. Nicht dass Christus fehlen würde oder nicht unablässig auf uns zuginge. Wir selbst müssen aber lernen, uns der Wirklichkeit so zu stellen wie Don Giussani. Denn diese Haltung haben wir oft schon einen Augenblick später ausgelöscht. So sagte mir eine Person in diesem Sommer: "Es stimmt, dass die Wirklichkeit uns vorausgeht. Manchmal komme ich mir aber so "krank" vor, dass ich sie sofort zensiere, so dass noch vor der Wirklichkeit stets ein Gedanke meinerseits über sie kommt." Mit diesem vorausgehenden Gedanken, von dem unser Freund sprach, beginnt der Dualismus seinen Sieg. Und das geschieht stets sehr kurz darauf: Es ist diese Vorwegnahme meiner Gedanken oder Empfindungen über die Wirklichkeit, über den "Anstoß" der Wirklichkeit.
Don Giussani sagte vor Jahren: "Die Wirklichkeit wird nach einem a priori wahrgenommen, das unsere Haltung ihr gegenüber bestimmt" [31]. Es ist etwas, das gleichsam die Wirklichkeit ausschaltet. Dennoch können wir in einem ersten Augenblick dieses "Treffens" auf die Wirklichkeit nicht vermeiden: Der erste Augenblick des Staunens, etwas, das einen beeindruckt. Aber schon einen Augenblick später, kann mein Gedanke über sie wieder in den Vordergrund treten.
Wir können das Treffen auf die Wirklichkeit nicht vermeiden. Das ist unmöglich. Wir alle haben heute morgen die Schönheit der Berge gesehen! Aber bei wem war dieses "Gegebene" vorherrschend? Schon wenige Augenblicke später taucht der Einwand auf: "Ja, aber heute...." Im wirklichen Leben können wir diesen ersten Anstoß der Wirklichkeit nicht vermeiden. Doch dann wird sofort die Sorge, der Gemütszustand vorherrschend ("Aber heute..."). Schon einen Augenblick später haben wir diese ursprüngliche Haltung ausgeschaltet. Das ist aber bereits eine Entscheidung der Freiheit in einem zweiten Augenblick. Das sagt Don Giussani auch im zehnten Kapitel von Der Religiöse Sinn. Dort antwortet er auf den Einwand, dass die Religion aus der Angst entsteht. Das ist falsch, denn dies ist bereits ein zweites Moment. Es ist eine Entscheidung der Freiheit, die die Wirklichkeit ausschaltet. Deshalb beginnt jeden Morgen von neuem der Kampf: ob ich dem ersten Anstoß des Seins folge oder etwas anderes vorherrschen lasse. Das wäre dann Ideologie. Wie Hannah Arendt schreibt, ist Ideologie "nicht die naive Annahme des Sichtbaren [das heißt der Wirklichkeit], sondern dessen intelligente Absetzung" [32]. Man hat stets irgendwelche Gründe (je intelligenter man ist, desto mehr "Gründe" findet man), um die Wirklichkeit auszublenden. Was aber ist das Zeichen dafür, dass man die Wirklichkeit nicht ausblendet? Man ist froh und dankbar darüber, dass es sie gibt.
Ich kenne nichts, was dies so deutlich macht, wie eine Erzählung von Elsa Morante. Es ist wie eine Geschichte innerhalb einer Erzählung. "Es gab einen SS-Mann, der für seine schrecklichen Verbrechen eines Tages im Morgengrauen zum Schafott geführt wurde. Es fehlten ihm noch fünfzig Schritte zur Hinrichtungsstätte, die im Gefängnishof lag. Beim Durchschreiten des Hofes traf sein Blick durch Zufall auf die zerbrochene Mauer des Hofes. Dort hatte eine Blume geknospt, die der Wind dorthin getragen hatte. Sie wachsen, wo ihr Samen hingetragen wird und sie nähren sich - so scheint es -, von Luft und Kalk. Es war ein armseliges Blümchen. Doch im Aufscheinen des ersten Morgenlichts sah der SS-Mann darin die ganze Herrlichkeit und das Glück des Universums und er dachte: "Wenn ich nur zurückkehren und die Zeit anhalten könnte, würde ich mein ganzes Leben mit der Betrachtung dieses Blümchens verbringen." Da hörte er, als würde er sich gleichsam verdoppeln, in sich seine eigene Stimme. Sie war aber freudig und klar, und dennoch weit weg. Sie kam von wer weiß woher, und sie rief ihm zu: "In Wahrheit, sage ich dir: Wegen dieses letzten Gedankens auf der Schwelle deines Todes wirst du vor der Hölle bewahrt." Um all dies zu sagen, bedurfte es eines gewissen Zeitraums, aber es hatte nicht die Dauer einer halben Sekunde. Zwischen dem SS-Mann, der durch die Wachen lief, und der Blume, die aus der Mauer spross, war noch immer fast genau dieselbe Entfernung wie zuvor, kaum einen Schritt weniger. "Nein! - rief sich der SS-Mann zu und wandte sich wütend ab - nein, ich werde gewissen Tricks nicht mehr auf den Leim gehen!" Und da er beide Hände gebunden hatte, riss der das Blümchen mit den Zähnen von der Wand, ließ es zu Boden fallen, zertrat es mit den Füßen und spuckte darauf" [33]. Soweit die Erzählung.
