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Thema - Erziehung
Neugier und Sehnsucht gegen die Versuchung des Nihilismus
Renato Farina

Die Erfahrung einiger Lehrer aus vier Kontinenten über die Herausforderung der Erziehung und ihr Bestreben, jenes Ereignis zu vermitteln, das dem Leben Sinn und Freude schenkt.

Don Giussani schreibt: "Das eigentliche Thema unseres ganzen Redens und Handelns ist nichts anderes als die Erziehung". Bei der internationalen Versammlung der Verantwortlichen von CL in La Thuile trafen sich Lehrer aus verschiedenen Kontinenten, um sich über ihre Erfahrungen auszutauschen. Dabei ging es um die Fragen: Worin besteht die erzieherische Arbeit? Was ist der wirkliche Inhalt des Unterrichts? Im Folgenden geben wir einige Beiträge wieder.

Maria Carmen Carròn (46), Madrid, Spanien: Tatsächlich herrscht auch unter uns Lehrern der Nihilismus vor. Die Herrschaft dieses gelebten und theoretisierten Nichts würde tatsächlich eine Erziehung unmöglich machen, wäre nicht das Ereignis, die Wirklichkeit stärker. Denn was bringen wir unseren Schülern bei, wenn es keinen Sinn gibt? Nur Regeln für das Zusammenleben. Ich aber bin diesem Sinn in einem Ereignis begegnet. Deshalb praktiziere ich in meiner Schule wie in der Familie das, was ich "Pädagogik des Ereignisses" nenne. Mit der Wirklichkeit konfrontieren, das ist meine Aufgabe als Erzieherin. Es gibt etwas jenseits der äußeren Erscheinung, für das die äußere Erscheinung ein Zeichen ist. Mit den Jugendlichen bemühe ich mich um die Öffnung auf die Wirklichkeit hin. Und das weckt die Frage nach Erfüllung und Sinn.

Und geht das alles so glatt?

Maria Carmen: Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich an einer staatlichen Schule unterrichte. Aber hier sind die Eltern mit Sicherheit das größte Hindernis bei der Erziehung. Wenn ich sage, dass ich das Glück ihrer Kinder will, stoße ich auf Skepsis. Unmöglich sagen sie. Ich antworte: Wenn einer darauf verzichtet, verzichtet er auf alles. Der Nihilismus steckt in Vätern und Müttern. Die Jugendlichen spüren das und rebellieren, manchmal gewaltsam.

Wie reagierst du darauf?

Maria Carmen: Ich konfrontiere sie mit der Wirklichkeit. Ich tue das stets im Bewusstsein dessen, wer ich selbst bin, des Ereignisses, das mir begegnet ist und durch das ich bin. Die Herausforderung geschieht angesichts der Wirklichkeit. Ich mache mit den jungen Leuten einen Ausflug, und angesichts der Berge fordere ich sie heraus, über den Horizonts hinaus zu gehen; und so ist es bei jeder Geste.

Annemarie Bacich (31), Washington DC, USA: Ich bin an einer katholischen Oberschule und erlebe die ganze Macht eines so genannten fröhlichen Nihilismus. Die jungen Leute haben alles: Geld, Autos und die Aussicht auf ein Leben im Wohlstand. Die Eltern gewähren alles, um bei den Jugendlichen die Unruhe des Herzens zu erdrücken oder zumindest, um sie nicht wahrnehmen zu müssen. Das Ergebnis: Die Hälfte der Klasse nimmt Antidepressiva. Ein Mädchen hat im April Selbstmord begangen. Die Schüler sind 15 Jahre alt! Dieser fröhliche Nihilismus lässt sie altern, es ist, als hätten sie schon alles gesehen, und sie vermuten nicht einmal, es könne Etwas geben, was über den reine Schein der Dinge hinaus geht. Also versuchen sie nicht einmal sich zu befreien. Ich sehe kein Zeichen von Rebellion in den Gesichtern meiner Schüler. Ich nehme nur diese Leere wahr: Sie wissen nicht, was das Herz ist, sie wissen nicht, warum sie nicht glücklich sind. Sie fragen nicht! Sie fügen sich den Regeln und rebellieren nicht. In dieser Lage heißt Lehrer sein für mich, gleichsam Vater sein.

Wie meinst du das?

