Editorial
Erziehung - das große Wagnis
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Wagemut ist derzeit nicht gerade ein Modewort. Tendenziell scheuen wir alle das
Risiko. Aber nicht zuletzt die Zeit, in der wir leben, zeigt, dass Erfolg in
Wirtschaft und Politik mitunter davon abhängt, wie viel man zu wagen bereit
ist. Deshalb hört man immer häufiger die Forderung nach Mut zum Risiko. Es gilt
daher, einmal Leichtfertigkeit und Wagemut voneinander zu unterscheiden:
leichtfertig handelt, wer so tut, als habe er nichts zu verlieren. Wagemutig
handelt, wer ein Risiko eingeht, weil es um das Wohl und Gedeihen all dessen
geht, was ihm lieb und teuer ist. Das Wohl der eigenen Familie zum Beispiel,
das der eigenen Firma oder des eigenen Volkes. Hier ist nichts ohne Risiko zu
haben.
Aufmerksame Beobachter des Zeitgeschehens in Kirche, Gesellschaft und Politik
weisen schon länger darauf hin, dass Erziehung heute allgemein Not tut.
Gesellschaftliche, familiäre und auch individuelle Verfallserscheinungen hängen
eng damit zusammen, dass den Einzelnen in ihrem Leben oftmals kein wirklich
bedeutsamer Vorschlag mehr gemacht wurde und wird. "Dieser Generation wurde
einfach nichts mehr vorgeschlagen, nichts außer der Sorge der Vätergeneration
um den Nutzwert", heißt es bei Don Giussani. Jeder Mangel an echter Erziehung
wirkt sich - beim Erwachsenen wie beim Kind - auf die Beziehung zur ihn
umgebenden Wirklichkeit aus. Sie wird verfälscht, auf den bloßen Profit
verkürzt, bleibt oberflächlich. Sie verkümmert regelrecht. Die Verfolgung der
eigenen Interessen beschränkt sich dann auf das, wonach man gerade Lust und
Laune hat. Es spielt keine Rolle mehr, was wahr oder falsch, gut oder böse,
recht oder unrecht ist. Alles wird relativ, das heißt gleichgültig.
Erziehung ist, wie jedes menschliche Unterfangen, mit einem Risiko verbunden.
Denn es geht um die Beziehung zweier Freiheiten. Eine jede offenbart der
anderen ihre Sehnsucht nach Erkenntnis des Schönen, Wahren und Guten und teilt
ihr mit, was sie als solches erkannt hat. Don Giussani, der sich ganz auf
dieses Abenteuer einließ, wählte, als er seine Reflexionen über die Erfahrungen
im Austausch mit den Jugendlichen niederschrieb, dafür den Titel Das Wagnis der
Erziehung. Die Welt ist für ihn ein großes Schauspiel: In der Beziehung mit der
Wirklichkeit offenbart sich die Person als das, was sie ist. Wenn dieser Tage
in Italien Don Giussanis Werk über die Erziehung neu aufgelegt wird, dann ist
das mehr als eine Hommage an ein Werk, das tiefe geschichtliche Spuren
hinterlassen hat. Auch viele Menschen, die sich der Bewegung nicht zugehörig
fühlen oder anderen Kulturen und Religionen angehören, schätzen die Früchte der
von Giussani ausgehenden Bewegung und ihres erzieherischen Wirkens. Die besagte
Neuauflage ist vielmehr deshalb bemerkenswert, weil damit eine
Erziehungsmethode Beachtung findet, die heute höchst aktuell ist. In dem kurzen
Band beschreibt Giussani eine Methode, die provokant, ja revolutionär ist. Sie
entlarvt das Dogma vom Wert der völligen Freiheit von Bindungen als eine
Trennung von der Wirklichkeit, die jedes kritische und vorurteilsfreie Urteil
über die Ereignisse des Lebens unterbindet.
Sich die Erziehung zum Thema machen heißt demgegenüber, sich den
Herausforderungen unserer unruhigen Zeit zu stellen.
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