Der Kampf gegen den Dualismus vollzieht sich in dieser halben Sekunde. Bereits im Bruchteil einer Sekunde können wir von diesem Dualismus besiegt sein, ihm nachgeben und damit dem Nihilismus verfallen. Auch ein SS-Mann, der zur Schafott geht, kann diesen Kampf nicht vermeiden. Alle Dinge, die er getan hatte, alle Verbrechen, die er begangen hatte (setzt alles dafür ein, was ihr wollt), alles was er getan hatte, konnte diesen "Zusammenstoß" mit dem Blümchen nicht vermeiden. Das Drama brach von neuem auf. Gleich an welchem Punkt wir im Leben stehen: Das Drama bricht von neuem auf. Gleich wie das Leben auch war, so ahnt man doch dieses: "wenn ich zurückkehren könnte, würde ich mein ganzes Leben mit der Betrachtung dieses Blümchens verbringen". Denn schon allein diese Blume ist Zeichen für die gesamte Wirklichkeit. Deshalb gilt: "In Wahrheit, sage ich dir: Wegen dieses letzten Gedankens auf der Schwelle deines Todes wirst du vor der Hölle bewahrt"
Was uns vor der Hölle bewahrt, ist, der vorherrschenden und starken Anziehungskraft dieser Blume, des Seins, des Seins, das uns entgegen kommt, nachzugeben. Doch entscheidend ist dabei: Die ganze Anziehungskraft des Seins, die dir die Anbetung erleichtert, diese machtvolle Anziehungskraft erspart dir nicht deine Freiheit. Diese Blume ist eine Gabe, wie wir gestern sagten. Sie ist eine Gabe, aber sie erspart dir, Gott sei Dank, nicht einmal im Traum den Einsatz deiner Freiheit. Und deshalb bedarf es deines "Ja", deiner Anerkennung. Es bedarf dieser Aktivität, die fast eine Passivität ist, um zu empfangen und anzunehmen. Denn man kann natürlich auch nein sagen ("nein, ich werde gewissen Tricks nicht mehr auf den Leim gehen!"). Niemand kann uns diese Entscheidung der Freiheit ersparen. Darin besteht die Größe des Menschen und das Drama. Man kann der machtvollen Anziehungskraft des Seins nachgeben, oder man kann das Nein überwiegen lassen. Das Nein kommt aber stets als zweiter Schritt.
Wir sind vor der eigenen Hölle gerettet, wenn wir dies annehmen, wenn wir diesen Anstoß der Wirklichkeit aufnehmen, bis hin zu dem Punkt, dass wir das ganze Leben in der Betrachtung verbringen. Denn gerade dies ist es, was uns rettet. Unsere Entscheidung besteht jeden Morgen genau zwischen dieser Annahme oder der Ablehnung. Es ist so einfach! Das Problem ist dabei nicht die Schwachheit oder die Kohärenz, sondern die Einfachheit des Herzens, anzunehmen und zu empfangen. Es geht darum, diese Gabe anzunehmen und sie nicht zu negieren. Denn, liebe Freunde, gefährdet ist hier nicht weniger als jenes geheimnisvolle Band, das unser Ich mit der Wirklichkeit verbindet.