Annemarie: Um einen Menschen in die Wirklichkeit einzuführen, begleitest du ihn und indem du das tust, weitet sich dein Herz. Das Bewusstsein erwacht in der Beziehung zur Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist positiv und dies zeige ich. Das heißt, Vater zu sein. Und genau diese Gestalt fehlt den Jugendlichen. Lehrer, Erzieher sein heißt, das Stück Wirklichkeit zu sein, das eine Beziehung zu ihnen hat, das verlässlich ist und in Beziehung zu ihnen steht, der einzige Fels in ihrem Leben. Um ein Beispiel zu geben: Ich hatte ein Mädchen in meiner Klasse, ein echtes Mathematikgenie. Ich unterrichte Literatur. Sie hörte nie auf, Fragen zu stellen, zu allem. Aber letztlich ging es ihr nur um eine Frage. Ihr fehlten aber die Worte, sie zu stellen. Am Ende der Schulzeit, nachdem ich sie drei Jahre unterrichtet hatte, schrieb sie mir: "Danke für Ihre Geduld. Es gibt die Wirklichkeit tatsächlich. Nun sehe ich die Dinge auf neue Weise." Ihr wurde dies klar, als ich einmal auf den Tisch schlug und dabei ausrief: Der Tisch ist wirklich, Kinder! Die jungen Leute wissen nicht, dass es das Wirkliche gibt und ich ein Stück des Wirklichen bin, das sie in eben diese Wirklichkeit einführt. Man muss mit ihnen Geduld haben. Wie lange, das liegt nicht in unserer Hand. Und ich schöpfe diese Geduld in unserer Gemeinschaft. Alleine kann ich kein Fels in der Brandung sein.

Ramzia Saleyeva (25), Astanà, Kasachstan: Die Universitätsstudenten sind normalerweise wohlhabend. Und sie sind nicht selten gleichgültig und fragen sich überhaupt nichts. Oft schlittere ich auch selbst in diesen Nihilismus der Routine ab: die Noten, die Trägheit, das Diplom als einziges Ziel. Ich selbst war so. Aber mit mir ist etwas geschehen. Don Edo, der mit mir unterrichtet, erinnert mich daran. Es ist etwas in diesen Gesichtern, das nicht einmal sie selbst sehen. Wir haben sie zu Ausflügen eingeladen und dabei das Buch Der Religiöse Sinn gelesen. Das Leben ändert sich. Nicht weil wir - Edo und ich - besonders tüchtig sind, sondern durch das Verlangen, diese Erfahrung Christi tiefer zu leben, die so menschlich ist und uns so glücklich macht, dass unser Herz überfließt - bis hin zu unseren Studenten. Und dann möchte ich ihnen unsere Erfahrung laut zurufen. Das beste Mittel gegen den Nihilismus ist, einfach die jungen Leute anzuschauen in der Gewissheit, dass auch sie voller Sinn sind ...

Semea Assaf (42), Brasilia: Auch ich stelle bei meinen Schülern das Fehlen einer Sehnsucht wahr. Nur jemand, der ihnen einen Sinn für ihr Leben anbietet, fordert sie heraus. Deshalb stellen sie mir am häufigsten die Frage: "Du bist so alt wie meine Eltern, warum bist du im Gegensatz zu ihnen zufrieden?". "Weil ich einen Sinn habe!" Und sie: "Aber was ist das?" Darauf ich: "Komm und lern meine Freunde kennen!" Ich arbeite in einer Schule für Arme. Wenn sie mit mir beziehungsweise mit uns zusammen sind, entdecken sie ihre Sehnsucht nach etwas, das größer ist als gesellschaftlicher Erfolg. Wir führen sie hin zur Universität, und sie lernen auf ihre Veranlagungen zu horchen. Kurzum, meine Arbeit als Erzieherin besteht darin, ihnen zu helfen, den Sinn des Lebens zu entdecken und dabei zufrieden zu sein. Sie sagen, ich quäle sie, ich sei hart, aber am Ende des Jahres bleiben sie bei mir, sie lassen mich nicht los.

Gloria Cuccato (46) Mailand, Italien: Die Jugendlichen stellen keine Fragen, weil sie die Würde ihres Unbehagens nicht erkennen. Am meisten brauchen sie jemanden, der bereit ist, ihnen ein Zuhause, eine Heimat anzubieten, der ihnen Zeit schenkt und das Leben mit ihnen teilt! Die Unterrichtsstunden können wie eine Einführung zum Ganzen sein, aber sie sind nicht glaubwürdig, solange die Schüler nicht merken, dass mein Leben selbst für sie ein Zuhause ist. Wenn ich mich selbst gebe, ohne irgendeinen Plan, unabhängig von Schule und schulischer Leistung und die Freizeit mit ihnen verbringe, dann kommen die Momente, in denen die wahren Fragen auftauchen. Jemand der mit ihnen das Leben teilt, das ist es wonach sie fragen.

Maria Carmen: Schon Einstein wunderte sich, dass es dem derzeitigen Erziehungswesen nicht gelungen ist, den Jugendlichen die Neugier zu nehmen. Aber allem Anschein ist es ihm doch gelungen. Die Sehnsucht, die Neugier verschwinden. Was Gloria sagte ist eine Herausforderung für die Schule als Ort erzieherischer Arbeit. Wenn wir diese Begegnung außerhalb der Schule machen müssen, stellt sich uns doch die Frage, ob die Schule ihren Auftrag nicht bereits aufgegeben hat.

Heißt das, wenn in diesem Erziehungswesen eine Gegenwart auftritt, die seinen Rahmen sprengt, dann kehren Neugier und Sehnsucht zurück, und die Schule ist nicht mehr auf den Stundenplan begrenzt, weil der Schüler auch nach dem Unterricht bleibt?

