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Multikulturalismus - Forum
Wie ist ein menschliches Zusammenleben möglich?
Roberto Fontolan

Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Völker und Kulturen im Rahmen der Globalisierung stellt die Gesellschaften vor ganz neue Herausforderungen. Dabei fällt immer wieder das Wort vom Multikulturalismus. Doch was ist darunter tatsächlich zu verstehen? Wodurch kann unsere Gesellschaft ein menschliches Antlitz bewahren? Darüber diskutierten auf dem internationalen Treffen einige Verantwortliche von CL aus unterschiedlichen Berufs- und Erfahrungshorizonten.
Wovon ist die Rede, wenn wir von Multikulturalismus sprechen? Sicher geht es um Fragen von Identität und Zusammenleben, von Relativismus und Vermischung. Allerdings ist in der Diskussion zumeist unklar, ob der Begriff eine schlichte Tatsache bezeichnet, dass also Menschen unterschiedlicher Kulturen zusammenleben, oder eine neue abendländischen Ideologie, wonach alle Kulturen unterschiedslos gleichwertig sind.
Hierüber diskutierten auf dem Treffen der Verantwortlichen in La Thuile der Londoner Finanzfachmann Chris Morgan, der spanische Theologe Javier Prades, der in Frankreich arbeitende italienische Lehrer Silvio Guerra, sowie der US-Theologe und Schriftsteller Lorenzo Albacete.
Die Gesprächsleitung hatte der italienische Journalist Roberto Fontolan.

Beginnen wir mit den Londoner Attentaten vom Juli. Alle waren besonders erschüttert, als klar wurde, dass die Attentäter britische Staatsbürger waren. Sie waren in der britischen Gesellschaft aufgewachsen und erzogen. Übrigens ist genau diese Feststellung der Ausgangspunkt des Enthüllungsbuches von Bernard-Henri Levy über die Ermordung des amerikanischen Journalisten Daniel Pearl. Der Stratege der Entführung und Enthauptung Dannys hatte sogar an der London School of Economics studiert.

Morgan: Einer der Attentäter war Lehrer für behinderte Kinder. Er war seit einem Jahr verheiratet und hatte einen Sohn. Für alle seine Kollegen war er eine ganz normale Person, ein sehr guter Lehrer. Das brachte mich auf den Gedanken, dass in unserer Gesellschaft alles verflacht und relativiert wird. Es gibt keinerlei Identität, jeder kann bei sich zu Hause glauben und tun, was er will, aber es gibt keine Beziehung, keinen Dialog der verschiedenen Ethnien, der verschiedenen Religionen. Ja, es scheint verboten, jemanden nach seiner persönlichen Erfahrung zu fragen, nach Dingen, die mit Religion oder Tradition zu tun haben. Nur in den Kneipen, wenn die Leute ein bisschen betrunken sind, bricht etwas auf. So kann unter dem Schweigen und der theoretischen wie praktischen Gleichgültigkeit alles Mögliche passieren. Selbst dass ein guter Lehrer sich in der U-Bahn in die Luft sprengt. Es gibt keine britische Idee, keine britische Identität. Alles wird gelehrt, und alles ist erlaubt. Außer Weihnachten, das mancherorts verboten ist, um die anderen Glaubensbekenntnisse nicht zu beleidigen. Das ist das heutige England.

Guerra: In Frankreich hingegen ist das Problem fast umgekehrt. Hier wird die Identität der Gemeinschaft als Überlagerung der Identität des Staates empfunden, die dann die Integrität der "République" in Gefahr bringt. Egal ob du in Marseille oder in Lille geboren bist, du sollst dieselben Erfolgschancen im Leben haben, dieselben Rechte. Es muss absolute Gleichheit herrschen. Der Staat fürchtet, dass die Gemeinschaft, indem sie einen anderen Ursprung und einen anderen Wert bejaht, diese Einheit bedroht. Aber dem ist hinzuzufügen, dass die Frage vor allem dem Islam gilt, jenem Islam, von dem man meint, er bringe die Republik und die soziale Sicherheit in Gefahr. In den Vorstädten der großen Ballungsräume gründen die Imame Gruppen und Gemeinschaften von Extremisten, die oftmals Einfluss auf die übrigen Gläubigen ausüben.

Und wie antwortet man darauf?

Guerra: Bis in die 80er Jahre hinein brauchte Frankreich Einwanderer. Denn nach den beiden Weltkriegen war die Geburtenrate äußerst niedrig. Dann kam das Problem der "ersten Generation" auf, die Integration der Kinder dieser ersten Einwanderer. Man versuchte es mit dem Sport. Das Phänomen Zidane galt als Vorbild für Integration und Erfolg. Es folgte die Zeit der Musik, mit den Rap- und Hip-Hop-Sängern. Aber die Musik hat sich als Bumerang erwiesen, denn die Texte feiern eine separate Identität, ganz zu schweigen von der Gewaltverherrlichung, der Rolle der Frau und so weiter.