Deshalb beharrt Don Giussani so auf der Wirklichkeit, auf dem Realismus. Das ist kein Zufall. Denn nur wenn wir uns von der Anziehungskraft der Wirklichkeit treffen lassen, können wir den Dualismus überwinden. Das Geheimnis ist nicht abstrakt. Es kommt uns durch etwas Anziehendes entgegen. Wenn aber diese Trennung statt der Anziehungskraft siegt, dann sind wir erledigt. Niemand wird behaupten: "Dies mag einem SS-Mann mit all dem, was er in seinem Leben getan hatte, widerfahren, aber meine Geschichte in der Vergangenheit, meine Mentalität...!" Das ist alles Gerede! Denn jeden Morgen wird das Drama erneut eröffnet. Ich kann nachgeben oder negieren, aber die gesamte Geschichte kann nicht verhindern, dass das Drama von neuem eröffnet wird.
"Nichts der Liebe Christi vorziehen", sagte Papst Benedikt XVI., indem er den heiligen Benedikt zitierte. Die Regel lautet: Nichts Christus vorziehen. Wir können dies als frommen Satz verstehen oder wir können ihn in folgendem Sinne wiederholen: Nichts dem Gegebenen vorziehen, dem, was die Liebe Christi schenkt, der Gabe, dass wir umarmt sind. Jeden Morgen nichts der Tatsache Christi vorziehen, weder die eigenen Gedanken noch die eigenen Bilder oder die eigenen Enttäuschungen. Nichts der Tatsache vorziehen, auserwählt, geschaffen, und damit geliebt zu sein: "Ich habe dich mit ewiger Liebe geliebt, als ich dich ins Sein rief, indem ich Erbarmen mit deiner Nichtigkeit hatte" [34].
Es geht darum, jeden Morgen mit dem ganzen Bewusstsein der Vernunft zum Geheimnis, das mich schafft, "Du" zu sagen, das heißt anzuerkennen, dass man geliebt ist. Es ist nicht wichtig, was du gestern getan hast, was du gerade empfindest. Denn selbst die Tatsache, dass du Empfindungen hast, bedeutet, dass ein Anderer dich schafft und Erbarmen mit deiner Nichtigkeit hat. Du kannst diese Tatsache überwiegen lassen, wodurch du alles empfindest, auch deinen Widerwillen, oder du kannst eine zweite Sache überwiegen lassen.
Du bist ins Sein gerufen. Dies ist die klarste Evidenz, die es gibt, sagt uns Don Giussani. Es gibt keine größere Evidenz als das Faktum, dass wir geschaffen sind. Deshalb gibt es jemanden, der dich schafft. Es gibt jemanden, der mit deiner, mit meiner Nichtigkeit Erbarmen hat, indem er uns das Sein schenkt. Was wir brauchen, ist nicht einmal die Gewissheit, dass die Dinge am Vortag gut gelaufen sind, sondern die Haltung, dieses Erbarmen jeden Morgen anzuerkennen.
Welche große Hoffnung eröffnet sich für einen jeden von uns, jeden Morgen, jeden Augenblick des Tages, gleich was geschieht, gleich in welchen Umständen ich lebe, wenn ich dieses "Etwas, was in den Dingen verborgen ist", wieder entdecke. Wie anders wäre das Leben doch, wenn wir uns jeden Augenblick, jeden Morgen umarmt wüssten! Und dies ist unserer Freiheit überlassen. Die Alternative hat Sartre aufgezeigt, wenn er schreibt: "Meine Hände, was sind meine Hände? Die unermessliche Distanz, die mich von der Welt der Gegenstände trennt und mich für immer von ihnen scheidet" [35]. Das ist der Nihilismus. Wenn diese Trennung siegt, dann ist der Nihilismus. Wenn wir aber der Anziehungskraft des Seins nachgeben, dann ist uns alles neu gegeben. Dazu ist Christus in die Welt gekommen, um uns dies entdecken zu lassen, um uns zu helfen, dass wir in der Wirklichkeit jenes Etwas, was in den Dingen verborgen ist, erkennen. Er ist gekommen, um uns dazu zu erziehen. Denn seine ganze Person hat nichts anderes versucht, als uns in das Geheimnis einzuführen.