Annemarie: Diese Herausforderung gilt für jede Schulart.

Maria Carmen: Wir müssen das Neue erkennen, das aus unserer Erfahrung kommt. Ein Beispiel: Wir haben in einem kleinen Ort in Spanien eine Schule eröffnet und sie nach Pater Maximilian Kolbe benannt. Atheistische Eltern haben Geschmack daran gefunden, ihre Kinder durch die Beziehung mit uns Lehrern zu erziehen. Und diese Beziehung hat sie erzogen und die Lehrer wahrhaftiger gemacht. Der Nihilismus ist zerbrochen. Das Leben wurde dramatisch. Auch die Eltern lernen in der Schule und erholen sich sonntags gemeinsam. Die Schule ist ein Zuhause geworden.

Don Silvano Lo Presti (35), Lissabon, Portugal: Dasselbe geschieht in Lissabon. Wir haben die Leitung eines Internats übernommen. Nach zwei Jahren beschränkt sich die Aufgabe der Erziehung nicht allein auf die Schüler, sondern bezieht auch die Eltern mit ein. Tatsächlich müssen zwei Generationen erzogen werden. Im Übrigen haben auch die Lehrer das gleiche Problem: Alle brauchen jemanden, der uns den Weg aufzeigt und uns liebt.

Die Erfahrung einer außergewöhnlichen Weggemeinschaft vermittelt allen ihre Schönheit.

Maite Barea (50), Madrid, Spanien: Ich lehre Wirtschaft an der Universität. Ich bin der Bewegung durch die Studenten begegnet. Wenn mir das geschehen ist, kann es jedermann in der Universität geschehen. Man muss dazu einen lebendigen Menschen sehen. Ich habe die Studenten gesehen und sie haben mich erzogen. Und ich habe gesehen, dass alle die Aufgabe haben zu erziehen. Es ist so wie Gustave Bardy von den ersten christlichen Jahrhunderten berichtet: von Erfahrung zu Erfahrung. Ich kann keine überzeugenden Reden über den Sinn halten. Aber ich sehe ihn, von Erfahrung zu Erfahrung, und das ist menschlich, das geht. "Warum halte ich hier Vorlesungen, warum bin ich hier?" - ich muss alles selbst leben. Die Fragen betreffen mich. Warum gefällt mir die Forschung, warum bin ich zufrieden? Eine solche Haltung breitet sich spürbar aus. An Weihnachten und Ostern schicke ich meinen Kollegen die Plakate der Bewegung. Ich verkleinere sie auf Postkartengröße und schicke sie ab. Jetzt warten viele schon darauf. Die Empfänger sind großenteils links-ideologisch ausgerichtet, sind aber getroffen von meiner ganz klaren Zugehörigkeit. Die Leiterin der Fakultätsverwaltung sagte mir: "Jeden Tag warte ich auf dein Weihnachtsplakat". In Wirtschaftswissenschaften ist es nicht leicht, ein abweichendes Urteil abzugeben, aber ich tue das, ohne es zu merken. Alles wird zur Gelegenheit dafür. Nur ein Beispiel: Eine Vorlesung über Entwicklung. Ich werde gefragt, warum ich sage, dass die Veränderung der Strukturen nicht ausreicht, sondern die der Menschen notwendig ist; wie ist das möglich? Ich antworte: Ich bin von Christus verändert worden, das kann vorkommen. Gewiss, die menschliche Schwäche ist immens; du beginnst eine Beziehung, tust einen Schritt auf die Menschen zu und sie verschwinden, als hätten sie Angst, und das tut sehr weh. Später aber, vielleicht Jahre später kehren sie zurück. Du hast nicht verstanden, ob einer von etwas berührt war, und fünf Jahre später kommt er zurück und sagt: ich möchte euch näher kennen lernen!

Anna Kan (25), Karaganda, Kasachstan: Ich unterrichte Deutsch an der staatlichen Universität. Die Studenten kommen mit dem Ziel, Erfolg zu haben. Doch dann verschwindet die Begeisterung. Sie werden Skeptiker, Zyniker. Das ist Nihilismus. Nicht dass der Unterschied zwischen mir und meinen Studenten so groß wäre. Dieser unsichtbare Abgrund zieht alle an. Wenn ich nicht von unserer Freundschaft erzogen wäre, würde auch ich unterliegen. Hier aber lerne ich, das Geheimnis zu sehen: Das ist die tägliche Arbeit. Erziehen heißt, freundschaftliche Beziehungen aufbauen, wo einer dieses Geheimnis sieht.

Joe Morgan (35), London, Großbritannien: Das gilt auch für mich. Riskieren. Wie jemand für uns riskiert hat, so riskiere ich für sie. Die Bewegung erzieht fortwährend, immer. Immer erzieht mich jemand von neuem und ebenso geschieht es in der Schule mit den Schülern. Was ist für mich Erziehung? Jemand, der gesagt hat: Ich bin immer bei dir. Das ist die Methode Giussanis. Das ist das, was wir brauchen und was die Jugendlichen brauchen.