Monsignor Albacete, ist das amerikanische Konzept des Schmelztiegels noch aktuell?

Albacete: ... der Stolz, Leute aus allen Teilen der Welt zu versammeln, die sich als Amerikaner empfinden. Das war die Idee. Mit den Symbolen, der Flagge, der Sprache, der Arbeit: alle in die amerikanische Story einzubeziehen, die große gemeinsame Mentalität, die aber immer vom protestantischen Christentum definiert war. Es ist interessant festzustellen, dass die Katholiken gerade deshalb in der Vergangenheit die größten Integrationsprobleme hatten. Die Protestanten empfanden sie als Bedrohung der persönlichen Religionsfreiheit. Allerdings wurden sie später vollständig gelöst. Aber der Multikulturalismus wird auf Grund von zwei Faktoren inzwischen auch in den USA allmählich ein Diskussionsthema. Der erste betrifft den rapiden Zuwachs an Hispanics. Mit ihnen scheint der Prozess der Integration in den "american dream" zum Stehen gekommen zu sein. Die Entwicklung ist relativ neu. Die jüngsten Einwanderungsquoten sind hoch. Aber die Neuankömmlinge sprechen nicht nur kein Englisch, sie haben auch keine Neigung, sich zu integrieren, weil ihre Herkunftsländer nah sind und sie nach Hause zurückkehren können. Sie haben nicht den Drang, ein neues Leben zu beginnen. Sie denken sich, wenn sie genug Geld haben, werden sie nach Hause zurückkehren. So bleibt Spanisch die Sprache Nummer eins, und es gibt weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, in denen ausschließlich Spanisch gesprochen wird. Vor allem deshalb machen sich die Amerikaner Sorgen. Auf anderer Ebene gibt es wiederum weniger Ängste. Selbst das in Europa so heiß diskutierte Thema der Religion wird nicht als Quelle der Bedrohung empfunden. Wir bleiben ein offenes Land, das die größtmögliche Religionsfreiheit garantiert und von seiner Aufnahmefähigkeit überzeugt ist. Das ist der Sinn dessen, was Bush immer wieder betont: Wir stehen nicht im Kampf mit dem Islam. Das ist der gelebte Teil des Multikulturalismus, ein Reichtum unserer Gesellschaft, die fähig ist, viele verschiedene Erfahrungen zusammenleben zu lassen, und zwar so, dass sie sich alle amerikanisch fühlen. Aber wie gesagt, dieses Konzept ist gefährdet. Neben den "Hispanics" gibt es den "intellektuellen" Faktor. Das bedeutet, der Multikulturalismus ist zu einer Theorie geworden, einer Ideologie, die darauf abzielt, den amerikanischen Traum vollständig zu säkularisieren, ihn von seiner christlichen Prägung zu trennen. Es handelt sich um ein kulturelles und soziales Programm, das vor allem die Themen Ethik und Familie in den Vordergrund stellt. Es will einen Graben schaffen: dort die Gläubigen, hier alle Übrigen; hier die Politik, dort der Glaube. Das "politisch Korrekte" ist eine Frucht dieser Ideologie: Man darf nichts sagen, denn das wäre gegen den amerikanischen Multikulturalismus. Aber der Multikulturalismus als Erfahrung war demgegenüber gerade die Aussage: "Ihr seid alle willkommen".

In Spanien ist die Diskussion jüngeren Datums...

Prades: Es ist noch keine zwanzig Jahre her, dass Lateinamerikaner und Bewohner des Maghreb kamen. Seitdem nimmt die spanische Gesellschaft die Gegenwart von Menschen, die in irgendeiner Weise, sprachlich, religiös oder ethnisch, anders sind als das, was man als abendländisch-europäische Gesellschaft betrachten könnte, bewusst wahr. Ich will das Problem des Nationalismus hier ausklammern, weil es sehr komplex, wenn auch sehr real ist. Wie sehen die Antworten aus? Die lateinamerikanischen Einwanderer finden leichter einen Platz, aus offenkundigen Gründen des Glaubens, der Sprache und der Kultur. Was die muslimischen Einwanderer angeht, würde ich sagen, muss man zwischen der allgemeinen Erfahrung der Leute und der Publizistik, den Medien unterscheiden. Die Leute haben noch nicht viel Erfahrung im direkten Kontakt und schwanken ein wenig. Die allgemeine Haltung ist eine Mischung aus Offenheit und Neugier und Angst, der Angst, die der 11. März ausgelöst hat. Auf dieses Grundgefühl baut dann eine künstliche und ideologische Mentalität, die in Spanien von den so genannten drei Kulturen ausgeht. Das heißt, man behauptet, es habe im Mittelalter eine Zeit gegeben, in der Christen, Moslems und Juden friedlich zusammenlebten. Eine sehr umstrittene Frage, die aber in ideologischer Weise gebraucht wird, das heißt als Deckmantel der modernen Idee laikaler Toleranz. Abgesehen von der Frage des geschichtlichen Hergangs, auf die ich jetzt nicht näher eingehen kann, vermittelt man damit die Idee, dass die Religionen in Wirklichkeit ihren Anspruch auf Beziehung zur Bestimmung des Menschen zurücknehmen, ihren allumfassenden Charakter aufgeben müssen, um ein sozial konstruktiver Faktor zu sein. Nun, das ist eine Operation, die unsere Schwäche in der Vermittlung einer Tradition deutlich macht, also eine Schwäche der Erziehung. Keines der derzeit in Spanien herrschenden erzieherischen Modelle, sei es das öffentliche oder das religiöse, entwickelt und vertieft die elementare Erfahrung des Menschen als Urteilskriterium gegenüber allem und allen. Ein Herz, das imstande ist, den anderen als mir gleich zu erkennen und zugleich als verschieden. Wenn diese Erziehung zur elementaren Erfahrung schwach ist, dann tritt an ihre Stelle entweder die traditionalistische Ideologie, die den anderen in die Ferne rückt, oder die laikale Ideologie der Toleranz, die sagt: Wir sind alle gleich, unter der Bedingung, dass niemand er selbst ist.