"Jesus [das ist ein Satz, den ich mir immer wiederhole] war ein Mensch wie alle anderen. Er war ein Mensch, der keine Ausnahme bei der Definition des Menschseins kannte. Aber dieser Mensch sagte Dinge über sich, die andere nicht über sich sagten. Er sprach und handelte in einer Weise, die ihn von allen anderen unterschied. Zeichen aller Zeichen. Seine Wirklichkeit [es ist dieselbe Methode: Zuerst die Wirklichkeit der Blume, jetzt die Wirklichkeit Jesu], verwies den, der ihn einmal kennen gelernt hatte, der ihn hörte, sah, Umgang mit ihm pflegte, der von seiner Gegenwart betroffen war, als Zeichen einer anderen, auf etwas anderes. [...] Jesus verstand seine Anziehungskraft, die er auf andere ausübte, nicht als letzten Verweis auf sich, sondern auf den Vater" [36]. Darin besteht auch das Wesen der Erziehung! Jesus kam in die Welt, er ist Mensch geworden, er hat uns an sich gezogen, nicht um uns an sich zu binden, sondern um ums auf den Vater hin zu öffnen, um uns zu ihm zu führen. Er zieht uns an sich, so fährt Giussani fort, "damit Er uns zum Vater führen kann", zu jenem Fluchtpunkt, der uns in allen Umständen atmen lässt.
Liebe Freunde, dazu sind wir zusammen. Wenn dies nicht der Grund ist, dann geht ruhig weg, denn dann verliert ihr nichts. Wenn unser Zusammensein, nicht jener ständigen Offenheit gegenüber dem Vater dient, gegenüber dem Geheimnis, dann wird das Leben unerträglich, es wir kurzatmig und erstickend. Aber man ist mit jemandem zusammen, weil er dich unablässig öffnet. Er ermöglicht es dir, du selbst zu werden, weil er dich unablässig öffnet. Das Ich ist in der Tat diese Fähigkeit zum Unendlichen. Es ist diese Offenheit gegenüber der Totalität. Wir sind tatsächlich für die Unendlichkeit geschaffen (nicht für ein "Loch"). Wenn es nicht hierum geht, dann wird uns das Zusammensein früher oder später nicht mehr interessieren.
Deshalb haben wir alle eine Verantwortung: Die Bewegung kann lediglich eine Organisation sein, oder sie kann für jeden von uns und wir wiederum füreinander jener ständige Anruf des Ichs sein. Jeder kann für seinen Weggefährten das sein, was Jesus für die seinen war: "Jesus verstand seine Anziehungskraft, die er auf andere ausübte, nicht als letzten Verweis auf sich, sondern auf den Vater: Auf sich, damit er zum Vater führen konnte [...]. In diesem Sinne überwindet der Glaube an Christus den religiösen Sinn und macht ihn klarer. Der Glaube offenbart den Gegenstand des religiösen Sinnes, zu dem die Vernunft nicht vordringen kann" [37].
Diese Gewissheit des Glaubens bezieht das Ich ein und öffnet uns unablässig. Dies macht den Unterschied aus, dies ist die Neuheit, die das Leben Jesu eingeführt hat. Es ist die Teilnahme an einem geschichtlichen Faktum, an einer geschichtlichen, realen, konkreten Wirklichkeit, die das Ich einbezieht und uns auf den Weg zum Vater führt, die uns öffnet, um ihn als Höhepunkt der Vernunft (also das genaue Gegenteil der Sentimentalität!) anzuerkennen. So wie Jesus, der alle zum Geheimnis führte, zu jenem Etwas in den Dingen. Nicht wir müssen dies schaffen: Es geschieht, das Leben ist anders, weil Er da ist. Uns genügt es, dies anzuerkennen und nicht schon im nächsten Augenblick zu leugnen, wie jener SS-Mann. Der SS-Mann musste sich nicht darum bemühen, die Blume zum Blühen zu bringen. Sie war ja vor ihm da. Er durfte nur eines nicht tun: Sie auslöschen.
Es reicht, Ihn anzuerkennen, diese Gabe anzuerkennen, das Gegebene nicht zu leugnen. Und das macht uns zu Kindern. Wir können das Leben als Kinder leben, weil wir einen Vater haben, und müssen nicht als Waisen leben. Der Herr antwortet auf unsere Bedürfnisse. Christus kümmert sich darum. Und wie setzt Christus seine Gegenwart in der Geschichte fort? Indem er das christliche Volk schafft, indem er immer von neuem das christliche Volk schafft. Der Herr wirkt weiter unter uns, weil wir da sind, weil es das christliche Volk gibt, das das Zeichen seines Sieges ist. Wenn sich jemand davon einbeziehen lässt, dann ereignet sich die Hoffnung als Überraschung. Man überrascht sich selbst dabei, zu hoffen. Man kann am Morgen nicht aufstehen, ohne bereits von dieser Gegenwart einbezogen zu sein. Und dies bestimmt die Art und Weise, wie man in der Wirklichkeit steht, wie man zur Arbeit geht und die Beziehungen lebt.
Unsere Hoffnung, die einzige Hoffnung, die nicht enttäuscht, besteht darin, das ganze Leben auf diese Gegenwart zu stützen, der wir begegnet sind und die wir lieben. Die Methode ist also einfach: Sich jeden Morgen, jeden Augenblick von dieser Gegenwart durchdringen lassen. Diese Gegenwart unablässig anzuerkennen: Wir müssen sie nicht erfinden. Es gibt sie. Von uns ist nur verlangt, diese Gabe anzunehmen und uns unablässig von ihr einbeziehen zu lassen. Das verändert das Leben und das ist die Neuheit, die Christus eingeführt hat.
Wer von uns kann diese Gabe nicht annehmen, gleich unter welchen Umständen er auch lebt? Wer kann sagen, wenn man zu zweit ist, dass man sie nicht leben kann, auch wenn man weit von hier entfernt wohnt, in Südafrika, Australien oder auf den Philippinen. Sie anzuerkennen, ist die Neuheit, die uns in jedem Augenblick die Freiheit schenkt. Bitten wir die Gottesmutter, so einfach zu sein wie sie und jeden Tag die Botschaft anzunehmen, die an uns gerichtet wird.

[1] A. Del Noce, Lettera an Rodolfo Quadrelli (1984), pro manuscripto.
[2] Vgl. L. Giussani, "Tu" (o dell'amicizia), Bur, Mailand 1997, S. 40 f.
[3] M. Zambrano, Verso un sapere dell'anima, Cortina editore, Mailand 1996 S. 84.
[4] A.J. Möhler, Die Einheit in der Kirche, Hegner, Köln 1957, S. 54.
[5] L. Giussani, Lettere di fede e di amicizia ad Angelo Majo, San Paolo, Cinisello Balsamo 1997, S. 75.
[6] Vgl. Mt 11, 16-17.
[7] Vgl. H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1955, S. 720.
[8] L. Giussani, Der Religiöse Sinn, Bonifatius, Paderborn 2003, S. 121.
[9] Ibidem, S.127.
[10] Ibidem.
[11] Ibidem.
[12] Ibidem, S. 128.
[13] Vgl. Jer 31,3
[14] L. Giussani, "Tu" (o dell'amicizia), op. cit., S. 101.
[15] L. Giussani, Generare tracce nella storia del mondo, Rizzoli, Mailand 1998, S. 19.
[16] Ibidem, S. 20.
[17] Ibidem, S. 5.
[18] Joh 1,41.
[19] L. Giussani, Il cammino al vero è un'esperienza, Sei, Turin 1995, S. 88.
[20] L. Giussani, Generare tracce…, op. cit., S. 10 f.
[21] Ibidem.
[22] Ibidem, S. 11.
[23] Ibidem.
[24] L. Giussani, Er ist da er wirkt, Beilage zu 30Tage, Nr. 2, Februar 1994, S. 87.
[25] Ibidem, S. 87ff.
[26] Ibidem, S. 88.
[27] Ibidem.
[28] Ps 97, 1-4.
[29] Ps 80, 4.
[30] Ps 97,8-9.
[31] L. Giussani, L'uomo e il suo destino. In cammino, Marietti, Genua 1999, S. 67.
[32] H. Arendt, op. cit, ibidem.
[33] Elsa Morante, La storia, Einaudi, Torino 1974, S. 604-605.
[34] Siehe Anm. 13.
[35] Vgl. J.-P. Sartre, Der Ekel, Frankfurt am Main, 1985.
[36] L. Giussani, L'uomo e il suo destino, op. cit., S. 129.
[37] L. Giussani, L'uomo e il suo destino, op. cit., S. 129-130.