Also der Multikulturalismus als modernste Ideologie ...

Albacete: Nein, in Wirklichkeit ist er der Deckmantel einer Ideologie, die wahre Ideologie ist der Relativismus. In Amerika sprechen die Relativisten die Sprache des Multikulturalismus.

Morgan: Ich denke, der Feind dieser Ideologie ist genau das Christentum. Was verboten wird, ist Weihnachten, nicht das muslimische oder hinduistische Fest. In diesem Sinne handelt es sich wirklich um eine intellektuelle Operation, die bei den einfachen Leuten Missmut auslöst.

Liegt der Diskussion um den Multikulturalismus aber letztlich nicht das Problem zugrunde, dass wir nicht wissen, wie wir mit dem Islam umgehen sollen? Weiß der abendländische Mensch eine Antwort auf die Frage: Wie trete ich zu diesem "anderen" in Beziehung?

Albacete: Wenn du in New York ein Problem mit dem Islam hast, kannst du das Taxi vergessen, alle Fahrer sind Moslems… Ich will damit sagen, dass trotz allem die überwiegende Mehrheit der Amerikaner nicht glauben will, dass es ein Problem mit dem Islam gibt. Viele von uns wollen auf das Zusammenleben nicht verzichten. Aber ich möchte hinzufügen, dass die wahre Möglichkeit einer Beziehung zum anderen im religiösen Sinn liegt: Der "Anstoß" der Wirklichkeit geht allem anderen voraus. Wir hatten von der elementaren Erfahrung gesprochen …

Morgan: Meine Erfahrung ist auch die des anderen, wir sind zusammen, gehen an die Wurzeln. Die Beziehung, die Auseinandersetzung handelt von der Entsprechung mit dem Leben, das kann kein Zusammenstoß sein.

Guerra: Die Probleme tauchen auf, wenn die Begegnung, die Beziehung für politische Ziele instrumentalisiert wird. Heute vermag die Republik kein hinreichendes Maß an Einheit zu garantieren, also gebraucht sie die Religion als Klebstoff. Aber es ist der Staat, der ein Identitätsproblem hat und es der Gesellschaft überstülpt.

Prades: Wir dürfen nicht vergessen, dass die kulturelle Vorgeschichte dieser verwirrten Lage die Theorie der absoluten Unvergleichbarkeit der Kulturen war, die der Strukturalismus in den 50er Jahren in Frankreich verbreitete. Derzufolge gibt es keinen einheitlichen Blickwinkel, der einen Vergleich ermöglicht, denn man würde sonst dem verhassten europäischen Ethnozentrismus verfallen. Wenn wir keinen Maßstab haben, wissen wir nicht, wie wir uns verhalten sollen: entweder den anderen wegschieben oder ihm gegenüber gleichgültig sein. Heute beginnt man zum Glück das Dogma des Relativismus anzuzweifeln, und es gibt Anthropologen, gerade die Kinder dieses Strukturalismus, die allmählich wieder sagen, dass ein menschliches Dasein existiert. Und das auch der ganz andere ein "alter ego" ist, ein anderes Ich. Damit können wir endlich anerkennen, dass wir, du und ich, zu einem menschlichen Dasein gehören, wie es uns eben Der religiöse Sinn lehrt. Alles erwächst neu von hier aus. Das christliche Ereignis macht diesen Blick auf den anderen in der Geschichte möglich. Indem Christus die endgültige Bestimmung jedes Menschen enthüllt und sich seiner Freiheit vorschlägt kann dieser ungeschuldet die Fülle entdecken, zu der er berufen ist.